Wie nahe unserem Bewußtsein das Weltgericht gerückt ist (während die Vorstellung vom Jüngsten Gericht erinnerungslos untergegangen zu sein scheint), erweist sich daran, daß heute alle nur noch auf der richtigen Seite stehen wollen: deshalb steigen die Zahlen der Kirchenaustritte.
Das Eine ist das Andere des Anderen: Im Anderen erkennt sich jeder in seinem Anderssein.
Der Islam kann Religion und Politik nicht trennen, weil er mit der Idee, daß Gott die Welt erschaffen hat, ernst macht (was sich in der islamischen Schöpfungslehre dann auch ausdrückt). Dadurch unterscheidet er sich von der jüdischen und von der christlichen Tradition.
Die Kopenhagener Schule hat die Einsteinsche Wende scheinbar wieder integrieren: in das Instrumentalisierungskonzept des Inertialsystems einbinden können. Dabei hat sie geglaubt, die verbleibenden Irritationen (die „Komplemetarität“ und die „Unbestimmtheitsrelation“) als metaphysischen Gewinn sich gutschreiben zu können. Grund war der Bann der Weltbegriffs, der die schmerzhafte, erkenntniskritische Reflexion (die Selbstreflexion als Schuldreflexion) seit je überflüssig zu machen scheint. Weizsäckers „Explosion von Genie“ hatte den nützlichen Nebeneffekt, die Welt, und mit ihr das erkennende Ich, noch einmal gegen Reflexion abzuschirmen.
Hat die Zahl 666 (Off 1318) etwas mit dem Duodezimalsystem zu tun, mit der babylonischen astronomisch-mathematischen Tradition (mit dem Tierkreiszeichen, mit der Astrologie)? Welche Bedeutung haben die Summenzahlen in der Schrift:
– 666, Summe 1->36;
– Apg 2737: 276 Überlebende beim Schiffbruch, Summe 1->23;
– Joh 2111: 153 Fische wurden gefangen, Summe 1->17?
April 1993
-
30.04.93
-
29.04.93
Anders II, Anm. 5 zu S.46: Diejenigen Tiere, die nur konsumieren, also noch nichts aufspeichern (es sei denn am eigenen Leibe), kennen weder Dauer noch Gegenstand noch Eigentum. Die drei bilden ein kategoriales System.
Das Fernsehen arrondiert zur zweiten Natur durch die logisch geforderte zweite Welt (vgl. Anders II, S. 54). Diese zweite Welt ist eine, in der wir als Objekte den Schein, Subjekt zu sein, frei Haus geliefert bekommen und genießen; dieser Schein ist selber naturwüchsig gewachsen im Nachbarschaftstratsch, der durchs Fernsehen auf die reale Welt ausgedehnt wird.
Das moralische Subjekt hat keine Erlebnisse, sondern Erfahrungen. Erlebnisse hat nur das ästhetische Subjekt: der Zuschauer. Die Berufserfahrungen verweisen darauf, daß Erfahrungen Praxis voraussetzen, während Erlebnisse nur im Geltungsbereich des Trägheitsprinzips möglich sind. Die Lohnarbeit und das Experiment (der Kapitalismus und die naturwissenschaftliche Aufklärung) vermischen Erlebnis und Erfahrung, begründen den Schein einer moralisch neutralisierten Praxis (und Erfahrung).
Waren die „Fälschungen“ des Mittelalters nicht schon angelegt in jener Art des Positivismus, die erstmals im Dogma, ausgeführt bei Augustinus (u.a. in dem ad litteram im Titel De genesi ad litteram), erscheint? Die mittelalterlichen Fälschungen gehören in die Vorgeschichte des Nominalismus: In ihnen enthüllt sich der Realismus als Machtinstrument, als experimentelle Nutzung der „verandernden Kraft des Seins“. Die Fälschungen fallen in die gleiche Zeit, in der kirchliche Machtpolitik in Institutionen wie die Lehre vom Fegfeuer, im Zölibat und in der Einführung der Ohrenbeichte (dem Mißbrauch der Lösungsvollmacht der Kirche) sich manifestiert. Aber auch hierfür gilt das „bona fide“ mit dem Johannes Paul II zusammen mit der „Rehabilitierung“ Galileis auch die Inquisition, die ebenfalls in den Kontext der Fälschungsgeschichte hereingehört, freigesprochen hat. Ohne Fälschung waren auch schon das Urschisma (die Ablösung der Kirche vom Judentum) und die Urhäresie (die Gnosis) nicht zu bewältigen. In die Folgegeschichte der Fälschungen gehören das Chronologie-Problem (in der Erd- wie in der Menschheitsgeschichte), insbesondere das altorientalische Sumerer-Problem, aber auch der Antisemitismus (die Grundfälschung überhaupt) und der Faschismus und die Hilflosigkeit gegen ihn, sowie heute eine Struktur von Politik und Öffentlichkeit, die ohne Geheimdienste und ohne aktive Desorientierung der Öffentlichkeit nicht mehr zu funktionieren scheint. FBI und KGB bzw. Stasi und Verfassungschutz sind Produkte unseres Jahrhunderts und Symptome eines Zustands der Welt, der in der christlichen Vorgeschichte (in der Geschichte der Pornokratie, der Fälschungen und der Pornographie) sich herausgebildet hat, und gegen die die bloß moralische Betrachtung („Kriminalgeschichte des Christentums“) ohnmächtig bleibt, durch den in dieser Geschichte erwachsenen Mangel an Reflexionsfähigkeit im Entscheidenden, nämlich im Gegenwartsbezug, in der Fähigkeit zur Selbstverständigung der Gegenwart, gehindert wird, mit ihm den Begriff einer Erkenntnis, die ihrem Anspruch gerecht werden könnte, verdrängt.
Der Nominalismus hat das realistische Moment in der Begriffsbildung soweit subjektiviert, daß es nicht mehr reflektierbar war.
Mt 529ff, 188f, Mk 943ff: „Wenn dich deine Hand, den Fuß, dein Auge zum Bösen verführt, so hau sie ab, reiß es aus. Es ist besser …“ Rätselhafter Spruch (hat dieses Auge etwas mit dem Augapfel zu tun, an den rührt, wer Israel angreift?).
