Januar 1993

  • 30.01.93

    Im Koran, 2. Sure, Vers 143ff, findet sich das islamische Projekt des Angesichts: Allah gehört Ost und West. Er leitet auf den rechten Weg, wen er will. Wir haben euch zu Mittlern unter den Völkern erhoben, damit ihr Wächter unter den Menschen seid; der Prophet aber wird euer Zeuge sein. Die Gebetsrichtung euerer Augen haben wir deshalb geändert, damit man zwischen denen, die dem Propheten folgen, und denen, die ihm den Rücken wenden, unterscheiden kann. … Wir haben gesehen, daß du dein Gesicht zum Himmel emporhobst; nun haben wir ihm die Richtung nach einem Ort gegeben, der wohl gefällt. Wende dein Angesicht nach Al-Haram; wo immer du auch weilen mögest: Nur in der Kibla richte dein Gesicht.
    Im Christentum wird nur die Sünde wider den Heiligen Geist weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben, und dem Petrus wird ohne Fluchandrohung angekündigt, er werde den Herrn, noch bevor der Hahn kräht, dreimal verleugnen. Nach der 2. Sure, Vers 162f hingegen trifft die, „welche leugen und als ungläubige Leugner sterben, … Allahs Fluch und der Fluch aller Engel und der aller Menschen. Ewig wird dieser Fluch auf ihnen lasten, ihre Strafe wird nicht geändert, und nimmer werden sie Schutz finden.“ Hier steht der passive Glaube unter Schutz und Strafandrohung, während im Christentum allein die Verweigerung des prophetisch-parakletischen Denkens und Handelns die Strafandrohung auf sich zieht, und dabei noch offenbleibt, ob diese Strafe nicht schon eine rationales Sinnesimplikat der Weigerung selber ist.
    Die Dinge beim Namen nennen, das heißt im Deutschen, dem andern die Wahrheit ins Gesicht sagen: seine Schuld beim Namen nennen, sie nicht verschweigen.
    Wie heißt dieses „dein Wille geschehe“: fiat voluntas tua sicut in coelo et in terra, im Griechischen? (genäthäto to theläma sou – Mt 610; von ginomai: werde geboren, entstehe; komme zustande, geschehe, werde erfüllt, getan gehalten, gefeiert) Schließt das genäthäto, im Gegensatz zum Fiat nicht unser Tun mit ein, ist es nicht mehr als ein bloßes „Geschehen“? Und reicht das nicht zurück auch in den Sinn des Schöpfungsberichts, in das „Fiat“ der Genesis? Und ist das Telos dieses „Fiat“ nicht das Lösen (die Schöpfung durchs Wort ein Befreien)?
    Zu den drei Gestalten des Bösen:
    – der Satan wird wohl am deutlichsten bei Hiob beschrieben: als Ankläger;
    – der Teufel (diabolos) steckt in der Sprachverwirrung von Babylon (auch im Namen Babylon selber?) und im Taumelkelch der Propheten;
    – und die Dämonen: stecken sie nicht in den Götzen und dann in den Besessenen des Evangeliums, den „unreinen Geistern“?

  • 29.01.93

    Der christologische Naturbegriff: Die Natur ist – als Objekt einer absoluten Naturbeherrschung – das absolute Opfer, sie nimmt die Schuld aller auf sich, und sie wird – als universaler Schöpfungsgrund – vergöttlicht. Die Funktion der Christologie heute scheint darin zu bestehen, das Irreale dieser Logik zu tabuisieren, zu verdrängen, weil daran der Schein des schuldfreien Lebens in der verschuldeten Welt hängt.
    Franz Rosenzweig hat mich drei Dinge gelehrt:
    – die Erkenntnisbedeutung der Umkehr,
    – die theologische Bedeutung von Sprachreflektion (den theologischen Grund des Begriffs der benennenden Kraft der Sprache) und
    – die Bedeutung des Angesichts.
    Diese drei Momente begründen, indem sie jeden objektivierenden Zugriff ausschließen, einen offenen (erfahrung- und praxiskonstituierenden) Begriff der Theologie; jeder abschließende (dogmatische) Begriff wäre blasphemisch: Dort, wo die Theologie am Ende ist, geht’s eigentlich erst los.
    Hat es sich Rosenzweig mit der Bestimmung des Islam als Plagiat der Offenbarung nicht etwas zu leicht gemacht; wäre der Islam nicht präziser zu bestimmen als eine Reaktion auf den Ursprung des Weltbegriffs, auf die theologische Rezeption des Weltbegriffs? Der Islam läßt sich als der Versuch bestimmen, angesichts des theologischen Sündenfalls (durchs „Herrendenken“: durch die Rezeption des Weltbegriffs) dieser Sünde nicht zu verfallen: Er glaubt, unschuldig bleiben zu können, indem er auf der Seite der Opfer des Weltbegriffs bleibt, den Schritt in den Objektivationsprozeß hinein nicht mitmacht. Auch im Christentum ist die Scheidung von Gottes- und Herrenfurcht nie ganz gelungen, aber der Islam hat sie schlicht in eins gesetzt. Er bleibt gleichsam vor der Wasserscheide, die die mythische Welt von der Zivilisation trennt, stehen. Aber der Preis war zu hoch. Der Islam als Ergebung in den Willen Gottes ist in Wahrheit Ergebung in den Lauf der Welt, die unkritisch als der Wille Gottes aufgefaßt wird. Der Islam kennt keine Erbsünde (und das Christentum möchte die Erinnerung daran heute am liebsten abschaffen, nachdem die Opfertheologie als Lösung nicht mehr greift): Für ihn ist die Welt so wie sie ist, das reine Werk der täglich sich erneuernden Schöpfermacht Gottes, seiner „Allmacht“ (welchen Begriff die christliche Theologie vom Islam übernommen hat).

