März 1994

  • 06.03.94

    Zieht nicht das Fernsehen die Menschen aus dem Verkehr, verändert es nicht die Sprache auf beiden Seiten des Geräts in Richtung Verstummen?
    Das Problem des Dings (oder das Problem der Hegelschen Logik) ist das des Inertialsystems oder das der Orthogonalität (auch die Beziehungen des Raumes zur Zeit und zur Materie sind Orthogonalitätsbeziehungen: erst die Materie neutralisiert die benennende Kraft der Sprache). Die Orthogonalität gründet in der versäumten Umkehr: sie ist (zusammen mit der Vorstellung der Materie und der homogenen Zeit und mit der Hegelschen Logik) das Produkt der Instrumentalisierung der Umkehr (wie das Dogma das der Instrumentalisierung des Kreuzestods).
    Seit Hegels List der Vernunft, in der die Schuld des Systems sich einbekennt, gibt es zum Zynismus keine Alternative mehr.
    Der Monotheismus ist intolerant, weil er die Idee des Absoluten – den Schatten, den das Ich auf Gott wirft – mit Gott verwechselt. Das Absolute ist ein Reflexionsbegriff, von dem des Relativen (wie auch vom Ich) nicht zu trennen. Gott hingegen ist ein Name, und nur der Name entzieht sich der Logik der Reflexion.
    Von wem stammt der Satz, daß Gott das Maß aller Dinge sei (vgl. Enzyklopädie I, S. 224f, Zusatz zu 111)?
    Hegel verwechselt beim quantitativen Verhältnis (Enzyklopädie I, 105, Zusatz) den Quotienten mit dem Exponenten.
    Die Ruhe des siebten Tages ist eine Ruhe von der Zeit, nicht in der Zeit. Und das Realsymbol dieser Ruhe ist der Sabbat, der etwas anderes ist als die dies dominica. Aber was bedeutet es, wenn es heißt, daß der Menschensohn Herr über den Sabbat ist, und gibt es eine Beziehung dieses Satzes zu der Befreiung Maria Magdalenas von den sieben unreinen Geistern: Ist diese nicht das Zeugnis für die Herrschaft des Menschensohnes über den Sabbat (und die doppelte Erinnerung des Sabbats an den siebten Schöpfungstag und an den Exodus, die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten)?
    Jeder Fundamentalismus ist ein Opfer des verdinglichten Bewußtseins: das Opfer einer Logik, aus deren Kritik die Theologie erst wieder zu gewinnen, zu rekonstruieren wäre.
    Sind Gelb und Rot Farben der Verdrängung, während Blau eine Farbe der Sehnsucht ist? Ergibt sich das nicht zwanglos aus der Beziehung dieser Farben zu Licht und Finsternis, aus ihrem Zusammenhang mit den Leiden und Taten des Lichts?

  • 05.03.94

    Belästigen und belasten, unerträglich und tragbar (zumutbar): Welche Last ist im Lande der unbegrenzten Zumutbarkeiten gemeint?
    Die Welt ist alles, was der Fall ist: Sie ist alles, was unter den Begriff, unters Urteil fällt. Und Urteile werden (wie Bäume) gefällt.
    Wenn der Begriff und die Logik etwas mit der Gravitation zu tun haben, gründet dann die Sprache im Licht? Aber die Last ist beim Namen zu nennen: das Schwere ins Licht zu bringen.