Die Unfähigkeit, Rechts und Links zu unterscheiden, rührt her von der Verblendung gegen die Gegenwart (Subsumtion der Vergangenheit unter die Zukunft). Und ist das „und so viel Vieh“ nicht ein Deckname für Behemot? Auf den Aufruf des Königs hin haben in Ninive außer den Menschen auch die „Tiere: Rinder, Schafe, Ziegen“ Buße getan: Sie sollten „nichts essen, nicht weiden, nicht trinken“.
Die zukünftige Welt ist vergangen: so ist sie der eigentliche terminus ad quem der Erinnerungsarbeit. -
28.04.93
Wenn die Mathematiker des 16. Jahrhunderts vom „natürlichen Licht“ des Verstandes sprechen, dann meinten sie das „Licht“ der Mathematik.
Der Punkt ist die Grenze einer Geraden, die Gerade die Grenze einer Fläche und die Fläche die Grenze eines Körpers. Trennt der Körper das Innere vom Äußeren? Aber was ist dann das „Innere“?
Der Nenner und das Gleichnamig-Machen: Zerstörung des Namens (der benennenden Kraft der Sprache) durch die Form der Anschauung, oder der gemeinsame mathematische Ursprung des Objektbegriffs und des Identitätsprinzips.
Plus und Minus in der Mathematik: Die Null gibt es real (als Ergebnis) nur im Bereich der Addition und Subtraktion, dann (als Operator) wieder beim Potenzieren. Die Null ist in beiden Fällen die Grenze von Plus und Minus (ähnlich wie auch der Punkt, die Gerade, die Fläche und der Körper Grenzen sind).
Sind nicht die imaginären Zahlen ein Produkt der analytischen Geometrie?
Die Beziehung der Kopula (des „Seins“) zum Gleichheitszeichen ist der Grund der Beziehung des Begriffs zur Mathematik: der Usurpation der benennenden Kraft der Sprache durch die Funktion des Nenners (der Verschlingung der Finalursachen durchs Kausalprinzip und der Zerstörung der begründenden und argumentierenden Kraft der Sprache; Verhexung der Logik und Einlaß der Gewalt, letztlich des Gewaltmonopols des Staates, in die Sprache: Produkt der idealisierenden Gewalt des Raumes).
„Unseren täglichen Hunger gib uns heute.“ (Anders, II, S. 16) Der anwachsende Reichtum ist eine Funktion der potenzierten Bedürfnisse, der Bedarfsgüter mit eigenen Bedürfnissen (bedürfniserzeugenden Bedürfnissen), wie Auto, Wohnung, Haus u.ä..
Ist die dritte Leugnung die Sünde wider den Heiligen Geist (deshalb die Selbstverfluchung)? Beziehen sich die Sünden wider den Vater und den Sohn auf die erste und zweite Leugnung?
Zur Rekonstruktion des Weltuntergangs: Vor hundert Jahren gab es den Geheimrat, heute gibt es den Geheimdienst.
Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und der Sieg des Kapitalismus (der „freien Marktwirtschaft“) gründet nicht nur in Taten und Unterlassungen, sondern vorab im Prinzip des Nicht-erwischt-Werdens. Die Kompetenz des Kapitalismus bei der Verwertung der Ressource Feigenblatt war größer, sie ist durch die kostenlose Lieferung eines Sündenbocks, auf den man alles abwälzen kann, erheblich gesteigert worden. Ist hier wirklich eine Situation entstanden, der die Theorie nicht mehr gewachsen ist (Habermas: Neue Unübersichtlichkeit)?
Christliche Zoologie: Seht, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe; deshalb seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben.
Hatte die Schelersche „Gesamtperson“ nicht doch etwas mit Behemot zu tun, dem „Gesamttier“?
Wie verhalten sich die Begriffe Subjekt und Person: Das Subjekt ist das Korrelat des philosophischen, die Person das des politischen Weltbegriffs. Das Subjekt ist der Grund der Fähigkeit der Begriffsbildung, die Person Grund der Fähigkeit, die eigenen Taten zu verantworten.
War nicht Sokrates der philosophisch neutralisierte Held, sein Tod das Opfer der Philosophie an die Polis, und so die Geburt der Person? Nicht zufällig entspringt hier die philosophische Unsterblichkeitslehre.
Zur Geschichte der Scham: Heute ist die Welt, die einmal das Siegel des Ursprungs der Scham war, selber das letzte Objekt der Scham geworden. Subjekt-Objekt der Erkenntnis der Nackheit ist die Welt.
Es genügt heute nicht mehr, nur über Bäume zu reden. Heute müssen wir über Astronomie und über den Stand der naturwissenschaftlichen Aufklärung insgesamt reden. Und wenn es dann wieder notwendig wird, über Bäume zu reden, dann über die Geschichte und die Geschichte der Beziehung des Baumes der Erkenntnis und des Baums des Lebens.
Rosenzweigs Wort an die Adresse Eugen Rosenstocks: Vermanschen Sie die Symbole nicht, trifft heute die gesamte Theologie.
Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet: Gilt das auch für das Richten eines Hauses?
Ist Kanaan ein stammesgeschichtlicher, ein politischer oder ein gesellschaftlicher Name („Händler“)? Und wer waren die Philister?
– Gen 918: Ham ist der Vater Kanaans.
– 925: Und er sprach: Verflucht sei Kanaan. Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern.
– 106: Die Söhne Hams sind Kusch, Mizrajim, Put und Kanaan.
– 1015ff: Kanaan zeugte Sidon, seinen Erstgeborenen, und Het, ferner die Jebusiter, die Amoriter, die Girgaschiter, die Hiwiter, die Arkiter, die Siniter, die Arwaditer, die Zemariter und die Hamatiter.
Nach Gen 1014 zeugte Mizrajim (auch ein Sohn Hams) u.a. die Kasluhiter, von denen die Philister abstammen. -
27.04.93
Rührt nicht die katholische Transsubstantiationslehre an den Kern des Schuldverschubsystems, Grund der Opfertheologie und des modernen Massenbegriffs zugleich (an den logischen Zusammenhang von Natur und Materie)? Nur über die Transsubstantionslehre war die Philosophie, der Gegenstandsbezug des Begriffs, unter den Bedingungen des Römischen Imperiums zu retten. Die Transsubstantiationslehre war der Statthalter des Weltbegriffs in der zentralen Institution der Kirche: im „Meßopfer“. Die finsteren Mysterien des kirchlichen Antijudaismus, die den Begriff des Gottesmords und die an das Motiv der Hostienschändung sich anschließenden projektiv-paranoiden Phantasien begründen, haben hier ihre Wurzeln. Innerkirchlich scheint die Kritik der Verdinglichung immer noch gleichsam als Hostienschändung erfahren zu werden. Hier liegt der paranoische Kern der 2000-jährigen Inertialgeschichte der Kirche.