  • 28.01.93

    Drücken sich in der Redensart „den Staub von den Schuhen schütteln“ (bei der Aussendung der Jünger Jesu) nicht die beiden Sachverhalte mit aus, daß
    – die Schuhe ein Instrument der Besitzergreifung sind und
    – im Staub dessen Beziehung zum Fluch über die Schlange und über Adam nachklingt?
    Ist das „Staub von den Schuhen Schütteln“ das Gegenteil der Aufforderung: Ziehe deine Schuhe aus, hier ist heiliger Boden; ist es ein Fluch über die Städte, die die Jünger nicht aufnehmen?
    Die Konstruktion des Begriffs der Erscheinung schließt als Kristallisationskern ein projektives Moment mit ein.
    Gibt es einen Zusammenhang zwischen Stephanus und der Dornenkrone? Und ist der Gepfählte ein Gottesfluch nicht auch in dem Sinne, daß die opfertheologische Verarbeitung des Kreuzestodes mit der Leugnung des Nachfolgegebots und mit dem Bann der Vergegenständlichung, den sie über den Kreuzestod verhängt, genau diesen Fluch transportiert?
    Der kirchliche Antijudaismus gründet in der Unfähigkeit, die Schmach und die Schande, die der Kreuzestod mit repräsentiert, zu ertragen. Die Opfertheologie, und in seinem Schatten der kirchliche Antijudaismus, ist ein Mittel und ein Produkt der falschen Verarbeitung dieser Schmach.
    Hat Heinrich Böll nicht recht: Sind es nicht die verwesenden und verfaulenden Reste des Hegelschen Staats, mit denen wir es heute zu tun haben, und deren Vergiftungserscheinungen jetzt beginnen aufzubrechen und sich zu manifestieren?
    Ist nicht die Unbeherrschbarkeit der vegetativen Körperfunktionen ein Hinweis darauf, wie tief die Unfähigkeit, in Vergangenes einzugreifen, in unsere eigene physische Existenz hereinreicht? Aber im Angesicht des andern erblicke ich die Spuren des Ursprungs und der Geschichte der Welt und der Menschheit: der Schöpfung.
    Die Kritik des Wissens und der Vernunft durch Erinnerungsarbeit ist ein Teil des Versuchs, den Bann, der auf der Vergangenheit lastet, zu sprengen.
    Ein Krieg, der wegen eines falschen Bekenntnisses geführt wird, beleidigt Gott mehr als alle falschen Bekenntnisse.
    Die Astronomie hat die Astrologie nur „überwunden“, nicht widerlegt.
    Himmel und Erde werden vergehen: Genau daran (an dieser Vergängnis) hat die Theologie seit der Konzeption der Lehre von der creatio mundi ex nihilo mit gewirkt.
    Wodurch unterscheidet sich der griechische kosmos vom lateinischen mundus (der „geschmückte“ Kosmos von der „gereinigten“: militärisch und rechtlich begrenzten und gesicherten Welt)? Hat das deutsche Wort Mund etwas mit dem lateinischen Wort mundus zu tun? Vergleiche auch den Zusammenhang mit Münze, Munition (Verteidigung, Befestigungsanlagen, Recht)?
    Hat die Beschreibung dessen, den der eine unreine Geist verlassen hat: er sei leer, gereinigt und geschmückt, mit dem Weltbegriff zu tun, der dann zur Wohnung der sieben unreinen Geister wird? Und steckt in der Folge: leer, gereinigt und geschmückt nicht eine Beziehung zu den drei Versuchungen, den drei Leugnungen, den drei Dimensionen des Raumes (auch zur Subjektivität des Raumes, des Geldes und des Bekenntnisses)?
    Verhält sich das Griechische zum Lateinischen wie Form der äußeren zu der der inneren Anschauung?