  • 3.3.1995

    Ist nicht Gunnar Heinsohn Opfer seines eigenen historischen Objektivitätsbegriffs geworden? Seine These, daß Hitler die Judenvernichtung angeordnet habe, um mit den Juden die Erinnerung an das Tötungsverbot zu tilgen, ist von der Motivation her wahr; nur gilt diese Motivation für den Antisemitismus insgesamt, und Hitler unterscheidet sich von den Antisemiten sonst durch durch das Maß an Konsequenz, durch den pseudomessianischen Akt: Er legitimiert sich als Führer dadurch, daß er in vollem Bewußtsein der Konsequenzen die Verantwortung für diesen Antisemitismus übernimmt; er nimmt „die Sünde der Welt“ auf sich (er nimmt den Tätern die Schuld ab, in die er sie doch zugleich verstrickt). Es geht in der Tat nicht um die Juden; eine Erinnerung tilgt man nicht, indem man die Träger dieser Erinnerung vernichtet. Zur beabsichtigten Wirkung der „Endlösung“ gehört sowohl die Binnenwirkung der Komplizenschaft (der „Treue“: wer in diese Taten verstrickt ist, kommt davon nicht mehr los) als auch die Außenwirkung des Terrors („wat denn, icke mir uffhängen lassen, lieber gloob ick an’n Sieg“) mit dazu: die irrationale Kommunikation der Gewalt als Verdrängungshilfe, ohne die das Tötungsverbot nicht aufzuheben ist. Ohne den gesamtgesellschaftlichen Resonanzboden, der selber zu dechiffrieren wäre, allein durch den Rekurs auf die Absicht und den Willen Hitlers wäre diese Tat nicht möglich gewesen. Dieser „Resonanzboden“-Effekt hat am Ende des Krieges, als das Konstrukt in der Niederlage implodierte, den ungeheuren Rechtfertigungsdruck erzeugt, der die Nachkriegsgeschichte in Deutschland beherrscht (und alle Voraussetzungen des Wiederholungszwangs in sich birgt). Selbst der Erklärungsbedarf steht unter diesem Rechtfertigungszwang und müßte ihn in die Reflexion mit aufnehmen, wenn er wirklich zur Befreiung beitragen soll. Ich habe das Gefühl, daß die heinsohnsche Form der Verarbeitung des apokalyptischen Aspekts dieser Geschichte (Entschärfung der Apokalypse durch Neutralisierung, durch Reduktion auf die Erinnerung an eine längst vergangene Naturkatastrophe, als hätten wir nicht das Objekt für das Studium der Apokalypse in der jüngstvergangenen gesellschaftlichen Naturkatastrophe vor Augen).
    Gunnar Heinsohn scheint alle bisherigen „Auschwitz-Theorien“ nur als Konkurrenz zum eigenen Konzept wahrzunehmen; und es gehört schon einiges dazu, allen bisherigen Reflexionen über Auschwitz (so u.a. den Studies in Prejudice, der Dialektik der Aufklärung, oder etwa dem Werk Hannah Arendts) bloß „Ratlosigkeit“ zu attestieren, um dann sein eigenes Werk als die gleichsam endgültige Lösung des Problems zu empfehlen. Wäre nicht eher von einer gemeinsamen Anstrengung zur Aufklärung des wahrhaft Unbegreiflichen ausgehen. Denn unbegreiflich bleibt diese Tat (wie auch die Welt, in der sie möglich war) für jeden, für den die Moral das sich von selbst Verstehende ist. Das Problem ist eher: Wie müßte die Welt aussehen, wenn man sie unter der Voraussetzung dieses Prinzips zu verstehen versucht; eine Welt, die dem Bann der Ontologie entronnen ist, und deren prima philosophia die Ethik wäre?
    Durch seinen Beitrag zur Chronologie-Revision („Die Sumerer gab es nicht“), zur Ursprungsgeschichte des Geldes („Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft“), und jetzt zur Erforschung des Antisemitismus („Was ist Antisemitismus“ und „Warum Auschwitz“) hat Gunnar Heinsohn Wesentliches zur Selbstaufklärung der Gegenwart beigetragen. Kann es sein, daß es nur noch einer kleinen Korrektur seines Konzepts bedarf?