Gegen Augustinus „De genesi ad litteram“: Gott will nicht, daß sein Wort leer zu ihm zurückkehrt. Das augustinische Prinzip der Wörtlichkeit, das dann zur kirchlichen Tradition geworden ist, ist selber die Entleerung des göttlichen Worts. Es steht unter der Herrschaft des Identitätsprinzips, das eo ipso das Wort zum Begriff neutralisiert, es aus seinem sprachlichen Nährboden herausreißt. Diese Neutralisierung des Wortes, seine Verdinglichung zum Symbol, verdankt sich der gleichen Logik, die in der Transsubstantiationslehre dann dogmatisiert und über die Opfertheologie zum Grund des Dogmas überhaupt geworden ist. Opfer dieses Prozesses waren in der ganzen Kirchengeschichte die Juden (als gleichsam realsymbolische Verkörperung der Kritik des Identitätsprinzips).
Ist nicht die Erstkommunion ein Initiationsritus, der ins verdinglichende Denken einführt um den Preis der Zerstörung der Phantasie (der Zerstörung der Kindheitserinnerung)?
Wenn Kant von den subjektiven Formen der Anschauung spricht, so klingt darin die Vorstellung mit an, daß Raum und Zeit gleichsam die Brille sind, durch die hindurch wir die Dinge wahrnehmen.
Haben die Begriffe Katastrophe und Desaster etwas mit den Sternen zu tun?
Daß wir dem Glück, gut sein zu dürfen, entsagen müssen: Hat das etwas mit der Astrologie (die dafür die schicksalhaften, und d.h. zugleich schulderzeugenden und exkulpierenden Gründe benennt) zu tun?
Wie hängen der Ursprung der Städte und die Astrologie zusammen? War die Astrologie der (babylonische) Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Astrologie und der Verwirrung der Sprachen? -
25.04.93
Die Physik ist das Futur II der Welt: ihre zukünftige Vergangenheit, zugleich der Grund der Verwandlung der Zwecke in Mittel. Über der verdinglichten Welt ist kein Himmel mehr aufgespannt, gibt es keinen Gott, der ihn als Schöpfer aufgespannt hätte. Die Idee des seligen Lebens (und mit ihr die der Erneuerung des Antlitzes der Erde) ist gegenstandlos geworden.
Der Raum als Form der Gleichzeitigkeit ist durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit dynamisiert worden. Seitdem ist eine Kritik der Chronologie (Kritik der Vorstellung einer homogenen Zeit) nicht nur denkbar, sondern denknotwendig geworden, auch wenn es noch keine Ansatzpunkte dafür zu geben scheint, was an ihre Stelle treten soll. Jedenfalls ist eine gleichsam unterirdische Beziehung der Gegenwart zur vergangenen Zukunft, die Vorstellung, daß die Vergangenheit nicht ganz vergangen ist, daß dem Verdrängungsapparat etwas im Objektiven korrespondiert (insbesondere die Raumvorstellung selber, die Erbin aller Initiationsriten), nicht von vornherein zu verwerfen. Welt- und Geschichtskritik als Kritik der Erwachsenenwelt (Kritik der Herrschaftsgeschichte)?
Die Erfahrung, daß nach Auschwitz alles einfach nur weitergegangen ist, daß das keine Folgen hatte, hat der bürgerlichen Religion den Boden unter den Füßen weggezogen. Wo sie in Deutschland gegen diese Erfahrung glaubt, konsequenzlos weitermachen zu können, ist sie vollends böse geworden.
Das Christentum ist der Versuchung erlegen, die Idee des seligen Lebens dem Selbsterhaltungsprinzip zu opfern. Dem verdankt sich die christliche Vorstellung einer vom Leib getrennten Seele und dem Glauben, sie sei unsterblich. Diese Seelenvorstellung verdankt sich der Erfahrung des Für-sich-Seins, die die Idee des seligen Lebens neutralisiert. Hier liegt der Kristallisationskern der Instrumentalisierung der theologischen Tradition. Die prekäre, bis heute unaufgearbeitete Beziehung dieser Seele zur Objektivität – die Vorstellung, es könne ein seliges Leben geben, wenn die Welt im argen liegt – ist der Grund der kirchlichen Sakramentenlehre, die die Seelenvorstellung zugleich begründet und sprengt.
Drückt sich in der Vorstellung der Zeitdilatation (die Zeitdehnung als Korrelat einer exponentiell wachsenden Beschleunigung) nicht eine ungeheure Sogwirkung aus: der absolute Fall? -
24.04.93
Heute die Meldung in der FRANKFURTER RUNDSCHAU, daß der Generalbundesanwalt „erneut Mordanklage gegen die bereits zu lebenslanger Haft verurteilte RAF-Terroristin Adelheid Schulz erhoben“ hat. Begründung des Generalbundesanwalts: „die neuerliche Anklage sei notwendig, weil ein weiteres Urteil bei einer eventuellen späteren Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes nach 15 Jahren Haft wichtig sein könne“. FR: „Unter ähnlichen Gesichtspunkten wurden bereits neue Anklagen gegen die schon verurteilten Terroristen Christian Klar, Peter-Jürgen Boock und Rolf Klemens Wagner erhoben.“ Hierzu zwei Bemerkungen:
– Daß der ganze Justizapparat in Bewegung gesetzt wird, nur um einen zusätzlichen Gesichtspunkt bei der Entscheidung über eine eventuelle Strafaussetzung gerichtskundig zu machen, erscheint so unwahrscheinlich (Frage: gibt es hierzu Präzedenzfälle?), daß der Gedanke nahe liegt, es sind andere Zwänge, die dieses Vorgehen begründen. Die Palette reicht von einem (den Strafvollzug mittlerweile insgesamt bestimmenden) exzessiv wachsenden gesellschaftlichen Strafbedürfnis, der Angst, daß Dämme brechen, wenn nicht „durchgegriffen“ wird, bis zum Legitimationsbedarf im Selbstverständnis einer Staatsanwaltschaft, die im „Angriff auf den Staat“ einen Angriff auf die eigene Identität erkennt. Hier stehen weniger „kriminelle Handlungen“ als vielmehr eine Staatsmetaphysik auf dem Spiel, die keine rationalen Gründe mehr für sich anführen kann, nur die irrationale identitätsstiftende Kraft, ohne die die Ich-Schwäche sich vom Untergang bedroht fühlt.