  • 27.01.93

    Verhält sich der Staat zur Gesellschaft wie die Welt zur Natur (wie Idealismus zu Materialismus, Begriff zu Objekt)? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Kann es das eine ohne das andere geben, sind nicht beide Produkt des gleichen Abstraktionszusammenhangs (der Urteilsform)?
    Zusammenhang der Hegelschen Deduktion des Monarchen und des „Gottesgnadentums“ mit dem ontologischen Gottesbeweis. (Rosenzweig, II S. 146)
    Ist nicht das Interieur in Adornos Kierkegaard-Arbeit inzwischen aus der Objektsphäre in die Struktur des Subjekts mit eingewandert, und ist das Subjekt seitdem nicht gleichsam direkt an die Außenwelt angeschlossen (ohne Vermittlung durchs Interieur)? Gründet darin die nur minimale Differenz, die Adorno von der Einsicht in die Funktion des Weltbegriffs, zu der es in der Philosophie nach der vollständigen Verweltlichung des Subjekts keine Alternative mehr gibt, trennt?
    Die Rolle der Religionen scheint sich immer mehr darauf zu beschränken, das Gefühl der Schuldfreiheit, diesen verhängnisvollen Bewußtseinskomfort, zu vermitteln. Sie wird damit zu einer wichtigen Instanz des Verdrängungsapparats (der erste Entwurf dieses Verdrängungsapparats war das Dogma, mit dessen Hilfe die Funktion des philosophischen Subjekts vergesellschaftet wurde, bei gleichzeitiger Stillstellung des philosophischen Erkenntnistriebs: Dieses Stillstellung drückt sich aus in der kantischen Definition, wonach die Welt das mathematische Ganze der Erscheinungen bezeichnet). Die Religion ist zum Schmücke dein Heim in einer Welt geworden, die für niemand mehr Heimat ist. Daher die nicht mehr zu tilgende Nähe der Religion zum Kunstgewerbe und zum Kitsch (der Idolatrie in der Kunst).
    Die Verwechslung von Gegenwart und Gleichzeitigkeit wird durch die kantische subjektive Form der äußeren Anschauung stabilisiert, durch die Form des Raumes.
    Die Explosion der Raumvorstellung hat bewiesen, daß es keine wie auch immer geartete Beziehung der Gleichzeitigkeit zum Himmel gibt, daß umgekehrt der Raum als Form der Gleichzeitigkeit die Unterdrückung und die Verdrängung dessen mit einschließt, was man die reale Gegenwart nennen könnte. Ist diese Raumvorstellung nicht das Endprodukt des Falles (die „Überwindung“ des Generationenverhältnisses durch Neutralisierung und Stillstellung, nicht seine Aufarbeitung; oder auch: die „Überwindung“ der Häresien durch Verurteilung und Fixierung des Dogmas: so hängt die Orthodoxie mit der Orthogonalität zusammen, und so wird das Dogma zum leeren, seiner benennenden Kraft beraubten Wort: zum vergrabenen Talent)?
    Wenn Jacobus Schoneveld zufolge der Logos die Thora ist („Die Thora in Person“, in Kirche und Israel, Heft 1.91, S. 40ff), dann heißt das nicht mehr und nicht weniger, als das niemand zum Vater kommt, außer durch die Thora.
    Ist nicht die homousia sowohl logisch wie realgeschichtlich das Einfallstor des Gewaltmonopols des Staates in die Theologie (und der Kristallisationskern des Dogmas)?
    Die kopernikanische Wende und die Etablierung der Vorstellung vom unendlichen Raum haben den Leerraum geschaffen, in den die gläubige Phantasie glaubt, ihre „religiösen Vorstellungen“ hinein projizieren zu können. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß und wie die päpstliche Rehabilitierung Galileis die Dinge nun vollend auf den Kopf gestellt hat.
    Was mit der Privatisierung der Sexualmoral begonnen hat, endet mit einer Erfahrungsfeindschaft, die direkt in die Xenophobie einmündet.
    Die Personalisierung und daraus zwangslogisch folgende Vergöttlichung Jesu ist die Binde vor den Augen, mit der die Jesus-Gläubigen sich den Blick auf den Logos, der sich in der Übernahme der Sünden der Welt konstituiert, und von dem Gott will, daß er nicht leer zu ihm zurückkomme, ersparen.
    Beschreibt nicht die Beziehung der von der transzendentalen Logik organisierten Erfahrung zu den Dingen als Erscheinungen auch das Verhältnis der Theologie zu ihrem Objekt? Auch die Theologie unterliegt dem Gesetz der Erscheinungswelt, in der die Dinge an sich unerkennbar sind.
    In den drei Sprachen Griechisch, Lateinisch und Deutsch sind die Beziehungen der Geschlechter nicht deckungsgleich, nicht kompatibel. Die hier sich manifestierenden Brüche sind Denkmale welthistorischer Gesteinsverschiebungen. Neben den Differenzen in den Casus-Bildungen sind es vor allem Worte, die wie Sonne und Mond (sol und luna, auch Tag und Gesicht, dies und facies) jeweils anderen Geschlechtern zugeordnet wurden. Im Deutschen sind die Geschlechter an den Artikeln und den Endungen zu erkennen, im Englischen nur beim Gebrauch der Possessivpronomen. Hängt das damit zusammen, daß im Englischen der Infinitiv des Seins nicht durch das Possessivpronomen der dritten Person sing. masc. ausgedrückt wird (Folge der Neutralisierung der Casus im Englischen, und zugleich Symptom einer Verbegrifflichung der Sprache, die sich vor allem in Wendungen wie „he is doing“ ausdrückt, in denen das Verb naiv und real die Form des Prädikats, des Begriffs, animmt)? So drückt das deutsche Sein das Moment der Tätigkeit (in Physik und Ökonomie), das englische to be dagegen das Ergebnis der Vergegenständlichung dieser Tätigkeit aus (Grund des vorkritisch-kritischen Empirismus seit Locke: der Dogmatisierung von Naturwissenschaft und Ökonomie wie auch der Unterscheidung von primären und sekundären Sinnesqualitäten).
    Zusammenhang von Geschlecht und Casus, die geschlechtsspezifischen Casusbildungen (in den europäischen Sprachen).