    Zu Heinsohns Bemerkungen über den Totenkopf wäre an Benjamin zu erinnern, der im Totenkopf die Urallegorie erkannt hat. (Gibt es nicht Gesichter, in denen dieses leere Grinsen des Totenkopfs geronnen, als Charaktermaske eingezeichnet ist? Sind es nicht die „schneidigen“ Profile, die unter Offizieren verbreitet waren, und dann in der SS zum Züchtungsziel der nordischen Rasse geworden sind?)
    Tucholskys Satz „Alle Soldaten sind Mörder“ ist zweifellos eine Übertreibung; aber gibt es nicht im Bereich des Soldatischen ein Magnetfeld, das seine Anziehungskräfte vor allem auf einen disziplinierten Mordtrieb ausübt, auf die, die zur Ausübung dieses Triebs die institutionelle Deckung (den „Befehl“) brauchen? Und ist es nicht gerade dieser disziplinierte Mordtrieb, der so empfindlich auf den Vorwurf in dem Satz Tucholskys reagiert?
    Die Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung, die nicht zufällig mit der Astronomie beginnt (sowohl in der Antike, als auch in der modernen Welt), ist ein Teil des Gattungsprozesses der Menschheit.
    Das Angesicht steht für die Fähigkeit, sich mit anderen zu identifizieren, für die Empathie und Barmherzigkeit, dafür daß niemand weiß, ob er selbst anders wäre als einer, den er zu verurteilen geneigt ist, wenn er ernsthaft in seine Situation sich hineinversetzt. So hängt das Angesicht mit Urteil zusammen: Es ist nicht nur die Tötungshemmung, die Emanuel Levinas in ihm erkennt, sondern vielmehr und vor allem eine Urteilshemmung, die zugleich deutlich macht, daß es eine Erkenntnis gibt, die den Rahmen des Urteils sprengt. Auf diesen Sachverhalt bezieht sich das Prophetenwort vom Rind und vom Esel: Diese Urteilshemmung macht die Unterscheidung von Last und Joch erfahrbar.
    Die homousia ist das neutralisierte homologein, Produkt der Hellenisierung der Theologie, Anfang der Theologie hinter dem Rücken Gottes. Dieser Neutralisierung verdankt sich der Begriff des Bekenntnisses.
    Gründet das Neutrum im Menschenopfer?
    Waren nicht die Astrologie und die Alchimie gleichsam Häresien zu einer naturwissenschaftlichen Orthodoxie, die aus ihnen (durch symbolischen Elternmord) sich entwickelt hat? Wie alle Häresien sind sie nur verurteilt, verdrängt und verfolgt, nicht aber aufgearbeitet worden. Während die Astrologie gleichsam die politische Außenseite der Naturwissenschaft repräsentiert, repräsentiert die Alchimie ihre mystische Innenseite. Beide bezeichnen Knotenpunkte der Begriffsgeschichte von Schicksal und Scham.
    Der Begriff der Kollektivscham hat den Rechtfertigungszwang, der im Kern der modernen Aufklärung enthalten ist, nur verstärkt, anstatt ihn zu reflektieren.
    Der Objektbegriff ist der Pflug, vor den Rind und Esel gespannt sind.
    Hodie, si vocem eius audieritis: Dieses Heute tritt ein, wenn der Bann der Natur gelöst ist (mit der Einung des Gottesnamens): Wenn aus den Blinden und Lahmen die, die tun und hören, geworden sind.
    Definition der Kommunikationstheorie: Theorie der Signale, mit denen Isolationshäftlinge sich untereinander verständigen (oder auch, nur getrennt davon, ihre Wächter).
    Dauer, Folge und Zugleichsein: Gründet nicht die Dauer in der Beziehung von Vorn und Hinten, die Folge in der von Rechts und Links und das Zugleichsein in dem von Oben und Unten (im Verhältnis der Fläche zu der zu ihr gehörenden Normalen)? Ist nicht die Orthogonalität zweier Geraden in einer Fläche zu unterscheiden von der Orthogonalität der Normalen zur Fläche? Kann es sein, daß diese beiden Formen der Orthogonalität sich zueinander verhalten wie die Orthodoxie des Symbolums zu dem der Konfession?