– Unverkennbar die Nähe zum Antisemitismus (der Zusammenhang mit der insbesondere in der deutschen Justiz unaufgearbeiteten Vergangenheit): Steckt nicht ein Stück jener Logik in diesem Rechtsverständnis, daß auch dem antisemitischen Begriff des „Gottesmords“ zugrundeliegt. Hegel hat den Staat einen sterblichen Gott genannt, nachdem aus der eigenen Logik des philosophischen Begriffs heraus das Absolute, der Gott der Metaphysik, sich als der Staat enthüllt hatte: Nur dieser Gott kann Opfer eines Mordes werden. War die raf nicht doch ein willkommenes Ersatzobjekt für die der öffentlichen Diskriminierung entzogenen Juden? Konnten hier nicht endlich wieder die gleichen Haß- und Racheinstinkte mobilisiert werden, deren Opfer dreißig Jahre vorher die Juden waren? -
23.04.93
Anders, S. 143: Die Zweideutigkeit der Medien, bei denen nicht mehr zu unterscheiden ist, was ernst oder unernst („fun“) ist, und ob der Zuschauer als moralisch-politisches Wesen oder als Mußekonsument angesprochen wird, hat ihre Wurzeln im Habitus des Zuschauers selbst (in der Funktion der „subjektiven Formen der Anschauung“). Das Ernste wird unernst, die Information zum Spaß, wenn es in die Exkulpationsmechanismen hineingerät, sie ausbeutet. Wer – als Zuschauer – von der Möglichkeit zu handeln, von eingreifender Praxis, abgeschnitten ist (der Zuschauer kann in das, was er sieht, weder real noch sprachlich, dialogisch, eingreifen, er bleibt in seine Passivität: in seine Impotenz, gebannt), dem bleibt als Reaktion nur das folgenlose Urteil (in dem er sich über die Sache erhaben, moralisch exkulpiert fühlen darf), ihm bleibt das Schuldverschubsystem des Konkretismus und des Personalismus, der Genuß der Empörung, der wie ein Virus, gegen den es kein Mittel mehr gibt, sich ausbreitet. Er darf impotent und inert bleiben, und sich zugleich, da er sich durch Empörung distanziert, unschuldig fühlen. Diesen Fluchtweg beuten heute die Medien aus (Verführung durch Ästhetik). Die Kehrseite der Informationsunterhaltung sind die Hör- und Fernsehspiele, in denen das ungelebte Leben sich in den für es produzierten künstlichen Nachbarschaften („Lindenstraße“) als Voyeur ausleben darf. Hier erscheint der Grund, aus dem die Medien erwachsen und in den sie immer tiefer zu versinken scheinen: der Tratsch, das Geschwätz. Hier braucht kein Propagandeministerium mehr Regie zu führen, Sprachregelungen herauszugeben, das wird durch die synthetischen Urteile apriori der Unterhaltungsindustrie, durch ihre eigene transzendentale Logik, selbsttätig geregelt (Einschaltquote, Auflagenhöhe als Maßstab für Werbeeinnahmen): durch Einbindung der gesamten Sphäre ins Wertgesetz.
Der „solistischen Massenpanik“ (S. 144) entspricht auf der andern Seite im Falle der realen Untergangsgefahr, das gelassene Zuschauen: Im Golfkrieg wurde in Tel Aviv Nacht für Nacht die Skyline der Stadt im Fernsehen gezeigt; so konnte man die Scud-Raketen anfliegen sehen, deren Opfer man dann selber in Gefahr war zu werden. (Aber ist dieser Unterschied nicht auch einer der Medien: die solistische Massenpanik gehört zum Radio, Zuschauer beim Weltuntergang wird man im Fernsehen.)
Inertialsystem und Fernsehen: Die Asymmetrie (Neutralisierung der Ethik und Konstituierung des Habitus des Zuschauers) ist in beiden Fällen gleich.
Ist Ludendorff das Modell der Kohlschen Politik? Sind nicht die Weichen schon gestellt, wonach die Sozialdemokraten die Suppe werden auslöffeln müssen, die hier eingebrockt wird? Und haben die Sozialdemokraten diese Rolle nicht selber längst internalisiert, erwarten sie überhaupt noch etwas anderes für ihre Rolle in der Politik??
Anders, Anm. zu S. 168: Hinweis, daß „alle heutigen Konterrevolutionen … mit Hilfe derer erkämpft werden, gegen die sie gerichtet sind“. Genauer ist die Funktion von „Solidarpakt“ und „Asylkompromiß“ nicht zu beschreiben.
Beachte die 1. Anm. zu S. 180 und den dazugehörigen Text, demzufolge in den Naturwissenschaften der Singular noch zum Nichtsein gehört (einmal ist keinmal). Wie hängt diese Bemerkung mit der christlichen Trinitätslehre und der Lehre von der Eucharistie zusammen: Wird hier nicht auch der Kreuzestod durch seine endlose Wiederholung erst real gemacht (aber mit der Folge, daß er so nur als „Gottesmord“, für den ein Schuldiger präsentiert werden muß, real zu machen ist: Ursprung des theologischen „Antijudaismus“)?
Sind nicht die Banken die Verwalter des Unterirdischen (der Schulden), daher ihre Affinität zum Mythischen (und ist nicht die Bundesbank, oder allgemein die Zentralbanken, ein Erdbebenverhinderungsinstitut – Verhältnis der Zentralbanken zu Geschäftsbanken wie Seismographen zu den Erdbebenzentren)?
Die Philosophie war das Produkt eines „Erdbebens“ in der mythischen Welt. Sie bedurfte, um sich dann gesellschaftlich zu stabilisieren, der Theologie, des Dogmas, des Bekenntnisses. Für sich genommen, wären die Begriffe Welt und Natur nicht tragfähig gewesen.
Herrschaft macht blind, und mit der Herrschaft wurde seit Beginn der Aufklärung in Europa auch die Blindheit vergesellschaftet.