  • 26.01.93

    Das wird man der raf vorhalten müssen: Sie hat den Geist ausgetrieben: Heute brauchten wir ihn, und es ist keiner mehr da.
    Im Relativitätsprinzip, der die Vorstellung der Verschiebung des Raumes in sich selber zugrundeliegt, wird das Moment der Erzeugung des Raumes, der punktuell fortschreitenden Reproduktion der Form des Raumes, zugleich vorausgesetzt und unterschlagen, verdrängt.
    Was ist der Unterschied zwischen anima und psyche, oder zwischen materia und hyle (natura und physis)?
    Die Verinnerlichung des Schicksals war der erste geschichtliche Versuch, die Herrschaft zu beherrschen. Vor diesem Hintergrund war u.a. der diskriminierende Name der Barbaren notwendig, nicht zu vermeiden: Nur so war es möglich, den Schrecken vor den potentiellen Eroberern zu verlieren. Ähnlich war der Begriff der Materie (hyle) notwendig, um von den Ängsten vor den magischen Aspekten der Natur freizukommen.
    Liegt dem Namen der Barbaren die Vorstellung fremder Herren, dem der Hebräer die Vorstellung fremder Sklaven (Söldner, Kleinviehnomaden) zugrunde?
    Wurde die Beschneidung dreifach vollzogen: bei Abraham/Isaak (Gen 4), Moses/Zippora (Ex 12) und Josua und das Volk (Jos 5)?

  • 25.01.93

    Das Ergebnis der kantischen Vernunftkritik war, daß jede gegenständliche Erkenntnis sich in eine Zwangslogik verstrickt, die die Erkenntnis der Dinge zugleich auch verhindert. Im Zusammenhang dieser Logik erwies sich Kant zufolge die Erkenntnis der Dinge, wie sie an sich sind, als unmöglich. Der Sinn und die Bedeutung der kantischen Lehre von den synthetischen Urteilen apriori liegt auch in dem Nachweis, daß wir, indem wir uns diesem Erkenntnisprozeß überlassen, einer Mechanik Raum geben, die uns das Denken abnimmt, es gleichsam für uns zu leisten scheint, daß wir einer Logik verfallen, die gleichsam automatisch funktioniert, und die wir, solange es uns nicht gelingt, sie durch kritische Reflexion aufzusprengen, nicht mehr unter Kontrolle bekommen. Hier liegt der Grund des von Marx so bezeichneten falschen Bewußtseins, zu dessen Absicherungen die Begriffe Natur und Welt gehören.
    Steht nicht das Tischgebet in der Tradition des Opferrituals, und ist die Mahlzeit selber nicht ein Relikt des Opfers, das nicht zufällig im Deutschen Gericht heißt? Erst das Herrendenken, dem das Richten zur zweiten Natur geworden ist, betet nicht mehr: glaubt nicht mehr an die Notwendigkeit und Möglichkeit von Versöhnung. Sind nicht die Naturwissenschaften, insbesonder die Chemie, das vergegenständlichte und vergesellschaftete Fressen, das bis heute vergeblich auf das versöhnende Gebet wartet?
    Die Intention des Tischgebets begreift nur, wer darin das eschatologisch-apokalyptische Moment wahrnimmt: Oculi omnium in te sperant, Domine. (Und weiter: Du gibst ihnen die Speise zur rechten Zeit; du tust deine milde Hand auf und erfüllst alles, was da lebt, mit Segen.)
    Was hatte es eigentlich mit den Taubenhändlern und den Geldwechslern im Tempel im Evangelium auf sich und mit den Kaufleuten und Spediteuren in der Apokalypse? Ist uns das nicht ebenso (und aus dem gleichen Grunde) unverständlich, wie der Zusammenhang des Ursprungs der Geldwirtschaft und der Schriftkulturen mit der Idolatrie, dem Sternendienst und dem Opferwesen: mit den Tempelreligionen? Was war insbesondere mit den Kanaanäern (den „Händlern“) und ihrer Molochreligion? Waren nicht die Phönizier Kanaanäer (und wie diese Hamiten: zum Knechtsein Verfluchte)?
    Das Wort „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“ ist eine Verschärfung des achten Gebots „Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten“. Es ist ein Indiz für die gesellschaftliche Veränderung, auf die Jesus die der jüdischen Tradition angemessene Antwort geben wollte: Erst mit der beginnenden, in der Philosophie und dem Weltbegriff sich selbst begründenden Vergesellschaftung von Herrschaft wird auch das Richten vergesellschaftet.
    Institutionen wie Zölibat, Ohrenbeichte, überhaupt die Festlegung der Sakramentenlehre, die Dogmatisierung des Fegfeuers, die scholastischen Universitäten, sind alles Einrichtungen im Kampf gegen den Islam, in der Abgrenzung gegen ihn, zugleich aber auch Produkte der Islamisierung des Christentums.