  • 02.03.94

    Ist die Kehrseite der Naturwissenschaften (und ähnlich die der Ökonomie und die des Dogmas und der Bekenntnislogik) elliptisch: Wo ist der zweite Brennpunkt?
    Das Interesse an der Erhaltung der Referenzsysteme der Natur, der Ökonomie und der Religion (Inertialsystem, Geld, Bekenntnislogik), die sich ohnehin gegenseitig stützen, der Widerstand gegen ihre Reflexion, ist heute stärker als das Interesse an der Wahrheit.
    Was entspricht dem Urknall und dem Schwarzen Loch in der Ökonomie und in der Religion?
    Die Rekonstruktion der Bekenntnislogik hat die Entschlüsselung der Sakramentenlehre zur Voraussetzung. Für Augustinus waren das Symbolum und das Herrengebet noch Sakramente, die bei der Taufe übergeben wurden. Wann ist die systematisierte Sakramentenlehre (die Lehre von den sieben Sakramenten) entstanden? Fällt sie nicht unter den gleichen Bedingungszusammenhang wie auch die Konsolidierung der Lehre von den letzten Dingen (Hölle, Himmel und Fegfeuer), die Durchsetzung des Zölibats, der Ursprung der Eucharistie-Verehrung (Fronleichnam) und der Ursprung der Ohrenbeichte; und wird dieser Bedingungszusammenhang nicht durch den neuen, islamisierten (d.h. durch das religiöse Trägheitsgesetz der Ergebung charakterisierten) Weltbegriff, der darin sich abzeichnet, definiert? Ist nicht die Lehre von den sieben Sakramenten (Symptom der Islamisierung des Christentums) bei Thomas von Aquin schon voll ausgebildet?
    Die Hegelsche Logik ist die Selbstreflexion des Dings, und ihre Beziehung zur Theologie wäre in dem gleichen Zusammenhang zu bestimmen, in dem der Dingbegriff als die Säkularisationsgestalt der Eucharistie sich erweist. Ist nicht die Philosophie in der Tat der corpus Christi mysticum, aber in der Gestalt des Fronleichnams (der Eucharistie als Symbol des am Kreuz gestorbenen Leibes des Herrn)?
    Wie verhält sich der Begriff der Totalität zu dem des Absoluten (oder: wie verhält sich der Faschismus zum Barock)?

  • 01.03.94

    Walter Benjamins Definition „Schicksal ist der Schuldzusammenhang des Lebendigen“ wirft auch ein Licht auf Joh 129. Der Weltbegriff ist aus dem des Schicksals hervorgegangen, er ist das Produkt der Vergegenständlichung dieses Schuldzusammenhangs: deshalb haben Tiere eine Welt. Es käme jedoch darauf an, den Bann des Schicksals, den Schuldzusammenhang, durch Reflexion zu brechen; nur durch „Übernahme der Schuld der Welt“, die dazu die Voraussetzung ist, ist die Welt zu humanisieren.
    Charakter ist das Ensemble der Eigenschaften des verdinglichten Subjekts (weil Verdinglichung auf die Logik des Lachens zurückweist, ist der Charakter der erste Gegenstand der Komödie).
    Das Lachen gehört zu den Konstuentien der Mathematik, des Ding- und des Weltbegriffs (nicht zu denen des Begriffs der Sache). Ist das Lachen (zusammen mit der Mathematik, dem Ding- und dem Weltbegriff: die Vorstellung einer namenlosen Sprache) Gegenstand der Theorie des Feuers? Der Name des Dings ist ein Deckname fürs unkenntlich gemachte Tier.
    Positiv denken heißt sich mit der Rücksichtslosigkeit der gnadenlosen Welt (mit der Rücksichtslosigkeit der Dinge) gemein machen.
    Der Weltbegriff bannt die Menschen in die Rolle des Zuschauers und des ohnmächtigen Objekts zugleich (das Fernsehen ist der institutionalisierte Hohn über die Zuschauer, die nicht mehr zu durchdringende Wand zwischen mir und den anderen: das kollektive Gefängnis, in dem alle Insassen und Aufseher zugleich sind); er ist die perfekte Absicherung und das perfekte Alibi fürs Nichthandeln. Durch die Logik der Welt wird das verdinglichte (das bloß zuschauende, von der sprachlich fundierten Gemeinschaft des Handelns abstrahierende) Bewußtsein selber zum Ding.

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