Im Inertialsystem ist die „Schwerkraft“ eine die Dinge von außen (von hinten) angreifende Kraft, die sich auf ihr Substrat, die schwere Masse, ähnlich bezieht wie die Stoßprozesse auf die beteiligten trägen Massen. Ist der Fall ein modifizierter Stoßprozeß, oder der Stoßprozeß ein modifizierter Fall (in der Schwerkraft greift der Feind hinterm Rücken an)? -
22.04.93
Wächst nicht die Hörigkeit in dem gleichen Maße, in dem die Fähigkeit zu hören abnimmt? Wobei diese Fähigkeit zu hören als Fähigkeit zu bewußtem, grammatisch reflektierten und metaphorischem Hören zu bestimmen wäre. Das metaphorische Hören, ein durchscheinendes Hören, ist das Produkt des ersten Schöpfungstages, der Erschaffung des Lichts, während das verdinglichende Hören, jede Art von Konkretismus, oder die Vereidigung des Denkens auf das tode ti, letztlich die Raumvorstellung und seine Konsequenz, das Inertialsystem, das Licht aus der Sprache und aus dem Denken austreibt (dialogisches Denken wird wahr erst, wenn es als das Licht in der Sprache sich begreift, anstatt sich selbst durch seine Beziehung zum „Gespräch“ und zur „Begegnung“ konkretistisch zu neutralisieren). Die traditionelle christliche Interpretation des evangelischen Rats des Gehorsams war autoritär, weil sie im Bann des verdinglichenden Denkens stand; sie hat das wirkliche Hören verdrängt und am Ende auch noch die Erinnerung daran ausgelöscht.
Wird nicht das Angesicht der Erde in der Herrschaftsgeschichte ebensosehr unterdrückt und entstellt wie es in dieser Geschichte zugleich auch erst bildet?
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Metaphorik und Umkehr? Sind nicht vor allem die Pflanzen (und auf besondere Weise die Bäume) metaphorische Wesen? (Welches ungelöste Rätsel steckt in den Tieren?)
Das Dogma ist sowohl das Unkraut, unter das der Weizen fiel, als auch der Scheffel, unter den das Licht gestellt wurde.
Das Inertialsystem ist ein Grenzbegriff der Sprache, genauer: die Todesgrenze der Sprache (Zerstörung des metaphorischen Elements: seitdem ist der Name Schall und Rauch). Es abstrahiert vom Gesehenwerden (und macht damit auch das Sehen unerklärbar); eben deshalb verfällt es ihm. Hier wird den Dingen dasselbe angetan wie Gott in der Theologie hinter seinem Rücken.
Das, wovon die Naturwissenschaften abstrahieren, wird in der politischen Ökonomie selber wiederum verdinglicht.
Haben wir die Tatsache, daß jede Vergangenheit die Vergangenheit von etwas ist, nicht unmittelbar vor Augen?
Die ganze Welt ist zum Feigenblatt geworden, aber war sie das nicht seit dem Ursprung des Weltbegriffs?
Zum Binden und Lösen: Paulus hat dieses Lösen genauestens bezeichnet, wenn er darauf hinweist, daß die ganze Kreatur seufzt und in Wehen liegt und auf die Freiheit der Kinder Gottes wartet.
Wäre nicht heute die Rosenzweigsche Reihe Schöpfung Offenbarung Erlösung umzukehren? Liegt nicht für uns die Erlösung vor der Offenbarung, und diese vor der Schöpfung?
Schuld wird nicht an sich, sondern nur im Urteil erkannt. Im Urteil wird zur Schuld verurteilt. Schuld ist Ausdruck einer Herrschafts- und Verblendungsbeziehung; deshalb gibt es keine Freiheit ohne Fähigkeit zur Schuldreflektion (ohne Sprachreflektion).
Ist nicht die Geschichte mit David, Urija dem Hetiter und dessen Frau Batseba, die dann die Frau Davids wurde und ihm, nach dem Tod des Erstgeborenen, den Salomo geboren hat (2 Sam 11f), auch ein Stück Prophetie?
Verhalten sich Konsonanten und Vokale nicht wie Form und Farbe? Und ist das Inertialsystem zwar inhaltlich eine Konsequenz aus der Struktur der indogermanischen Sprache, formal aber „konsonantisch“ wie das Hebräische?
Die Forderung an die Kirche, sich endlich mit der Geschichte des Antisemitismus, der Ketzerverfolgung und der Hexenverfolgung auseinanderzusetzen, ist eine Aufforderung an die Kirche, sich mit der Bekenntnislogik und mit den Naturwissenschaften auseinanderzusetzen, mit der genetischen Beziehung der Bekenntnislogik zur naturwissenschaftlichen Aufklärung, zum Inertialsystem. -
21.04.93
Nach Günther Anders haben Nacktheit und „das Gesicht verlieren“ etwas gemeinsam: Wenn Gesichter nackt werden, verwandeln sie sich in einen bloßen „Körperteil …, dessen nacktes und unkontrolliertes Aussehen das von Schulter oder Gesäß an Ebenbildlichkeit um nichts mehr übertrifft“ (S. 86).
Sind Fälschungen (z.B. im Mittelalter) nicht Begleitphänomene der Instrumentalisierung: Hier kommt es nicht mehr darauf an, ob es stimmt, was behauptet wird, sondern primär darauf, welchen Zwecken es dient. Der Nominalismus sanktioniert die Bindung der Wahrheit an Zwecke. Das Tabu, auch Produkt einer „Fälschung“, ist eine gesellschaftlich instrumentalisierte Schamgrenze: Wie hängen die Fälschungen im Mittelalter mit den „religiösen Bewegungen“ des Mittelalters zusammen? M.a.W. handelt es sich überhaupt um „Fälschungen“, können es nicht auch Begleitphänomene kollektiver, herrschaftsgeschichtlicher Verdrängungen, wie die nachfolgende Geschichte der Hexenverfolgungen und des Antisemitismus, sein? Waren in der Ursprungsgeschichte des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ die Legitimationsbedürfnisse anders zu befriedigen? Welche Legitimationsbedürfnisse werden heute z.B. durch das Konzept der „Tiefenzeit“ befriedigt? Muß man nicht den moralischen Ton aus dem Begriff der Fälschung herausnehmen?
Die Verwandlung der Anschauungs- in die analytische Geometrie ist der Beginn der Totalisierung und Vergesellschaftung von Herrschaft.
Zur Geschichte des Ursprungs der Raumvorstellung, Raum und Scham: Die Raumvorstellung entspringt mit dem „und da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“, m.a.W. sie ist ohne Scham nicht zu haben. Jeglicher Mythos beruht auf der Unfähigkeit zur Reflexion der Scham, auf der Verdrängung der Scham.