  • 24.01.93

    Wie hängen die Begriffe des Scheins (der ökonomische, vertragsrechtliche und der ästhetische, logische) mit einander zusammen? Der Geldschein ist (wie z.B. ein Pfandschein, ein Lagerschein) ein Dokument der Verpflichtung des Gläubigers, das auf dem Schein genannte Objekt, das er repräsentiert, bei Vorlage auszuhändigen.
    Ist nicht das Geld – wie der Raum als Form der Ausbreitung des Lichts – der Ursprung des Scheins? Und ist von hierher der erkenntniskritisch-logische Begriff der Erscheinung zu begründen? – Die vom Geld beherrschte (und von der Form des Raumes durchdrungene) Welt ist sprachlich fast nicht mehr zu durchdringen. Das reflektiert sich in der Bekenntnislogik.
    Ist nicht die Erscheinung die aus dem Kristallisationskern des Scheins erwachsende Totalität des Scheins: Zusammenhang mit den Begriffen des Wissens, der Natur und der Welt? Ist nicht das kantische „Ganze der Erscheinungen“ die von der Idee der Wahrheit (vom Angesicht) befreite Welt?
    Ist der Schein das halbierte Angesicht: Inbegriff des Hinter dem Rücken, Produkt des Objektivationsprozesses; und dieses der Grund des Fremdenhasses (deshalb bellen Hunde den Mond an, und deshalb ist der Raum als verdinglichte Form der Anschauung und Grund des Objektivationsprozesses in allen Richtungen reversibel)?
    Es gibt eine Art, über die Dinge zu sprechen, hinter der die Welt verschwindet, in die die Welt nicht mehr eingeht, in der die Sprechenden gegen jegliche Erfahrung und gegen die Welt sich abschirmen: Die Außengrenze der Monade ist ein Produkt der Identität von Herrendenken und Rechtfertigungszwang, des Exkulpationstriebs. Die Monade lebt in einem Zwangstraum, aus dem sie nicht erwachen will, den sie durch Beleidigungsrituale (die die Grenzen dessen, worüber gesprochen werden darf, bestimmen) gegen das Erwachen (gegen das Krähen des Hahns) schützt. Wenn man nicht (zur Erhaltung des Banns, der auf allen liegt) über Nachbarn und Verwandte redet, dann über eigene vergangene (und zukünftig vergangene) Entscheidungen, um sie nachträglich durch die Zustimmung des andern absichern zu lassen (Rechtfertigungstrieb). Man möchte leben wie einem Film, in dem die Handlung vorgegeben und nicht vom Spieler zu verantworten ist, und dazu wie ein Zuschauer sich verhalten können.
    Kohls Geschick, durch Sprachregelungen, die die eigene Schuld anderen, in der Regel den Opfern, die sich nicht wehren können und keine Verteidiger mehr haben, anzulasten, sich selbst unangreifbar zu machen („Solidarpakt“, auch die Bemerkung, der Staat dürfe nicht zum „Steinbruch für die egoistischen Interessen Einzelner“ verkommen: die „Sprachgewalt“ des Feigenblatts ist die Sprache der Gewalt).
    Unanständige Wahlwerbung der F.D.P. in Frankfurt: Zielt auf das Stammtischgerede, wonach die Beamten ohnehin nichts tun und Kultur zu teuer ist („alles von unsern Steuergeldern“). Mittlerweile ist offensichtlich alles, was nicht dem Geschäft dient, Ideologie, auch eine der letzten Instanzen, die noch an Humanität erinnern: die Kultur, das Theater. Dazu paßt es, wenn der wegen Steuerbetrugs rechtskräftig verurteilte Graf Lambsdorf darauf hinweist, daß auch Blüms Vorschlag, durch schärfere Kontrollen den „Mißbrauch“ einzudämmen, die Kürzung der Arbeitslosengelder nicht mehr werde verhindern können. Sparen heißt für die, die sich ohnehin als Eigentümer der öffentlichen Finanzen („unsere Steuergelder“) sehen: Sparen beim „Personal“ (in Kultur und Verwaltung) und der Griff in die Taschen der Ärmsten.

  • 22.01.93

    Die irrationalen Schuldgefühle erwachsen gerade aus der Verdrängung des realen Bewußtseins von Schuld, sind eine Gestalt ihrer projektiven Verarbeitung. Nur die bewußte Reflexion der Schuld (die Gottesfurcht) befreit, während die Verdrängung nur tiefer verstrickt und hineinführt. Hier ist das Christentum einer Verführung zum Opfer gefallen, die bis heute nachwirkt: der Verführung durch den projektiven Mißbrauch der Sexualmoral, die den Gläubigen zum idiotes gemacht hat (Zusammenhang der Sexualmoral mit dem Trägheitsprinzip und der transzendentalen Logik?).
    In welche Probleme die Philosophie ohne die Hilfe des Dogmas gerät, hat die arabische Philosophie aufs genaueste demonstriert. Und die Islamisierung des Christentums (die die Gottesfurcht leugnende Unterwerfung unter den „Willen Gottes“) resultiert aus der Hereinnahme dieses Bruchs, sie war der Auslöser für den dann einsetzenden Objektivierungsprozeß (projektives Korrelat des „Islam“, die Unterwerfung des Objekts). Hierher gehören u.a. die im Islam erzielten mathematischen Fortschritte (u.a. die Entdeckung der Null, Begründung der Algebra) zusammen mit den theologischen Konstrukten, wonach u.a. Gott die Welt jeden Tag neu erschafft (weil er sie nicht zu erhalten vermag).
    Die Differenz zwischen der lateinischen und der griechischen Sprache: die u.a. im Fortfall des Dualis (zusammen mit der reinen Ausbildung des Neutrum?) sich ausdrückt, darf nicht zu unterschätzt werden.
    Die Selbstverfluchung am Ende der Geschichte der drei Leugnung ist die zwangsläufige Folge der Geschichte der Verurteilungen (des Heidentums, der Juden, der Häresien), die alle schon Formen der Selbstverurteilung waren, gleichsam Anwendungsfälle des Satzes „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“.
    Das Inertialsystem verletzt das Gehorsamsgebot, das Tauschprinzip (das Geld) das Armutsgebot, das Herrendenken (das Bekenntnis) das Keuschheitsgebot.
    Die creatio-mundi-Lehre leugnet die Schöpfung, die Lehre von der Verbalinspiration die Offenbarung; in der Selbstverfluchung, das im Konfessionalismus, im Bekenntnisprinzip gründet, wird die Erlösung geleugnet. All diese Momente sind in der vätertheologischen Begründung der Theologie schon vorhanden: die creatio mundi, das Prinzip der wörtlichen Schriftauslegung und das Bekenntnisprinzip (der Confessor, der dann zwangsläufig die weibliche Heiligengestalt der Virgo nach sich zieht).
    Der johanneische Logos ist nicht der Grund des Logozentrismus, sondern bereits die Antwort darauf. Und das Problem des Todes ist auch über den Rosenzweigschen Ansatz hinaus, über die Todesangst als Inbegriff der Sprengung des Alls und Ursprung der Erkenntnis hinaus, erkenntnisrelevant: wenn man das Inertialsystem (und das Geld) als Todesgrenze in der Natur selber begreift, als Grund des Banns der mit dem Namen der Natur auf der Natur lastet.

  • 21.01.93

    Das Problem des Patriarchats ist ein Problem der Geschichte der Naturbeherrschung und seiner gesellschaftlichen Organisation: der Politik. Das Verhängnis des Christentums war es, daß es die symbolische Kritik dieser Geschichte privatisiert, als „realistische“ Sexualmoral mißverstanden hat.
    Drewermann verteufelt die Hilflosigkeit, was nicht dadurch besser wird, daß diese Hilflosigkeit der Kirche selbstverschuldet ist. Hilflosigkeit ist nur durch die Erweckung der Kraft zu helfen zu „überwinden“. Wer diese Kraft verloren hat, erfährt sich selbst als hilfsbedürftig, die ganze Welt als gnadenlos, als potentiellen Feind. Es ist diese Hilfsbedürftigkeit, die die Kraft zu helfen in sich aufsaugt wie das schwarze Loch jegliche „Strahlung“: das Licht und seine Derivate. Und es ist die gleiche Hilflosigkeit, die aus sich selber die paranoide Empfindlichtkeit erzeugt, die das Gegenteil der Sensibilität ist.
    Der Satz: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebst auf Erden“, wird durch seine bloß private Interpretation verfälscht: Er enthält generell den Hinweis auf die Vergangenheit und die Verpflichtung zur Erinnerungsarbeit, die den Bann der Welt und den der Natur sprengt. Ein anderer Ausdruck für diese Erinnerungsarbeit ist die Idee der Auferstehung der Toten.
    Der Historismus ist ein Vergangenheits-Kolonialismus, wobei das Herrschaftsmoment in diesem Kolonialismus ein wechselseitiges ist: Indem wir glauben, die Vergangenheit zu beherrschen, beherrscht sie uns. Der Objektivationsprozeß, der im Historismus auch die Vergangenheit ergreift, ist als ein Moment der Erkenntnis der Vergangenheit unabdingbar und notwendig; aber auch hier erweist sich die Idee der Umkehr als gnoseologische Kategorie: Hier heißt Umkehr: Auferstehung der Toten.
    Müßte nicht der Paulus-Satz, wonach die ganze Kreatur seufzt und in Wehen liegt, durch seine Anwendung auf die Vergangenheit auf die Toten bezogen und so radikalisiert werden?
    Die Vorstellung von einem jenseitigen Himmel, getrennt von dem endzeitlichen Gottesreich und gleichsam zeitlich vor ihm, trennt die Unsterblichkeit der Seele von der Auferstehung der Toten; sie stellt die Idee der Auferstehung der Toten durch ihre Vertagung ad calendas graecas gleichsam still. Thomas von Aquin hat es noch gewußt, daß das Schicksal der Seele vor der Auferstehung (nach der Trennung vom Leib und im Zustand dieser Trennung) kein glückliches ist, daß sie an der Trennung leidet und Erfüllung erst in der Wiedervereinigung mit dem Leibe findet. Aber ist nicht diese Vorstellung insgesamt falsch, insbesondere nachdem der Himmel im historischen Aufklärungsprozeß aus dem räumlichen Oben verdrängt worden ist. Die Idee des Ewigen legt es ohnehin nahe, deren Beziehung zu Raum und Zeit, und damit auch zur Geschichte, neu und anders zu bestimmen: Der Himmel ist kein anderes Amerika, das jenseits des Ozeans liegt, aber der gleichen Zeit unterworfen ist, wie alle anderen Orte der Welt. Die Vorstellung, der Himmel sei nur ein anderer Ort, falle aber unter das gleiche Zeitkontinuum wie diese Welt, habe gleichsam eine zeitparallele Geschichte, ist der Grundfehler der kirchlich-theologischen Tradition. Das bloß Überzeitliche ist die verworfenste Gestalt des Zeitlichen und auf keinen Fall zu verwechseln mit dem Ewigen.
    Die naturwissenschaftliche Aufklärung, deren Erkenntnisgesetz selber aus der Theologie stammt, hat die Theologie in eine Engführung (in ein „Nadelöhr“) gebracht, vor der sie heute zu kapitulieren scheint.
    Ist es nicht heute fast unmöglich geworden, das Judentum als Christ aus der Sicht des Zuschauers zu betrachten? Die zwangsläufig daraus erwachsenden Rechtfertigungszwänge führen notwendig in neue Antisemitismen hinein. Kann es sein, daß hierbei der Israel-Tourismus eine nicht ganz ungefährliche Rolle spielt?
    Wie wäre es, wenn man die drei regulativen Ideen Kants, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, ersetzen würde durch die drei theologischen Kategorien Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, d.h. durch objektive Ideen: Käme man damit nicht auch dem Problem der kantischen Philosophie näher. Sind nicht diese drei regulativen Ideen auf die Totalitätsbegriffe der kantischen Philosophie zu beziehen, auf Welt, Wissen und Natur, aus denen sie gleichsam durch Umkehr sich rekonstruieren lassen und deren Bann sie zugleich sprengen: Die Idee der Schöpfung sprengt den Bann des Weltbegriffs, die der Offenbarung den des Wissens und die der Erlösung (die die Idee der Auferstehung der Toten mit einschließt) den des Naturbegriffs.