Die kausale Verknüpfung von Sünde und Schuld ist auch ein Mittel der Exkulpierung durch Verdrängung, insbesondere wenn in die Definition der Sünde die Vorstellung mit hereingenommen wird, man könne sich durch Nichthandeln von der Sünde freihalten.
Emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae: Dieser Geist konstituiert sich in der Kritik des kopernikanischen Systems. Denn erst das kopernikanische System hat das Antlitz der Erde zerstört und jede Erinnerung daran verdrängt. Das Angesicht und die Umkehr haben nicht nur subjektive, sondern auch objektive Bedeutung; die Richtungen im Raum (vorn und hinten, rechts und links, oben und unten) sind nicht nur auf den menschlichen Leib bezogen, sondern haben mit den Himmelsrichtungen, dem Himmel und der Scheol zu tun.
Das Licht ist das erste durchs Wort Erschaffene: Die Finsternis über dem Abgrund bezieht sich auf den Abgrund der Sprache, in dem die Sprache sich nicht wiederfindet, und die Finsternis drückt genau diese Ohnmacht der Sprache aus, die erst mit der Erschaffung des Lichts aufgehoben wird: Auch die Finsternis bestimmt sich aus ihrem Verhältnis zum Licht.
Die subjektiven Anschauungen bei Kant sind Produkt der Abstraktion vom Gesehenwerden, etwas, wohinter das Subjekt sich vor den Dingen versteckt. Und es ist genau diese Abstraktion, die als Begriff der Welt dann sich konstituiert. In der Welt darf man alles, sich nur nicht erwischen lassen.
Franz Rosenzweig spricht einmal von der verandernden Kraft des Seins: das Produkt dieser verandernden Kraft des Seins ist die Welt.
Das Objekt verhält sich zu den Formen der Anschauung wie das Subjekt zum Prädikat im Urteil. Über die Formen der Anschauung wird das Prädikat zum Begriff subjektiviert, wird die Subjektivität in die Objektivität so tief eingesenkt, daß sie fast nicht mehr davon zu unterscheiden ist.
Ist nicht die Vereinigungsmystik der Unzuchtsaspekt dieser Vermischung von Subjektivität und Objektivität, mit verschiedenen Phasen und Aspekten dieser Unzuchtsgeschichte (Ursprung des Patriarchats: Materiebegriff, griechische Päderastie: noesis noeseos, Rousseaus Inzest: Zurück zur Natur, faschistische Homosexualität: Judenmord, postmoderne Abstreibungsdebatte: Ende der Theologie – Entschlüsselung des evangelischen Rates der Keuschheit)? Die Raumschlinge wird immer enger (die ungeheure metaphorische Bedeutung der Stammheimer Selbstmorddiskussion und der Isolationshaft im Kontext des Problems der Instrumentalisierung des Opfers).
Ist nicht die Schrift nur verständlich, wenn die Ontologie als prima philosophia ersetzt wird durch die Ethik? Wenn Emanuel Levinas die Ethik als prima philosophia gleichsam als kantische verdammte Pflicht und Schuldigkeit faßt, als Geiselhaft im Angesicht des andern, so steht er noch unterm Bann des postmodernen Primats des Andern. Die Unterscheidung zwischen dem Andern und dem Fremden läßt in der „Geiselhaft“ das Moment der Befreiung aufleuchten. Die französische Postmoderne erinnert nicht zufällig (schon seit Sartre) an Fichte: Das/der Andere ist das Fichtesche Nicht-Ich, es bleibt im System; erst der Name des Fremden sprengt das System.
Sodom, Jericho und Gibea genau vergleichen: Wer sind die Fremden, wer die Aufnehmenden (wer wird gerettet?), wer die Gewalttätigen (nur in Jericho ist es der König?); welche Rolle spielen die Frauen in diesen Geschichten? Wie enden die Geschichten? Beziehungen zum Stammbaum Jesu (Rahab und Ruth, auch Bethlehem)?
Hat das Relativitätsprinzip genetisch etwas mit der Entdeckung der Perspektive in der Malerei zu tun, auch mit der Entdeckung des Porträts (nach dem Modell der Totenmaske)? Hinterm Porträt tauchte dann schon bald der Totenkopf auf, eine Entdeckung des Barock, aber seine Vorgeschichte liegt im Reliquienkult. Das Porträt war ein Symbol des aufsteigenden Bürgertums, der Totenkopf das des Absolutismus.
Bemerkungen zum Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Zusammenhang der Struktur des Inertialsystems mit der der indogermanischen Sprachen. Durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wird ein empirisches Moment zu einem Strukturelement des Systems. Welche Konsequenzen ergeben sich, wenn man das strukturelle Moment in der Sache festhalten könnte, aber das empirische Moment daran, der Wert der Lichtgeschwindigkeit, variabel wäre? Wäre es nicht denkbar, daß dieser Wert gekoppelt ist mit der Gravitationskonstanten (oder der Gravitationsbeschleunigung)?
Erinnern nicht die metaphorischen Elemente der Sprache an die „Sprache als Morgengabe des Schöpfers an die Schöpfung“? Ist nicht das Licht (auch die Schwere, das Spitze, das Stumpfe) ein sprachlicher Sachverhalt, bevor er ein empirischer ist?
Gott will nicht, daß sein Wort leer zu ihm zurückkehrt (Kritik des Dogmas und Metaphorik).
Wie kann man gegen die Abtreibung, aber gleichzeitig für die Genforschung sein? -
20.04.93
Die Welt ist (auch in ihrer prophylaktischen Gestalt in der Antike) das Produkt der Neutralisierung des Raumes, der Utopisierung der Umkehr.
Was Günther Anders unter dem Titel „prometheische Scham“ beschreibt, läßt sich an den „Geräten“, an der Ding- und Warenwelt, nur leichter demonstrieren, sein Ursprung liegt in der Bekenntnistheologie: in der Christologie und Opfertheologie. Hier gewinnt das Phänomen Ludendorff erst sein volles Gewicht (vgl. Lyotards Analyse des vollkommenen Verbrechens: Exkulpierung durch Schuldverschiebung und Abschaffung des Zeugen).
Anders S. 42: Ist diese „Klimax der Dehumanisierung“ nicht die Folge der Bekenntnislogik: der Neutralisierung der Umkehr in einer Welt, die die Möglichkeit der Umkehr ausschließt (Moral im Gravitationsfeld des Inertialsystems)?