  • 20.01.93

    Gestern ein Vortrag über die jüdische Religion in der katholischen Gemeinde in Walldorf: Gegen die Degenerierung des Katholizismus zum Stammtischgeschwätz scheint es kein Mittel mehr zu geben. Zur Frage der Auferstehung: „Heute wissen wir, daß …“
    Das Inertialsystem zerstört die Gegenwart, macht sie gegenstandslos.
    Adornos Wort von der Paranoia, der die Welt sich immer mehr angleiche, von der sie jedoch zugleich falsch abgebildet werde, enthält vielleicht die genaueste Benennung des Charakters der Naturwissenschaften (Raum und Paranoia).
    Es ist nicht ohne Bedeutung, wenn das Neue Testament in Griechisch geschrieben wurde: Zu beachten jedoch sind die vorsorglich eingebauten Warnungen, vom Satz des Täufers über die Übernahme der Schuld der Welt bis zum Gebot der Feindesliebe.
    Im Namen der Hebräer wird der Blick des andern in das Selbstverständnis mit aufgenommen; das erinnert wohl nicht zufällig an das Wort nach dem Sündenfall, das ebenfalls die Reflexion auf den Blick des andern in sich enthält: Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten daß sie nackt waren (Ursprung der Gottesfurcht).
    Bei den Propheten erscheint das Aufdecken der Blöße als Strafe; steckt das nicht schon in der Sünde des Ham (der Blick auf die Blöße des Vaters als Blick des Richtenden, als Versuch, Herr über den Vater zu werden, der dann zwangsläufig in die Knechtschaft führt)?
    Der projektive Blick (oder der verworfene Grund der Kohlschen Politik): Man glaubt sich selbst aus dem Anwendungsbereich des Urteils herausstehlen zu können, wenn man die Aufmerksamkeit auf andere lenkt. Die projektive Anwendung des Urteilens ist die Nutzung der Urteilslogik als Feigenblatt (Bedeutung der Begriffe Natur und Materie als Projektionen der Fremdheit).
    Sind nicht die Herz-Jesu- und die Aloisius-Frömmigkeit als Folgen des Kampfes gegen den Kitsch in der Religion schlicht und einfach von der Furie des Verschwindens erfaßt worden und deshalb erinnerungslos untergegangen. Aber was ist mit ihnen untergegangen?
    Sind nicht die Ängste, die Katholiken gegen Ende des letzten Krieges hinsichtlich des Schicksals der Kirche nach dem Kriege hegten, auf eine fatale und fürchterliche Weise wahr geworden? Nur: niemand hat es gemerkt.
    Wenn die Dornen und Disteln die Welt aus der Sicht der Erfahrung der Armen und der Fremden bezeichnen, dann ist die gegenwärtige Politik eine Politik der Ausbreitung und der Kultivierung der Dornen und Disteln.
    Zu dem Satz „Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein“ ist daran zu erinnern, daß der Hauptbelastungszeuge den ersten Stein werfen muß.
    Durch das Urschisma und den damals entsprungenen Antijudaismus hat die Kirche sich selbst die Wurzeln abgeschnitten, ist sie zu jenem Dornenstrauch geworden, der nach der Jotam-Fabel wurzellos war wie Kain und als einziger bereit war, König der Bäume zu werden.
    Die kantische Trennung der äußeren von der inneren Anschauung ist der Grund für die Trennung von Natur und Welt, Objekt und Begriff (Differenz der äußeren und inneren Anschauung: die Objekte der inneren Anschauung sind meinem Zugriff entzogen, die der äußeren meiner Verantwortung).
    Die Dehnung der Chronologien in Naturwissenschaft und Geschichte ist Produkt und Ursache der Verdrängung des Zeitproblems (Verdrängung der Gegenwart). Und zwar jenes Zeitproblems, das im Vergleich von Off 14 („der ist und der war und der kommt“) und 178 („es war einmal und ist jetzt nicht, wird aber wieder da sein“) sich anzeigt.

  • 19.01.93

    Das Entscheidende an der Vorstellung des Atoms ist der leere Raum, in dem es vorgestellt wird.
    Genügt es noch, den „Glauben an“ durch die „Treue zu“ zu ersetzen?
    Überzeugen ist unfruchtbar: Und zwar deshalb, weil das Überzeugen des andern nur mit Hilfe von Beweisen möglich ist, und die Ambivalenz des Beweises aus dem Überzeugen nicht herauszubringen ist. Das Überzeugen appelliert an die Gemeinschaft der subjektiven Formen der Anschauung und des Bekennens, an die Gemeinschaft der Intersubjektivität. Weil alle darin sich geborgen fühlen möchten, kann keiner mehr mit sich alleine sein: das ist der Preis des Überzeugens. Modell des Überzeugens ist die logische Automatik der sich (in sich selbst, in den Objekten und in den Köpfen der Menschen) fortzeugenden Form des Raumes (die für Sokrates und den Sklaven die gleiche ist). In der Logik des Überzeugens gründet die Verführungskraft des Bekenntnisses, die von den Konfessionen bis hinunter zu den Hooligans und den Skins, in denen das Bekennen in die Gestalt der Erscheinung selber hereingenommen wird (als Maske, als persona in reinster Form), sich ausbreitet und – wie der Raum die Dinge – alles durchdringt (Erscheinung an sich).
    Jesus, der Freund der Zöllner und Dirnen: Sind nicht die Dirnen das Kirchenvolk, und beziehen sich nicht darauf die Sätze: Gehe hin und sündige fortan nicht mehr, und: Ihr wird viel vergeben werden, denn sie hat viel geliebt. Aber wer sind die Zöllner (Matthäus/Levi war ein Zöllner)?
    Der Streit um die Gesamtschule vor fünfzehn Jahren war ein Ersatzkrieg um die unaufgearbeitete Vergangenheit.
    Handelt es sich in dem „super hanc petram“ um ein räumliches oder um ein instrumentales „super“?
    Sind nicht die Prä- und Suffixe im Deutschen eine Folge der Weichheit, der Nachgiebigkeit dieser Sprache, ihrer Charakterlosigkeit, und das Produkt ihrer allerengsten Anpassung, ihrer Fähigkeit, sich an die vom Inertialsystem beherrschte Vorstellungskraft anzuschmiegen?
    Das Inertialsystem leugnet das Licht und mit ihm das Angesicht; es überzieht die sinnliche Welt mit einem Grauschleier, der nicht mehr abzuwaschen ist; das erzeugt den paranoiden (auch dem Antisemitismus und der Fremdenfeindschaft zugrunde liegenden) Reinheitstrieb.
    Sind die Prä- und Suffixe die Bazillen und Viren der vom Inertialsystem beherrschten (und ihrer benennenden Kraft beraubten) Sprache?
    Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem durch Prä- und Suffixe gebildeten Sprachleib der indogermanischen Sprachen und der sumerischen („agglutinierenden“) Sprache? Und unterscheiden sich die semitischen Sprachen u.a. dadurch von den indogermanischen, daß sie weitgehend auf die Nutzung von Prä- und Suffixen verzichten (dreikonsonantischer Wortstamm)? Sind die Prä- und Suffixe (und die damit zusammenhängende Durchorganisation der flektierenden Sprachen) Ausdruck der Herrschaft der Subjektivität in der Sprache, des Herrendenkens (Ursprung und Ausbreitung der Neutra und Rückwirkung der Neutra auf die Gesamtstruktur der Sprache)?
    Die subjektiven Formen der Anschauung als Medien der Intersubjektivität sind die entfremdeten, der Reflexion entzogenen und somit blind herrschenden Repräsentanten der Gesellschaft im Subjekt.
    Das „Du sollst Vater und Mutter ehren“ ist die Aufforderung zur Reflexion der in den Formen der Anschauung neutralisierten und verdinglichten Generationsbeziehungen (zu den Topoi der Lehre vom Antichrist gehört auch der vom unlösbar gewordenen Generationenkonflikt, der u.a. in der Ökonomie, in den Naturwissenschaften, dann aber auch im Natur- und Weltbegriff sich neutralisiert, jedoch nicht gelöst wird).
    Der Familienmythos und die Familienbande konstituieren sich mit der Unterdrückung des Generationenkonflikts, der dann extern, als Arbeitswut oder als gesellschaftlicher Konflikt, ausgetragen werden muß. Der präziseste Ausdruck des Scheins der Unlösbarkeit dieses Konflikts in der Struktur des Subjekts sind die subjektiven Formen der Anschauung.
    Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären: Dieser Fluch gründet nicht in der bösen Tat, sondern im Rechtfertigungszwang, in den die böse Tat den Täter versetzt; und er gilt nicht nur fürs einzelne Subjekt, sondern auch für „Gesamtpersonen“ im Sinne Schelers (für Deutsche und für Christen).
    Die Lösung des siebten Siegels ist die Lösung des Knotens der Zeit: der Ambivalenz von Ruhe und Bewegung (Begriff und Verb). Der Kelch als Zornes- und Taumelkelch rührt an diese Kehrseite des Sabbats, der Kehrseite der Idee der ewigen Ruhe.
    Ist die Fundamentalontologie das siebte Siegel (vor dessen Lösung die sechs anderen Siegel zu lösen sind)?

  • 18.01.93

    Mit den Verhältnissen im Römischen Reich sich abzufinden, darin zu überleben, war nur möglich mit einer die eigene politische Ohnmacht rechtfertigenden Philosophie: Dazu brauchte die Philosophie die christliche Theologie, den Christus-Mythos (Opfertheologie, Christologie und Trinitätslehre): Nur durch den Christus-Mythos ist paradoxerweise der Weltbegriff „gerettet“ worden (der Weltbegriff, aber nicht die Welt, in die vielmehr der Keim ihres Untergangs gelegt wurde).
    Gegen die Vergöttlichung Jesu: Gott will nicht, daß das Wort leer zu ihm zurückkommt. Aber als Dogma wird es leer zurückgeschickt. Daran, wie er diese höhnische Geste erträgt, zeigt sich Gottes Langmut.

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