Die Warenwelt ist eine Parodie der Auferstehung (Konsequenz und Voraussetzung des christologischen Naturbegriffs, der die Auferstehung leugnet und ohne Umkehr exkulpiert).
Daß man Elektronengehirne „füttern“ muß (Anm. zu S. 61), ist auch insoweit das Tüpfelchen aufs i, als es genau zu der Geschichte von Adam, der Schlange und dem Staub paßt.
S. 65: Scham und die drei Dimensionen des Raumes.
S. 66: Die heute so oft beschworene „Identität“ ist ein unreflektierter Scham-Effekt: Sie bleibt im Bannkreis des Schuldzusammenhangs.
In der 2. Anm. zu S. 69 beschreibt Anders die Fundamentalontologie Heideggers als Aktion (als Ergebnis) einer systematischen Schambekämpfung, den Versuch des sich schämenden Ich, die Schande seines Es-Seins zu überwinden und Es-selbst zu werden (Grund der „Eigentlichkeit“?).
„Und sie warfen das Los über seine Kleider“: Die Geschichte der aufgedeckten Blöße reicht von der Erkenntnis der Nacktheit nach dem Sündenfall („da gingen ihnen die Augen auf“), vom Feigenblatt und Tierfell, das Gott den Menschen gab (im Mittelalter als Typos der Kirche begriffen), über die Geschichte von Noe, Ham, Sem und Japhet (Entdeckung des Weins, Trunkenheit und Blöße, Aufdecken der Blöße und Ursprung der Knechtschaft) zur Verlosung der Kleider bei der Kreuzigung Jesu: Zum Kreuzestod gehörte das Aufdecken der Blöße, die öffentliche Schande des Gekreuzigten. Diese Blöße wurde nicht mehr zugedeckt: Vergesellschaftung der Knechtschaft.
Der Entdeckung der Nacktheit und das Aufdecken der Blöße ist ein Teil der Geschichte der Veranderung (und der Herrschaft): der Geschichte der Ontologie. (Ist es ein Zufall, daß der Entdecker der Scham sich Anders nennt? – Aber sein Begriff der prometheischen Scham wäre zuzuspitzen zu einem der christologischen Scham. NB: Beachte das dreifache „zu“; was hat die Präposition mit dem Präfix zu tun?)
Im Paradies waren die Menschen nackt, und sie schämten sich nicht. Aber nach dem Sündenfall, da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Ist dieses Augen-Aufgehen und die Implantierung der Scham nicht der Naturgrund der Verblendung, auf den das Blinden-Heilen Jesu sich bezieht? Auch den Jüngern in Emmaus gingen dann die Augen auf: aber das war Teil einer prophetischen Erkenntnis (die nicht die Blöße aufdeckt, sondern der Scham-Reflexion fähig ist).
S: 71 nennt Günther Anders die Scham „ein metaphysicum, die Verkörperung der im Universalienstreit behandelten Dialektik von res und universale.“ Er erinnert hier zugleich an das Gemeine, das im Allgemeinen (universale) steckt (ohne jedoch diesen Aspekt im Ursprung und in der Praxis des über die Universitäten betriebenen Objektivierungsprozesses hier zu bestimmen). Hier stößt er an den Grund des Weltbegriffs.
Es scheint in der Tat insbesondere im Katholizismus heute eine Scham-Akkumulation zu geben, die eine Folge des Verschwindens des theologischen Gedankens (infolge der Gewalt des Weltbegriffs) ist. Die Theologie ist nicht mehr nur „klein und häßlich“, sondern schlicht verschwunden; und die Gefahr scheint zu bestehen, daß wir nur noch erinnerungslos Abschied nehmen, weil wir nichts mehr begreifen.
Verweist das eben zitierte Benjamin-Wort (wonach die Theologie heute „klein und häßlich“ ist, und sich nicht darf blicken lassen) nicht auch auf die theologische und kunstphilosophische Differenz zwischen Benjamin und Adorno, die sich u.a. in den Begriffen Kunstphilosophie und Ästhetik ausdrückt?
War nicht das Grundmotiv des Turmbaus zu Babel, wie aller Turmbauten seitdem, das Man-selbst-sein-Wollen, das in der Fundamentalontologie so entsetzlich verendet (über die Schamlosigkeit: den Exhibitionismus der Türme).
Die Skyline von Frankfurt aus der Eigenlogik des Bankwesens herleiten.
Zur Kritik der Existenzphilosophie: Die Existenz ist in sich selber vollständig gesellschaftlich vermittelt; und die Existenzphilosophie verzweifelt nur daran, dieses Rätsel zu entschlüsseln. Das Existenzdenken steht in der Tradition des cartesischen „cogito, ergo sum“, nur leicht variiert: Ich bin, also bin ich.
Nachdem Dalila ihn verraten hatte, wurde Simson von den Philistern gefesselt, ihm wurden die Augen ausgestochen, und dann wurde er ins Gefängnis geworfen, wo er die Mühle drehte.
Auch das Schlimmste muß reflexionsfähig bleiben. Die Vorstellung, daß das Qualitative, wenn es reflektiert wird, zerstört wird, ist falsch.
Ist nicht auch die Josefs-Geschichte (der Bund mit Pharao, dessen Nachfolger dann aber Josef nicht mehr kannten) ein Stück Kirchengeschichte? Aber wer sind dann Ephraim und Manasse? -
19.04.93
Hängt die Kausalverknüpfung von Sünde und Schuld (deren Entkoppelung das Werk der Keuschheit ist) mit der Einführung des Gleichheitszeichen in der Mathematik zusammen (Erfindung der Null und der negativen Zahlen, Ersetzung der Anschauungsgeometrie durch analytische Geometrie und Algebra)? Durchs Gleichheitszeichen werden die Beziehungen von Addition und Subtraktion, Multiplikation und Division, Potenzieren und Wurzelziehen, Logarithmus und Exponentialfunktion, Winkelfunktionen u.a. definiert, sie werden Teil eines geschlossenen Systems. Wie verhalten sich diese Beziehungen zu der von Subjekt und Prädikat im Urteil? Oder wie verhält sich das Gleichheitszeichen zur Kopula, zum „ist“: Entspringt nicht der Begriff in der gleichen Bewegung, wenn das Prädikat als Nomen auf „die andere Seite“ im Urteil gebracht wird?
Der Übergang von der Anschauungsgeometrie zur Algebra ist der Ursprung der transzendentalen Logik (Objektivation, Herrschaft und Instrumentalisierung).
Jede Instrumentalisierung (wie auch ihr gesellschaftliches Äquivalent: die Ghettoisierung) nutzt die Todesgrenze: Sie blendet das An-sich aus, sie definiert sich durchs Freund-Feind-Denken, durch die „Front“ (Zusammenhang mit dem Ursprung des Mythos, des Helden, der Schicksalsidee).
China und Indien: Unterschied zwischen Ahnenkult und Wiedergeburt? Entspringen die chinesische „Höflichkeit“ und der Ahnenkult, das indische Kastenwesen und die Lehre von der Wiedergeburt jeweils gemeinsam?
Drückt sich nicht in den imagines des Vaters und der Mutter ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit aus: Der Vater verkörpert die Macht der Vergangenheit, die Mutter opfert sich auf für die Zukunft. Bezieht sich darauf das auf Adam, den Mann, bezogene Bild vom Staub und der Schlange und das von der Feindschaft des Weibes zur Schlange?
Läßt sich nicht an Haffners Revolutionsbuch die Bedeutung des Satzes „Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ demonstrieren? Auch Haffner kann sich die Ereignisse in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nur mit Hilfe der Personalisierung objektiver Prozesse verständlich machen: Er braucht Schuldige („Männer machen Geschichte“). Das aber ist eine der Ursachen der „neuen Unübersichtlichkeit“ und verstellt den Weg zur Erkenntnis der Gegenwart. Haffners Vorstellung, eine Revolution, die die Monarchie und den Militarismus beseitigt, aber die Ökonomie nicht angetastet hätte, sei möglich gewesen, war ebenso naiv wie die andere, eine Änderung der Besitzverhältnisse hätte auch das politische Grundverhältnis verändert. -
15.04.93
Der interessanteste und der entscheidende Teil der kantischen Kategorientafel ist der dritte. Der erste und zweite Teil definieren die Brille, durch die hindurch der dritte gesehen wird, während der vierte dieser Brille die objektive Realität verschafft. Das Entscheidende ist das Moment der Gefangenschaft im System (der Isolationshaft), das dadurch zustande kommt, daß, wohin man sich auch wendet, man keinen Ausweg findet; der Ausweg ist versperrt durch das Prinzip der Reversibilität der Richtungen im Raum. Diesem Prinzip der Reversibilität verdankt sich die Struktur der homogenen Zeit: Die Reversibilität ist der Ausdruck der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit. Die Geschichte vom Hasen und Igel drückt das aufs genaueste aus.
Was ist das Neue beim Noe:
– die Sintflut mit der Verheißung, daß sie nicht noch einmal kommen wird und mit dem Bogen als Bestätigung;
– das neue Essensgebot: mit der Erlaubnis des Fleischessens (das das Töten von Tieren mit einschließt);
– der Weinanbau: Noe ist der Erfinder des Weinanbaus und der erste Trunkene;
– Sem, Ham und Jafet, das Aufdecken der Blöße und der Ursprung der Knechtschaft.
Haben Sem und Jafet etwas mit der Unterscheidung der semitischen und indogermanischen Sprache zu tun? Ham (zu dessen Söhnen Kanaan gehört) ist der Vater des Knechts beider. Was bedeuten die Namen Sem, Ham und Jafet?
Luther hat „dem Volk aufs Maul geschaut“: Hat seine Bibel-Übersetzung die Schrift dem Volk nur mundgerecht gemacht? Liegt nicht die Erinnerung an die Doppelbedeutung des Gerichts nahe?
Hängen die Prä- und Suffixe mit dem Nominalisierungsprozeß der Verben zusammen? Während die Suffixe in der Regel den Nominalisierungsprozeß abschließen, besiegeln, nehmen die Präfixe die Präpositionen in das Verb mit herein, ordnen damit die Verben den Deklinationen (dem Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhang der casus) zu.
Kommt dem Präfix be- nicht insofern eine Sonderstellung zu, als es den Mechanismus selber ausdrückt: die Identität von Empörung und Unterwerfung und die Identifikation mit dem Aggressor (das genaue Äquivalent des Raumes in der Sprache). Wenn ich ein Haus bewohne, beherrsche ich es durch meine eigene Unterwerfung unter seine Gesetze (Zusammenhang mit dem englischen to be?).
Anwendung auf den Begriff des Bekenntnisses (Prinzip der Instrumentalisierung der Religion: es macht sie „bewohnbar“). Ist das Schuldbekenntnis die Umkehrung des Zwangsbekenntnisses?
Wie verhält sich die Bekehrung zur Umkehr? Auch das reflexive Sich-Bekehren ist nicht identisch mit der Umkehr: Hier tut man sich nur selber an, was einem sonst von außen angetan wird. Sind nicht die Naturwissenschaften die Bekehrung der Natur (hier liegt der Grund des christologischen Naturbegriffs)?
War nicht Alexander, der Schüler des Aristoteles, auch der erste große „Bekehrer“ (der den Barbaren die Zivilisation gebracht hat)? Als er den gordischen Knoten durchschlug und Asien unterwarf, war das nicht die prophylaktische Verwandlung der Umkehr in die Bekehrung?
Man muß die Gewalt der Sprache von der Sprache der Gewalt unterscheiden. Was heißt Sprachgewalt?
Walter Benjamins Erörterungen zum Begriff der Gewalt, seine Unterscheidung zwischen der rechtsetzenden und rechterhaltenden Gewalt (und der göttlichen, befreienden Gewalt), ist weder deduktiv abzuleiten, noch unterliegt sie der empirischen Überprüfung, sondern sie hat eine Schlüsselfunktion: sie erschließt neue Erfahrungsbereiche. Aber wenn einer nicht bereit ist, diesen Schlüssel auf seine Erkenntnisse anzuwenden, kann er ihn nur noch als unbrauchbar verwerfen; aber das ist dann sein Problem und keins des Textes von Walter Benjamin. Walter Benjamin hat als erster das transzendentallogische Problem des Rechts begriffen: daß auch das Recht (im Kontext von Begriffen wie Welt, Natur und Materie) ein Instrument zur Organisation von Erfahrung ist, dessen Begründung ohne Rekurs auf Gewalt (die ohnehin in den Fundamenten der transzendentalen Logik mit drin steckt) nicht möglich ist. Derrida ist ein Rutengänger der Philosophie, aber er vermag die Goldadern, auf die er stößt, nicht selber auszubeuten.
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie