Juni 1995

  • 30.6.1995

    Die subjektiven Formen der Anschauung sind die Grundlagen der Logik der Schrift (der Vergesellschaftung der Logik der Sprache durch die Schrift) im Subjekt. Ihre formale Entfaltung: die Rekonstruktion der Dreidimensionalität des Raumes und der Linearität und Irreversibilität der Zeit, verdankt sich einem Abstraktionsprozeß, der auf die Herrschaftsgeschichte zurückweist, und in der Geschichte der Sprache(n), ihrer grammatischen Durchorganisation, sich manifestiert. Der Ursprung und die Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen (die Bildung des Neutrum und die Subsumtion der Konjugationsformen unters Zeitkontinuum) …
    Die unter christlichen Ökologen beliebte Parole „Erhaltung der Schöpfung“ drückt das Gegenteil dessen aus, was gemeint ist.
    „Gottesbeweis“: Wenn die Namen Sache der gesellschaftlichen Vereinbarung sind, dann gibt es zur Anpassung an die Welt keine Alternative.
    Corpus Christi mysticum: Wenn Theologie in der Sprache gründet (und nicht im Denken), dann gibt es zum Anthropomorphismus keine Alternative. Und dann ist in der Tat der Himmel Sein Thron und die Erde der Schemel Seiner Füße.
    Der naturwissenschaftlichen Medizin geht es nicht mehr um Heilung, sondern um deren Nachweisbarkeit. Das gehört zu den logischen Zwängen des medizinischen Wissenschaftsbegriffs, von denen insbesondere Chirurgie und Chemotherapie profitieren. Medizin wird zur Einselsymptom-Therapie, verbunden mit einer spezifischen Art der Verdummung: Ausgeblendet wird die Erkenntnis von Zusammenhängen, die nicht klinisch-technisch, gleichsam unter Laborbedingungen, sich rekonstruieren lassen. Liegt hier nicht das medizinische Äquivalent des juristischen Sachverhalts, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist, die der gleichen Logik sich verdankt: Nur das Beweisbare ist wirklich; im Rahmen des durch die Kriterien der Beweisbarkeit definierten Kontinuums ist alles erlaubt, man darf sich nur nicht erwischen lassen.
    Himmel und Erde: Der Baum des Lebens gründet in der Kraft des Namens, der Baum der Erkenntnis in der Logik der Schrift.

  • 29.6.1995

    Umfeld des Begriffs der Wahrheit: wahr, wahrnehmen, bewahren (aufbewahren), bewähren, Währung. Die moderne Definition des Begriffs der Wahrheit (Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand) bindet die Wahrheit an den Begriff des Wissens, an die Urteilsform, an die getrennte Existenz der Außenwelt.
    Zur Konstituierung der Außenwelt: Das Problem wird erkennbar im Rückgriff auf das der Konstituierung der Mathematik, die einem Abstraktionsakt sich verdankt, in dem das Subjekt von sich selbst abstrahiert. Der gleiche Abstraktionsprozeß liegt dem Begriff und der Vorstellung einer vom Subjekt unabhägigen Außenwelt zugrunde. Ist nicht die mathematische Abstraktion eine doppelte? Vgl. die „ägyptische“ Geometrie und die „babylonische“ Algebra , die übrigens schon die „Zahl“ 0 enthielt, die die Griechen wieder vergessen mußten, und die über Indien und die Araber (den Islam) erst im Mittelalter nach Europa gekommen ist. Dieser Unterscheidung (von Geometrie und Algebra) liegt die Logik der Innen-Außen-Trennung zugrunde. Und hat nicht auch das Wissen einen doppelten Gegenstand: die Geschichte und die Natur?
    Die Sänger im jüdischen Tempel waren kein Kirchenchor, sondern repräsentierten die orale Tradition der Schrift. In welcher Beziehung standen sie zu den späteren „Schreibern“?
    „Auf der Flucht erschossen“: Von wem werden die Jogger gejagt? Werden sie nicht von ihren Problemen verfolgt, und am Ende sind nicht ihre Probleme, sondern sie selbst weg?
    Jogging ist ein Politiker-, ein Präsidentensport. Erinnert es nicht an die Theorie, daß das Königtum aus dem Opfer hervorgegangen ist?
    „To be or not to be“ ist nicht gleichbedeutend mit „Sein oder Nichtsein“, eher schon mit „zu sein oder nicht zu sein“. Die Differenz verweist auf den imperativen Charakter des Infinitivs und auf die Beziehung von Indikativ und Imperativ, auf das Problem des Namens: Der Nominalismus, der den Namen in Schall und Rauch verwandelt, entspringt mit der Trennung von Indikativ und Imperativ (mit dem Ursprung des Objektbegriffs); er gründet in der Entfernung des Imperativs aus dem Namen, seiner Übersetzung in den Indikativ.
    Die ontologische Rückverwandlung des Indikativs in einen Imperativ, die dem Naturbegriff zugrunde liegt, (die Rückverwandlung des Handelns in ein naturhaftes, subjektloses Geschehen, auf das das Subjekt keinen Einfluß mehr hat, das ohne sein Zutun sich vollzieht, dem es bloß zuschaut, an dem es „unschuldig“ ist, m.e.W. die Rückverwandlung des Handelns in den Vollzug der Seinshörigkeit, des blinden Gehorsams) ist faschistisch.
    Bei Hegel ist das Subjekt, als welches die Substanz der Welt in ihrer logischen Explikation sich erweist, der Staat, bei Heidegger, bei dem diese Explikation zum fundamentalontologischen kurzen Prozeß des Seins verkommt, das Volk.
    Joh 129, oder die Opfertheologie und das Nachfolgegebot: Die Differenz zwischen Ontologie und Ethik als prima philosophia ist die Differenz zwischen einem Weltgeschehen, das ohne mein Zutun sich vollzieht, dem ich als unschuldiger Zuschauer bloß beiwohne, und einer Welt, in der das Leiden, das sie produziert, in die Verantwortung aller fällt. Hier liegt der Grund der Gottesfurcht, die der Anfang der Weisheit ist. Der Fluchtpunkt der christlichen Furcht vor der Gottesfurcht war die Opfertheologie, die Neutralisierung und Instrumentalisierung des Kreuzestodes.
    Nach der jüdischen Tradition werden Sünden wider den Nächsten am Versöhnungstag nicht vergeben, nur Sünden gegen Gott. Der Weltbegriff hat die Sünde wider den Nächsten in sich mit aufgenommen und so universalisiert: Hierauf bezieht sich die neutestamentliche „Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben werden kann“. Die Sünde der Welt in Joh 129 ist der im Weltbegriff verkörperte Inbegriff der Sünde wider den Nächsten, die auch nach jüdischer Tradition durch Gott nicht vergeben werden kann (sondern nur durch Versöhnung mit dem Nächsten). Diese Sünde hat das Lamm Gottes nicht hinweg-, sondern auf sich genommen. Damit aber verschiebt sich ihr theologischer Sinn von der Opfertheologie ins Nachfolgegebot.
    Steckt nicht die ganze Theologie in der sprachlogischen Beziehung von Imperativ und Indikativ?
    Der Kelch ist das Symbol der Schrift, deren logische Grundlage sind die subjektiven Formen der Anschauung, die Grammatik ist das Produkt ihrer „organischen“ Ausgestaltung. Deshalb ist die „Erfüllung“ der Schrift von der des Wortes zu unterscheiden: Diese ist durch Umkehr auf jene bezogen. Die Schrift ist logozentrisch, das Wort wird erfüllt in der Heiligung des Gottesnamens.

  • 28.6.1995

    Geometrie und Arithmetik verhalten sich wie Privatsphäre und Öffentlichkeit, wie Innenpolitik und Außenpolitik, wie Ägypten und Babylon.
    Ist das Meer die nach außen gewendete Gebärmutter, der nach außen gewendete Mutterschoß? Die Prophetie wurde im Mutterschoß erweckt, die Philosophie im Wasser. Aber das Meer hat die großen Seetiere nicht – wie die Erde die Pflanzen und Tiere – „hervorgebracht“, Gott hat sie erschaffen. Erschaffen, so wie er die Finsternis erschaffen hat (Jes 457). Haben das Tier aus dem Meer (das Gott erschaffen hat) und das Tier vom Lande (das aus der Erde hervorgegangen ist) etwas mit dem fünften und sechsten Schöpfungstag zu tun?
    Zu den Konstituentien der Außenwelt gehören der Handel und der Krieg, gehört auch das Gewaltmonopol des Staates.
    Der Corpus Christi mysticum ist die Sprache, die heute gekreuzigt, gestorben und begraben und zur Hölle niedergefahren ist. Ist das Inertialsystem (sind die subjektiven Formen der Anschauung) das leere Grab?
    Die Grundlage und der Preis für die Rezeption des Hellenismus war die Opfertheologie, die Objektivierung und Instrumentalisierung des Kreuzestodes.
    Zu den Feuerbach-Thesen von Marx: Ist nicht die Alternative, entweder die Welt zu interpretieren oder sie zu verändern, falsch: Gibt es nicht eine Gestalt der Reflexion, die den Bann der Welt bricht?
    Mit dem Urschisma hat das Christentum die Offenbarung zu einer vergangenen, toten Sache gemacht; hier liegt der Grund für die „Tyrannei der Schrift“.
    Die nur scheinbar durch Rentabilitätsgründe erzwungenen Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen versorgen in Wirklichkeit eine Klientel, die für ihr freies Kapital risikofreie aber rentable Anlagemöglichkeiten sucht. Das paßt in den übermächtigen Trend zur Entpolitisierung der Politik (zur „funktionierenden Demokratie“). In den Metropolen wird nachvollzogen, was in der Dritten Welt schon seit langem sich durchgesetzt hat: Die Politik wird zum Vollzugsorgan der alle Quellen der Macht in sich kontrahierenden Ökonomie, die gegen alle Einrichtungen demokratischer Kontrolle als immun sich erweist.
    Ideal des schlanken Staats: Ein Balletensemble, das nach der Musik, die die Wirtschaft macht, tanzt.
    Das Buch Daniel – und dazu gehören die drei Jünglinge im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube -: das Paradigma der Theologie in der Metropole?
    Das Wasser sammle sich an einem Ort. In der mystischen Tradition des Judentums wurde dieser Satz anders verstanden und übersetzt: Das Wasser sammle sich an dem Ort des Einen (der Einheit). Paßt diese Version nicht zur Ursprungsgeschichte der Philsophie (erster Satz des Philosophie: Alles ist Wasser) und des Begriffs des Universums, der zusammen mit der Organisation des Wissenschaftsbetriebs in den „Universitäten“ sich bildet?
    „Im Munde süß, im Magen bitter“: Verum et unum convertuntur? Ursprung und Programm eines historischen Projekts, bei dem am Ende das Gegenteil herauskommt: Unum est contradictio veri.

  • 27.6.1995

    Instrumentalisierung und Ideologieverdacht: Wer die memoria passionis ins Spiel bringt, müßte die Opfertheologie reflektieren. Die Opfertheologie ist selber Ausdruck des Schuldzusammenhangs, dessen Lösung zu sein sie vorgibt.
    Das Luhmannsche Thema heißt „Faktizität und Geltung“, das Habermassche „Genesis und Geltung“. Darin drückt der ganze Unterschied sich aus. Die Systemtheorie gründet in der Verwerfung der genetischen, der historischen, der Ursprungsdimension; so gleicht sie dem naturwissenschaftlichen, durchs Interialsystem definierten Erkenntniskonstrukt sich an. Die Systemtheorie rückt die Dinge in den Zusammenhang des Verwaltungsblicks, der sie verstummen macht; sie sanktioniert die Abstraktion, die der Verwaltungslogik zugrunde liegt.
    Das Christentum hat aus dem Alten Testament die Theologie herausgeblasen. Grundlage war die These, daß das Gesetz aufgehoben und die Prophetie erfüllt sei.
    Das Inertialsystem begründet und legitimiert den Rachetrieb. Das läßt leicht sich ableiten aus der mit dem Ursprung und der Entfaltung des Inertialsystems verbundenen Subjektivierung der Empfindungen.
    Die Bekenntnislogik (die Logik des „Glaubens“-Bekenntnisses) entspringt aus der Umkehrung des Schuldbekenntnisses. Daraus hat sich die Logik der „Sündenvergebung“ durch Schuldverschiebung, der Exkulpationsapparat, entfaltet. Grundlage war die Herausnahme von Joh 129 aus dem Nachfolgegebot, das theologische Konstrukt, wonach Jesus durch seinen Opfertod „die Sünden der Welt hinweggenommen“ habe: Ihm wurde die ganze Last aufgebürdet, ihm das Joch auferlegt (hierher gehört die Geschichte vom gordischen Knoten).
    „Schriftlichkeit“:
    – „Das Heroische ist immer eine Sache der Erinnerung, d.h. eines ‚Heroischen Zeitalters‘, das per definitionem in der Vergangenheit liegt. Das Epos ist die Form und das Medium ihrer Vergegenwärtigung.“ (S. 8, Einleitung von A. und J. Assmann) – Hinweis auf die Beziehung zur Geschichte der Sprachlogik: auf den Ursprung des Präsens in einer „Vergegenwärtigung“, die in der Vergangenheit gründet? Der Heros als Vorläufer des Substantivs?
    – „In der griechischen Welt hat eine ‚Tyrannei des Buches‘ sich nie ausbreiten können, wie es in der morgenländischen oder der mittelalterlichen Welt geschah“ (ebd., S. 12, Zitat aus Rudolf Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie I, 1978, S. 52). – Hier wäre der Hinweis angebracht, daß zur Erklärung dieses Tatbestandes – wie allgemein zur Bestimmung der „Logik der Schrift“ – die Reflexion auf ihre Einbindung in die Politik, ihre Beziehung zum Ursprung und zur Geschichte des Staates: ihre Verstrickung in die Herrschaftsgeschichte gehört. Die Logik der Schrift ist keine ein für allemal geltende logische Struktur, die Reflexion ihrer Geschichte ist ein substantieller Teil ihrer Erkenntnis.
    – Zu S. 11ff: Die literarische Rede, die „direkte Rede“ in einem Text, gründet nicht in einer „oralen Tradition“, sondern ist rhetorischen Ursprungs, sie ist – wie die Sprache, die mit ihr sich entfaltet – in sich selbst vermittelt. Was aus der oralen Tradition sich entwickelt, ist das Erzählen, nicht die in einer Erzählung zitierte Rede.
    – „Die Schrift ist hier (sz. in der orientalischen Vorgeschichte der griechischen Schrift) in erster Linie ein Instrument organisierender Wirklichkeitsbewältigung und herrschaftlicher Repräsentation.“ (ebd. S. 13) – Unterscheidet sich die griechische davon nicht doch nur durch die Verinnerlichung dieses Organisationsprinzips? Deshalb gehört zum Ursprung der griechischen Schrift die Erfindung der Barbaren, die an diesem zivilisationsbegründenden Akt nicht teilhaben? Die „Diskurse der Macht“ (ebd.) drücken dann in der Sprache selbst als deren grammatische Struktur sich aus (Zusammenhang der Erfindung des Neutrums mit den veränderten Formen der Konjugation, Ursprung des Weltbegriffs).
    – „In dieses (sz. vorgriechische) Schreiben finden ‚mündliche Überlieferung‘ sowie das, was wir ‚Literatur‘ nennen würden, nur sehr beschränkt Einlaß.“ (S. 13f) – Sh. die Bemerkung oben zum Problem der „oralen Tradition“. Hier geht es nicht um das „Eindringen von ‚Oralität‘ in die griechische Schriftkultur“ (S. 14), sondern um deren literarische Reflexion. Und ist nicht „Platons Oralitätskritik“ (die „Verbannung der Dichter aus dem Staat“, S. 15) eher eine Reflexionskritik im Kontext seines autoritären Politikverständnisses?
    – S. 18f: Die Geburt der Seele aus der Logik der Schrift: „As language became separated visually from the person who uttered it, so also the person, the source of the language, came into sharper focus and the concept of selfhood was born“.
    – „Mit der Übernahme der Alphabetschrift … gewinnt der Mensch Verfügungsgewalt über sein Gedächtnis“. (S. 20) – Veränderung des Zeitparadigmas durch Objektivierung der Erinnerung.
    Ein Oralitätsverständnis, das die Schrift nur instrumental, nicht in Wechselwirkung mit der Sprachlogik begreift, ist romantisch. Es verlegt den Sprachgrund in den Volksgeist und gehört zu den Ursachen jener Theorien, die den Ursprung des Indogermanischen nur über indogermanische „Völker“ oder „Rassen“ sich vorstellen kann. Was diese Vorstellungen einmal so plausibel machte, gründete in der Unfähigkeit zur Reflexion der Logik der Schrift.
    Auch die „Tyrannei der Schrift“ ist nicht von außen (über autoritäre Religionen) in die Schrift eingebrochen, sondern sie bezeichnet selber eine Phase der Geschichte der Logik der Schrift. Auch für die Griechen war die Schrift eine Quelle der Macht, und sei es nur der Macht über die eigene Phantasie (wie in der Realität über die Sklaven des Hauses, die Frauen und die Kinder).
    Gegen das romantische Oralitätsverständnis bleibt anzumerken, daß die Völker und ihre Schriften als durchaus unterschiedliche Entitäten sich begriffen: Die Sprache der Hellenen war griechisch, die der Römer lateinisch, die der Israeliten hebräisch. Wie verhielt es sich mit den Ägyptern und den Persern (beides griechische Namen – hier wirkt die Definitionsgewalt des Griechischen nach)? Gibt es eigentlich eine Synopse der antiken Geschichtsschreibung? Wie haben die Ägypter und Perser sich selbst benannt?
    Wo geht das Epos (die Geschichte des heroischen Zeitalters als Gründungsgeschichte der Polis, des Staates) in Geschichtsschreibung (die Geschichte der Könige, Völker, Staaten, der Kriege, der Eroberungen, Niederlagen und Untergänge) über: die Poesie in Prosa, die eine gleichsam außenpolitische Sprachlogik verkörpert? Gehört nicht zur Vergegenständlichung der Geschichte die Reflexion der Beziehung zu den anderen Staaten dazu (Grund der nationalistischen Geschichtsschreibung)?
    Reflex der außenpolitischen Beziehungen zu anderen Völkern und Staaten im Innern ist der Markt, die Agora, der Ort des Ursprungs der Philosophie, Gründungsort des Naturbegriffs (Philosophie als Rekonstruktion des Epos im Kontext dieses Reflexionszusammenhangs: Suche der verlorenen Idee des richtigen Staats, der Philosoph als erinnerter und reflektierter Heros).
    Aus der Logik der Schrift (im Kontext des griechischen Alphabets als kulturelle Revolution) wäre auch die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Mythos abzuleiten, eine Auseinandersetzung, die ihre Zuspitzung in der Rekonstruktion des logischen Kerns des Mythos, der griechischen Schicksalsidee gefunden hatte. Aus der Verinnerlichung des Schicksals, als einzigem Weg, der aus dem Bannkreis des Schicksals herausführte, ist die Philosophie entstanden, zusammen mit der vollständigen Neuorganisation der Objektivität insgesamt, ihrer Rekonstruktion im Kontext der drei Totalitätsbegriffe Wissen, Welt und Natur.
    Die Idee des Schicksals war das gegenständliche Korrelat des erwachenden Selbst in der Logik der Schrift. (Diese Definition hängt mit der Benjaminschen vom Schicksal als Schuldzusammenhang des Lebendigen zusammen.)
    Die Juden haben den Übergang zum Rechtsstaat, die Monopolisierung der Blutrache durch den Staat, nicht vollzogen. Der Mörder wurde bestraft, aber für den, der ohne Absicht einen Menschen getötet hatte, wurden Asylstädte eingerichtet, in denen er vor der Blutrache geschützt war.
    Die Opfertheologie hat Jesus zum Heros gemacht: zum Staatengründer, und das Christentum zur Staatsreligion. Deshalb gibt es zur „Gattung“ Christentum unterschiedliche „Arten“; für das Christentum gilt, was Hegel über die Natur (im Hinblick auf das Verhältnis Gattung und Art beim Tier) gesagt hat: es kann den Begriff nicht halten (auch die Hegelsche Begründung ist auf die Beziehung des Christentums zu seinen Denominationen anwendbar).

  • 25.6.1995

    Anschauungen sind die Anschauungen anderer, die ich mir durchs Bekenntnis zueigen machen kann.
    Beruht die Schwierigkeit der Texte Adornos nicht darin, daß sie nicht in die Flaschen der Anschauung sich abfüllen lassen? Ihr Begreifen hängt davon ab, ob der Funke überspringt oder nicht.
    Anschauungen und Bekenntnisse sind Transformatoren, die das Feuer des Zorns in sein Anderssein: in Wut umwandeln. Die subjektiven Formen der Anschauung haben die Geschichte der Scheiterhaufen, die ein Teil der Bekenntnisgeschichte war, durch Verinnerlichung beendet.
    Alle Anschauungen haben die subjektiven Formen der Anschauung zur Voraussetzung, sie gründen in der Unfähigkeit, sie zu reflektieren. Wenn die subjektiven Formen der Anschauung mit dem biblischen Symbol des Kelchs zusammenhängen, dann verweist der Begriff der Weltanschauung auf den Unzuchtsbecher.
    Die spezielle Realitivitätstheorie rührt an die erkenntniskritische Seite der Naturwissenschaft, die allgemeine Relativitätstheorie rührt an den Grund ihrer Objektivität: an ihre theologische Seite.
    Nur der Geist hat die Kraft, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und, wenn er alle ergreift, den Sumpf trockenzulegen.
    Die Geschichte des Dogmas und ihr Produkt, der katholische Mythos, ist die Geschichte der Umformung des Glaubens in die Form des Wissens; die Beziehung zur Zukunft wird gelöscht, der Glaube unter die Vergangenheitsform subsumiert, sein Inhalt als Himmel, Hölle und Fegfeuer in den Raum projiziert. Diese Geschichte ist die der drei Leugnungen.
    Wie hängt die Angewohnheit Kohls, in angespannten Situationen die Zunge zwischen die Lippen zu klemmen, mit den zusammengepreßten Lippen bei Politikern sonst zusammen? Die Geste erinnert die von Kindern, wenn sie zu Beginn ihr Schullaufbahn das Schreiben üben.
    In einem Brief an seine Frau (Wie Efeu an der Mauer, S. 345) beschreibt Huidobro, wie er zum erstenmal nach über zehn Jahren mit einem anderen, auch eine „Geisel“, zusammen in einer Zelle ist. Er beschreibt es, indem er von den zwei Paar zerschlissenen Schuhen erzählt, die er beim Erwachen morgens vor seinem Bett vorfindet. Das Ergreifende dieser Situation ist, daß die Dinge anfangen zu erzählen, weil sich die Menschen – nach so langer Einsamkeit – noch zu fern sind, um anderen von sich schon erzählen zu können (oder das eigene Leiden noch zu nahe ist; deshalb erbarmen sich die Schuhe und beginnen zu erzählen). Ist der Gedanke so abwegig, daß heute ein ganzes Land, seine Städte und die Wohnungen in diesen Städten nach Kriterien eingerichtet werden, deren Zweck es zu sein scheint zu verhindern, daß die Dinge sich erbarmen und anfangen zu erzählen? Tot ist, wer sich nicht mehr erbarmt.
    Die moderne Definition der Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand macht die Beweisbarkeit zum Kriterium der Wahrheit.
    Der „prinzipielle Ideologieverdacht“ gegen die Autorität des Leidens ist ein Instrument zur Absicherung des modernen Wahrheitsbegriffs. Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand abstrahiert von der Gewalt, genauer: Gewalt ist der blinde Fleck dieser Definition.
    Wenn – ihren Aussagen vor den Ermittlungsbehörden zufolge – keiner der GSG-9-Beamten in Bad Kleinen gesehen hat, daß Wolfgang Grams sich erschossen hat, so ist das fast schon der Beweis, daß es sich nicht um Selbstmord handeln kann: Die Beamten kennen die Folgen einer Falschaussage, deren Widerlegung sie offensichtlich für möglich, wenn nicht für wahrscheinlich halten; deshalb berufen sie sich aufs Nichtgesehenhaben.
    Ist nicht der Jesaias-Satz
    „Ich, der Herr, und keiner sonst, der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bin’s, der Herr, der dies alles wirkt“ (457)
    eine Erläuterung des Schöpfungsberichts, seines Rhythmus von Katastrophe und Rettung (die hier vor der Katastrophe genannt wird, wenngleich die Schöpfungsfolge genau umgekehrt ist)? Wirft dieser Satz nicht ein Licht auf die geschaffenen Dinge (Himmel und Erde, die großen Seetiere und schließlich die Menschen), die zunächst als Katastrophen sich erweisen? Verweist das bara generell auf katastrophische Vorgänge (auf etwas zu Rettendes)?
    Kann es sein, daß in dem „wüst und leer“, „Finsternis über dem Abgrund“ und dem „Geist Gottes über den Wassern“ die dreifache Schöpfung des Menschen (als Ebenbild Gottes, als Sein Bild, als Mann und Weib) sich anzeigt, daß in dieser jene sich spiegeln? Und heißt es deshalb, daß der Mensch aus Erde gemacht ist (aus dem Staub, den die Schlange frißt)?
    Die Totalitätsbegriffe (Wissen, Natur und Welt) sind die Reste des durchschlagenen Knotens, den es zu lösen gilt. Die Zeit der Harmonisierung ist vorbei. Gilt nicht das gleiche auch für die Trinitätslehre, ist nicht auch sie der zerschlagene Knoten, den es zu lösen gilt (wurde nicht der Knoten durch Übersetzung des Imperativs in den Indikativ, durch Übersetzung der Offenbarung vom Hebräischen ins Griechische, zerschlagen)?
    Theologie wird zur Theologie im Angesicht Gottes, wenn man begreift, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen. Und Gott suchen heißt: diesen Imperativ endlich hören zu lernen (Heute, wenn ihr Seine Stimme hört).
    Die Theodizee fällt unter das erkenntnistheoretische Problem der kontrafaktischen Urteile, das Problem, das in Vergegenständlichung des Vergangenen und in der Konstituierung der Geschichte steckt. (Zweck der modernen Wahrheitsdefinition ist es u.a., das Vergangene in die Vergangenheit einzusperren.)
    Die Kritik der Verdinglichung affiziert sowohl den Begriff der Vergangenheit als auch den der Natur.
    Wenn das Wahre der bacchantische Taumel ist, in dem kein Glied nicht trunken ist, dann ist diese Trunkenheit ein logischer Ausfluß der subjektiven Formen der Anschauung (des Kelches).
    Die Theologie hinter dem Rücken Gottes hat die Religion zur Religion für andere, zum Herrschaftsinstrument gemacht. In dieser Konstellation gründet die tiefe Zweideutigkeit der Trinitätslehre, gegen die der Satz von der Sünde wider den Heiligen Geist gerichtet ist.
    Die Übersetzung des Indikativs in den Imperativ führt direkt in das Levinassche Konstrukt (mein Verhältnis zum Angesicht des Andern und die Beziehung beider zum „Dritten“), während der Indikativ auf die durch Herrschaft vermittelte Distanz zum Objekt sich bezieht: auf den historischen Objektivationsprozeß.
    War nicht die Lichtmetaphysik einmal der Versuch, den Baum des Lebens zu rekonstruieren, der seine Wurzeln im Himmel hat und dessen Krone den Trieb in sich hat, auf der Erde sich auszubreiten?
    Die Übersetzung des Begriffs der omnipotentia mit Allmacht ist nicht korrekt, genauer wäre der Begriff des Allesvermögenden. Darauf verweist der Satz, wonach bei Gott kein Ding unmöglich ist. Erst unsere Allmacht hat die potentia von ihrem Sprachgrund getrennt. Erst dadurch ist sie böse geworden (islamisch-christlicher Ursprung des modernen Machtbegriffs). Allesvermögend ist der Retter, der Erlöser, allmächtig, aber das auch nur seinem eigenen verblendeten Bewußtsein nach, ist der faschistische Diktator. Der Preis der Allmacht ist die Paranoia.
    Haben das apokalyptische Tier aus dem Meere etwas mit den großen Seetieren (den Symbolen der Macht) und das Tier vom Lande etwas mit der Schlange in der Paradieses- und Sündenfallgeschichte (Modell des falschen Propheten) zu tun?
    Die memoria passionis, die das unabgegoltene Leiden der Geschichte nicht vergessen kann, sprengt den Bann des Vergangenen, sie verweigert sich der „Versöhnung über den Gräbern“.
    Der Kreuzestod war die Katastrophe, zu der die Rettung noch aussteht; und die Geschichte des Christentums ist die Geschichte der descensio ad inferos.
    Religion für andere, das ist das genaue Gegenteil einer Utopie, in der keiner mehr den andern belehren wird, weil alle Gott erkennen (vgl. Jer 3134).
    Ist nicht die Kirche unfähig geworden, in der Prophetie auch das Gericht über sich selbst zu begreifen?
    Erinnert nicht das Brumliksche „Ausdrucksgeschehen im Gesicht eines anderen“ an eine Videoaufnahme, die Objektivation eines nicht Objektivierbaren, die Übersetzung eines Imperativs in den Indikativ, das Gegenteil des Levinasschen Angesichts?

  • 24.6.1995

    Auch Micha Brumlik verwechselt das Ewige mit dem Überzeitlichen (und damit den Staat mit Gott), wenn er mit Plato die „Ewigkeit“ von Schrift und Bild gegen das flüchtige Wort ausspielt und die Unterscheidung von Philosophie und Prophetie anhand der Unterscheidung von Sehen und Hören als Klischee bezeichnet.
    Was Adorno Verdinglichung nannte, ist durch die Logik der Schrift vermittelt (wie die Kritik der Verdinglichung durch die Fähigkeit, mit den Ohren zu denken).
    Es ist kein Zufall, daß die Universitäten, die die Logik der Schrift nicht nur zur Grundlage der Wissenschaften, sondern über Recht und Theologie auch des Staates und der Kirche gemacht haben, in der Auseinandersetzung mit dem Islam entstanden sind.
    Auch ein Beitrag zur Apokalypse: Ein Jogger mit einem T-Shirt, das hinten den Aufdruck trägt: Neue Welle, neues Erlebnis, neues Gefühl.
    Definitionen des Jogging: Sie laufen nicht, sondern sie werden gelaufen, sie sind in der Regel passionierte Werbeträger. Jogging: Produkt der Vergesellschaftung des Sports (verinnerlichte Einheit von Verein, Sportler und Schiedsrichter); individualisiertes Gemeinschaftserlebnis mit eingebauter Bekenntnislogik.
    Die Idee der Sündenvergebung schließt als Intention die der Änderung des Vergangenen mit ein.
    Gründet die „Autorität der Leidenden“ nicht in der Geschichte und im Symbol des brennenden Dornbuschs?
    Der Satz: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, enthält einen prophetischen Bezug zum Ursprung, zur Geschichte und zur Realität der Verwaltung.
    War nicht das scholastische supranaturalis die Übersetzung der Metaphysik ins Adjektivische?
    Der Satz, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen, verweist auf eine reflektierte Form des Begriffs des Absoluten, er reflektiert das Moment der Asymmetrie in der Idee des Absoluten; der Begriff des Absoluten ist kein universaler Begriff: Das Absolute für mich ist nicht zugleich auch ein Absolutes für andere. Die Unterscheidung von Rind und Esel gilt auch für die Idee des Absoluten. Auschwitz ist die Konsequenz einer Logik, die Last abwirft und sie zum Joch für andere macht. Lassen sich aus dieser Konstellation nicht die Regeln der israelitischen Opfertradition (das Opfer als Auslösung der Erstgeburt), die symbolische Bedeutung von Lamm und Taube, sowie die Differenz zwischen Stier-Opfer und Stier-Kult ableiten?
    Die Bekenntnislogik ist eine Konsequenz aus der Logik der Verdinglichung und Instrumentalisierung. Die Differenz zwischen dem, was etwas an sich, und dem, was es für andere ist: die Differenz zwischen Esel und Rind, Last und Joch, ist unaufhebbar. Totalitätsbegriffe entspringen dort, wo das Produkt der Instrumentalisierung zum An-sich geworden ist, wenn man den Satz „Das Eine ist das Andere des Anderen“ zugunsten des Andersseins auflöst, die Erinnerung an das Eine verdrängt (bei gleichzeitiger Übertretung des Deuteronomium-Verbots, mit Rind und Esel gemeinsam zu pflügen). Hegel ist diese Auflösung nur unter Zuhilfenahme der List der Vernunft und um den Preis der Aufnahme des Scheins in die Idee der Wahrheit gelungen.
    Am Islam lassen die Wurzeln des Fundamentalismus sich erkennen, am Christentum die Früchte.

  • 23.6.1995

    Während die Logik des Weltbegriffs das Bewußtsein ans Vergangene heftet (das Präsens, die wiederhergestellte Unmittelbarkeit, ist durch die Vergangeheitsform, durch Natur und Geschichte vermittelt), findet die prophetische Vision ihren Gegenstand in der vergangenen Zukunft: durch die Kritik von Natur und Geschichte hindurch; deren Medium aber ist der Name, die benennende Kraft der Sprache. Instrument der Bindung des Bewußtsein ans Vergangene sind die subjektiven Formen der Anschauung, ist das Inertialsystem, dessen „Umkehr“ (in der Gestalt des prophetischen, messianischen, parakletischen Denken) Voraussetzung der Rekonstruktion der Sprache ist.
    Das Inertialsystem (der Kelch) ist der Greuel der Verwüstung am heiligen Ort.
    Die Dinge beim Namen nennen: Das heißt, sie im Angesicht Gottes erkennen.
    Der Begriff der Vermittlung bezeichnet selbst im Bereich der Natur einen gesellschaftlichen, keinen natürlichen Tatbestand.
    Das Eine ist das Andere des Anderen. Gegen das Anderssein, das als Sein für Andere sich konstituiert, richtet sich das Wort: Laßt die Toten ihre Toten begraben, ein Wort, dessen herrschaftskritische Brisanz noch zu entdecken ist.
    Die Beziehung der Geschichte der Hexenverfolgung zur Ursprungsgeschichte der Aufklärung gründet darin, daß die Herstellung des Totenreichs nur möglich war bei gleichzeitiger projektiver Verarbeitung und Verschiebung, wie sie der Hexenwahn dann leistete. Der Hexenwahn hat die Basis geschaffen für die Verdrängungsleistung, die dem Erkenntnisbegriff der Aufklärung zugrunde liegt. Als Otto Gericke mit seinem Magdeburger Experiment den horror vacui zu einem physikalischen Phänomen gemacht hat, hat er das darin verborgene logische Problem endgültig verdrängt.
    Hat die naturwissenschaftliche Aufklärung nicht etwas mit dem Duftmarkensetzen des Hundes zu tun?
    Das Eine ist das Andere des Andern: Es geht nicht um das Andere/den Anderen, sondern es geht um das Eine, das hinter dem Anderssein des Andern sich verbirgt. Der Name dieses Einen ist das Fremde.
    Kann es sein, daß in der Vorstellung, im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung seien die Voraussetzungen geschaffen worden für eine Gesellschaft, die der Herrschaft nicht mehr bedarf, die Prämisse falsch ist? Wird hier nicht der Schein, der einer Abstraktion sich verdankt, mit der Nichtexistenz dessen, wovon abstrahiert worden ist, verwechselt? Das Bild vom Absägen des Astes, auf dem man sitzt, trifft den Sachverhalt recht genau.
    Sind nicht Natur- und Umweltschutz Weiterentwicklungen der Schädlingsbekämpfung, nur daß sie an die Stelle der Raupen, Insekten und sonstigen Schädlinge die Menschen setzen, vor denen „die Natur“ jetzt zu schützen sei? Gehört die Logik, die dem zugrundeliegt, und die in Teilen des Feminismus wiederkehrt, nicht zu den Folgen von Auschwitz, zur Logik der vergeblichen Mühen, diese Schuld noch einmal durch Schuldverschiebung und Projektion, durch die man dem Täter-Opfer-Syndrom zu entrinnen versucht, abzuwerfen? Vergessen wird, daß die zu schützende Natur selber bereits dem Schuldverschubsystem sich verdankt: eine Kopfgeburt der Menschheit ist. Fällt nicht auch der Naturbegriff unter die prophetische Kritik des Götzendienstes?
    Die Anbetung des Marktes, der Natur, der Nation, des Rechtsstaats: Sind das nicht alles Emanationen der gleichen Logik der Exkulpation, des Abwerfens der Last der Verantwortung? Vor allem: Auch dieser Kult fordert seine Opfer.
    Mein ist die Rache, spricht der Herr, aber der Rechtsstaat nimmt ihm diese Last ab. Nur: Wie kommt es, daß die DDR-Vergangenheit einen stärkeren Rachetrieb erzeugt hat als die Nazi-Vergangenheit? Und eine Richterschaft, die angesichts der eigenen Beteiligung am Nazi-Terror gegen sich selbst ausnahmslos das „in dubio pro reo“ gelten ließ, kommt von diesem Fluch nicht mehr los und holt heute das Versäumte in der anderen Richtung nach.
    Person und Sache: Jedes Persönliche ist von Sachlichem durchdrungen, und jede Sache ist in Persönliches verstrickt. Die Trennung von Person und Sache ist in letzter Instanz eine grammatische; eine reale ist sie nur auf der Grundlage der subjektiven Formen der Anschauung, im Reich der Erscheinungen. Das läßt sich deutlich machen am Stichwort „Personalkosten“, wie die Trennung von Person und Sache endgültig erst mit der Lohnarbeit, der differentia specifica des Kapitalismus, die in die Ursprungsgeschichte des Staates zurückreicht, sich durchgesetzt hat. Engels‘ Begriff der Utopie, als er glaubte, das Reich der Freiheit auf der Verwaltung von Sachen gründen zu können, wird widerlegt durch die Existenz von Personalabteilungen, ohne die es eine Verwaltung von Sachen nicht gibt. Die 82er Wende war der Sieg einer gesellschaftlichen Logik, der die Einsicht zugrundelag, daß Personalfragen Sachfragen sind.
    Heute, da es scheint, daß das Proletariat seine revolutionäre Kraft endgültig verloren hat, greifen linke Bewegungen immer häufiger auf das Leninsche Avantgarde-Prinzip zurück und suchen in den nationalen Befreiungsbewegungen, die mit der Revolution des Proletariats wenig zu tun haben, ihre Verbündeten. Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, die das Proletariat ersetzen sollen, stehen nicht zufällig in Gefahr, Vorläufer von Militärdiktaturen zu werden. Ähnlich scheint die Gefahr zu sein, in der die Nachfolgestaaten des real existierenden Sozialismus stehen, Folge des parvus error in principio, der seit der Oktoberrevolution ungelösten Frage, ob ein Sozialismus in einem Lande möglich sei.
    Der Weltgeist stand seit je auf der Seite der Instrumentalisierung.
    Heute geht es nicht mehr darum, auf welcher Seite einer steht; die Front ist nicht mehr draußen; und das Scheiden der Schafe und Böcke ist Sache des Jüngsten Gerichts.

  • 22.6.1995

    Zur Geschichte des Bilderverbots: Die Entwicklung von der Judenkarikatur und von der Denunziation zur Sympathisantenhetze entspricht der vom Rundfunk zum Fernsehen. Das fotografierte Bild ist aus seinem eigenen logischen Grunde das Fahndungsbild; das gilt auch für die mediale Präsentation des Gesichts im Fernsehen. Deshalb ist das Angesicht zu unterscheiden vom „Ausdrucksgeschehen der Gesichter anderer Menschen“ (Zitat Brumlik?, vgl. die Rezension Brumliks in der FR von heute). Es geht nicht um „Wege aus dem Bilderverbot“, sondern darum, daß im Angesicht das Bilderverbot sich erfüllt (auch die Logik der Schrift, die in der genetischen Beziehung der Schrift zum Bild gründet, fällt unters Bilderverbot). Das Angesicht und der „Anthropomorphismus“ der Schrift verweisen auf den Sprachgrund der Schrift. Zur Logik der Schrift (und zu den Konstituentien des Weltbegriffs) gehören der Tempel und das Opfer; die Logik der prophetischen Vision hingegen, die im „Leuchten des Angesichts“ sich vollendet, gründet in einem sprachlichen, nicht in einem visuellen Sachverhalt (Ulrich Sonnemann hat einmal gegen die optische, aufs Anschauen verweisende Tradition der philosophischen Tradition auf die Notwendigkeit, mit den Ohren zu denken, hingewiesen): Sie sprengt den Weltbegriff.
    Bemerkung zum Bilderverbot: Das Fahndungs- und das Paßfoto, die mehr miteinander zu tun haben, als uns lieb sein dürfte, leugnen nicht nur das Angesicht, sie machen es unkenntlich.
    Die Autonomie des Subjekts ist allein noch durch die Idee der Barmherzigkeit zu retten, durch die Kraft, die „Autorität der Leidenden“, den Imperativ, der vom realen Leiden ausgeht, nicht mehr verdrängen zu müssen.
    Der Autismus ist die Krankheit des Objekts, das aus dem Bann des Begriffs keinen Ausweg mehr findet.
    Kritik der Unendlichkeit, oder die drei Grenzen des Weltbegriffs: Das Angesicht, der Name und das Feuer.
    Hat die Autorität der Leidenden nicht etwas mit den Attributen Gottes, die Levinas zufolge im Imperativ, nicht im Indikativ stehen, zu tun?
    Die Beziehung von Kant und Hegel läßt sich an ihrem Verhältnis zur Astronomie demonstrieren: Während Kant die kopernikanische Wendung, die Säkularisation des Planetensystems nicht nur akzeptiert hat, sondern zum Kern seines Konzepts gemacht hat, zugleich aber an der Erhabenheit des Sternenhimmels festgehalten hat, hat Hegel diese Erhabenheit des Sternenhimmels neutralisiert und verdrängt, ist jedoch durch seine Kepler-Rezeption in die Nähe des astrologischen Mythos geraten.
    Kann es sein, daß die drei Leugnungen Petri als spiegelbildliche Reflexionen der drei Versuchungen Jesu sich begreifen lassen?

  • 21.6.1995

    Ist nicht die Instrumentalisierung des Leidens – nach der Dialektik der Aufklärung die Verinnerlichung des Opfers – eine der Grundlagen der Zivilisation; liegt sie nicht der Logik des Welt- und Naturbegriffs, der Logik der Trennung dieser Begriffe, zugrunde? Die Geschichte des Opfers (und seiner Objekte: Rind und Esel, Lamm und Taube) rührt an diesen Sachverhalt. Aus diesem Grunde ist Habermas‘ Umformulierung des Adornoschen Konzepts des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ in ein „Eingedenken der gequälten Natur im Subjekt“ Ausdruck einer logischen Verwirrung des Problems, keine Verständnishilfe. Hier liegt der Sprengsatz, den Habermas unter Verschluß halten möchte, um sein Diskurskonzept, die Kommunikationstheorie und insbesondere einen ihrer zentralen Begriffe, den der Intersubjektivität, zu retten. Beide, das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ und der Begriff der Intersubjektivität, können nicht zusammen bestehen. Und hier wird die Metzsche Unterscheidung zwischen dem eigenen und fremden Leid wichtig: die Unterscheidung zwischen Selbstmitleid und Barmherzigkeit, die der Begriff der Intersubjektivität verwischt und, da das nicht gelingen kann, zugunsten des Selbstmitleids (als dessen kollektive Verkörperung z.B. der Nationalismus sich begreifen läßt) vorentscheidet. Adornos Konzept (das der negativen Dialektik insgesamt) setzt diese Unterscheidung voaus, auch wenn es sie nicht thematisiert. Ihre Thematisierung hätte eine Kritik des Naturbegriffs nach sich gezogen, die Habermas geahnt haben mag, als er von der spekulativen Idee, daß die richtige Gesellschaft auch die Natur mit ergreift, unter Verweis auf den Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sich distanzierte. Auch die Objektivität der Natur ist (und ebenso der Begriff der Intersubjektivität, der die These der Objektivität der Natur zur Voraussetzung hat, an sie gebunden ist) nicht unmittelbar gegeben, sie steht unter einem Apriori, dessen Reflexion übrigens vom Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis selber erzwungen wird. Von dieser Reflexion muß Habermas abstrahieren, um sein Konzept zu retten. Das Adjektiv (im Begriff der gequälten Natur), mit dem er Adornos Konzept verfälschte, ist eine Konsequenz aus dieser Abstraktion.
    – Dadurch unterscheidet sich übrigens die Autorität der Leidenden von der naturwissenschaftlichen Objektivität, die in sich selber vermittelt ist, daß sie sehr wohl unmittelbar gegeben ist: Nur weil der Anblick von Leid den spontanen Trieb zu helfen auslöst, ist das Leiden über seine mediale Reproduktion und Vermittlung instrumentalisierbar. Erklärungsbedürftig und in der Tat in sich selber vermittelt ist nicht der Trieb zu helfen, sondern seine Verdrängung, das Wegsehen („Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“).
    Das „Verständigungsapriori“ (in dem Leserbrief in der FR vom 19.6.95) ist die Mauer um ein selbsterrichtetes Ghetto. Es schließt alle, mit denen man nicht kommuniziert, aus. Dazu gehören Rituale, die diesen Ausschluß vollstrecken. Am Leserbrief lassen diese Rituale sich studieren.
    Metz‘ Idee einer Autorität der Leidenden rührt an einen Punkt, der die traditionelle theologische Beziehung von Natur und Übernatur nicht nur präzisiert, sondern im Kern verändert: Sie sprengt den Bann des Naturbegriffs, unter dem nicht nur der „prinzipielle Ideologieverdacht“ des Leserbriefschreibers noch steht, sondern eigentlich die gesamte theologische Tradition, übrigens nicht nur die christliche.
    Die Natur und ihr Begriff stehen unterm Bann des Prinzips der Selbsterhaltung: Darauf bezieht sich das Adornosche Konzept des Eingedenkens, das Habermas zu früh verworfen hat. Der Begriff einer „gequälten Natur“, den Habermas Adorno unterstellt, wäre eine contradictio in adjecto, er bezeichnete in der Tat ein magisches Relikt. Es gibt keine gequälte Natur, weil der Begriff der Natur die Erinnerung ans allein leidensfähige Subjekt apriori ausschließt, aber die Realität des Leidens rührt an den Grund der Natur (wie umgekehrt der Begriff der Natur an den Grund des Leidens).
    „Schiffsbrüchige machen es genau so“ (Rosencof/Huidobro: Wie Efeu an der Mauer, S. 244): Der Satz bezieht sich auf die Geschichte der Menschheit, die in der Katastrophe, als die die „Schöpfung“ sich erweist, ums Überleben kämpft. Nicht die Frage nach den Urhebern der Katastrophe ist wichtig, sondern nur noch die, ob und wie sie sich wenden läßt, ob und wie es möglich ist, ihr zu entrinnen.

  • 20.6.1995

    Der Herr Prof. Dr. Thomas Feuerstein hätte die Fragen in seinem Leserbrief in der FR vom 19.06.95, bevor er sie stellte, nur einmal kurz auf Auschwitz anwenden sollen; vielleicht hätte er dann die Infamie bemerkt, die in Fragen, wie: „Wer leidet zu Recht, wer zu Unrecht? Wer erinnert mit welcher Absicht?“ steckt. Gibt es nicht eine Realität des Leidens, in deren Anblick das „Verständigungsapriori“ zynisch wird?
    Prinzipieller Ideologieverdacht: Ist das nicht eine Definition des Zynismus (und ist nicht der Zynismus die Sensibilität des Paranoikers)? Dazu gehört die aus der Logik des Marktes abgeleitete Vorstellung, von Betrügern umgeben zu sein: der Bettler mit dem Mercedes, die Arbeitslosen, die bloß nicht arbeiten wollen, die Asylanten, die nur an unserem schwer erarbeiteten Wohlstand teilhaben wollen, während Organisationen wie amnesty international, pro asyl, medico internationational nur darauf aus sind, die „Autorität der Leidenden“ zu vermarkten. Der prinzipielle Ideologieverdacht gehorcht einer Logik, die ihrer eigenen Schwerkraft nach dahin tendiert, die Realität des Leidens überhaupt zu leugnen, damit aber – und insofern gehört die memoria passionis zu den Grundlagen der Theologie – die Objektivität der Wahrheit.
    Mit dem bundesanwaltschaftlichen Konstrukt „anschlagsrelevanter Themen“ gewinnen Zynismus und Paranoia Rechtsqualität: Hier wird die Wahrnehmung des Leidens und der öffentliche Hinweis darauf unter strafrechtliche Normen subsumiert, der Ideologieverdacht zum Kriminalitätsverdacht erweitert, die „Autorität des Leidens“ unter Terrorismusverdacht gestellt. (Es gehört zu den „Leistungen“ der raf, diese Logik gefördert zu haben.)
    In welcher Beziehung stehen die drei Versuchungen Jesu zur Verführung durch die Bekenntnislogik (Feindbild, Verrätersyndrom, Frauenfeindschaft)?
    Licht, Schatten und Finsternis gibt es nur fürs Auge. Die Qualität von Licht, Schatten oder Finsternis ist physikalisch nicht einsichtig zu machen, die Physik befaßt sich nur mit den Techniken ihrer Erzeugung.

  • 19.6.1995

    Logik der Schrift: Die Schrift erzwingt die Vergegenständlichung der Einsicht zur Erkenntnis (der Sprache zum Instrument der Mitteilung).
    Leserbrief zu Metz „Religion und Politik …“ in der FR von heute (Prof.Dr.Thomas Feuerstein, FH Wiesbaden):
    – „‚Die Autorität der Leidenden‘ ist nicht unmittelbar gegeben. Stellvertreter dieser Autorität stehen unter prinzipiellem Ideologieverdacht ‚im Lichte‘ diskursiver Vernunft“. Dieser Satz stellt verteidigendes Denken unter Ideologieverdacht („Ihr laßt die Armen schuldig werden“), macht Barmherzigkeit gegenstandslos, verwirft apriori jede Alternative zu der (bis in unsere Naturvorstellungen hinein) vom Selbsterhaltungsprinzip beherrschten Welt. Sie verschiebt den Begriff der Ideologie von der Bezeichnung des Verblendungszusammenhangs auf alles, was diesen Verblendungszusammenhang durchbrechen könnte. Ist nicht schon der Begriff der diskursiven Vernunft ein Instrument des Verblendungszusammenhangs: Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand, weil sie durch diskursive Vernunft nicht bestimmbar ist, weil sie der Beweislogik sich entzieht. (Zu den Grenzen der Beweislogik vgl. Kants Aporien der reinen Vernunft.)
    – Es sollte nicht geleugnet werden, daß auch die memoria passionis instrumentalisierbar ist; nachzuweisen am Christentum, an der Opfertheologie und der damit systematisch verbundenen Orthodoxie (am Dogma und seiner Logik).
    – Der prinzipielle Ideologieverdacht bleibt abstrakt, er verfällt der gleichen Logik, gegen die er sich wendet: Indem er das Problem von der sachlichen auf die Bekenntnisebene verschiebt, macht er aus einer Frage der Einsicht eine Bekenntnisfrage und gehorcht so der gleichen Bekenntnislogik, deren Folgen er kritisiert. So werden das reale Leiden, die Armut wie auch Unterdrückung und Verfolgung durch einen logischen Trick zum Verschwinden gebracht. Der prinzipielle Ideologieverdacht gründet in einem logischen Trick, der die Differenz zwischen der Realität des Leidens und ihrer Instrumentalisierbarkeit selber nochmal instrumentalisiert; dieser Logik zufolge wäre jedem Bettler zunächst einmal zu unterstellen, er habe hinter der nächsten Straßenecke seinen Mercedes stehen (soll er doch das Gegenteil beweisen).
    – Zu reflektieren wäre die Instrumentalisierung des Leidens (liegt hier nicht der Kern der christlichen Opfertheologie und eine der christlichen Wurzeln des Antisemitismus?), und das wäre allerdings in der Tat die Aufgabe einer Theologie nach Auschwitz (wie auch Johann Baptist Metz sie fordert).
    – Ein alltäglicher Ausdruck des „prinzipiellen Ideologieverdachts“ ist der Elternspruch: „Stell dich nicht so an“ (er unterstellt, der Schmerz sei nicht real, sondern nur ein Mittel, damit ein anderes Ziel zu erreichen).
    – Der „prinzipielle Ideologieverdacht“ wird gleichsam zur Schufa der Philosophie; er verringert das Risiko, selber zum Opfer eines Betrugs zu werden, das aber zu dem Preis, daß er das reale Leiden ins Dunkel rückt, es unsichtbar macht. Hier wäre ein Beleg für Metz‘ Hinweis auf die Gewalt des Markt-Apriori auch in der Philosophie.
    – Was hier ins Dunkel gerückt wird, ist schon in den Anfängen der Moderne an einer realprojektiven Verschiebung nachzuweisen: am Begriff des Wilden.
    – Die Diskurslogik hat die Erinnerung an die Theologie bloß abgeschafft, anstatt, wie Adorno einmal die Intention Benjamins zu umschreiben versucht hat, alle theologischen Gehalte restlos zu säkularisieren.
    – Der prinzipielle Ideologieverdacht vermittelt das erhebende Gefühl, über der Sache zu stehen, ohne zu bemerken, daß er damit aus der Sache heraus ist. Er ist in Wahrheit ein Instrument des mitleidlosen Herrendenkens. Im sicheren Bewußtsein, daß dieser Beweis nicht zu führen ist, legt er den Opfern die Pflicht auf zu beweisen, daß sie Opfer sind. Auch so schafft man, wenn nicht eine reale heile Welt, so doch ihren allgegenwärtigen Schein.
    – Gehörte nicht die Sympathisantenjagd im Kontext des Terrorismus zu den manifesten Folgen des prinzipielle Ideologieverdachts: der Unfähigkeit, zwischen dem humanen Impuls der Empathie und ihrer politischen Instrumentalisierung zu unterscheiden? Ist nicht die Geschichte der (auf ihre juristischen Aspekte reduzierten) Auseinandersetzung mit der raf so unendlich mit den verhängnisvollen Folgen dieser Logik belastet (und hat nicht die raf selbst durch ihre Wendung zum Terrorismus diese Folgen mit zu verantworten)?
    Der Metz’sche Versuch, das Konzept einer anamnetischen Vernunft zu entfalten, ist – weiß Gott – nicht schon „gelungen“; er ist weiterhin entfaltungsfähig und -bedürftig. Es ist überhaupt keine Hilfe, diesen Versuch gleichsam apriori abzuwehren. Der prinzipielle Ideologieverdacht (der heute aus sehr tiefen gesellschaftlichen Gründen so nahe liegt, daß er fast durch Reflexion nicht mehr aufzulösen ist) wird zur Quelle der Paranoia, deren erstes Opfer – zusammen mit dem Antijudaismus, der innerkirchlichen Quelle des Antisemitismus – die kirchliche Theologie selber einmal geworden ist.
    In welcher Beziehung stehen die aufbrechenden Nationalismen und die Wendung zu fundamentalistischen Instrumentalisierungen der Religionen (auch dies ein Gegenstand einer politischen Theologie) zum derzeitigen Stand der Geschichte der politischen Ökonomie? (Ursprung der Einen Welt in der Geschichte des Marktes; Zerfall der Souveränität; Übergang von Regierung in Verwaltung, Abgabe von Regierungsaufgaben an die Verwaltung: Übergang der Souveränität an Institutionen wie Bundesverfassungsgericht, Bundesbank, EG, UNO, Weltbank und IWF.)
    Wiederkehr der kantischen Antinomien der reinen Vernunft in der Politik:
    – Die Verwaltung sprengt die Gewaltenteilung (durch Implosion): sie übernimmt zu den ihr obliegenden Aufgaben der Exekutive inzwischen auch die der Legislative und der Jurisdiktion – Angleichung von Rechtsprechung und Verwaltung; Verwaltung als Selbstorganisation des gesellschaftlichen Gewaltpotentials.
    – Verwischung der Grenzen von Innen- und Außenpolitik: Folgen für den Begriff der Gewalt (der nach innen anders definiert ist als nach außen): Läßt sich das Gewaltmonopol des (nationalen) Staates auf internationale Organe übertragen (vgl. den Golfkrieg und die Probleme der UN-Blauhelm-Truppen im Jugoslawienkonflikt).
    – Sonderstellung der Bundesbank und der Weltbank: Dekonstruktion des Prinzips der Gewaltenteilung; Teilhabe eines in der reinen Lehre nicht vorgesehenen Instituts an der Gewalt (an einer Quelle des Gewaltbegriffs: im Falle der Bundesbank im Bereich der Währungshoheit des Staates, der „Subjekt“-Länder; im Falle der Weltbank Eingriff in die Souveränität der „Objekt“-Staaten, der „Entwicklungsländer“).
    – Neonationalismen gründen in dieser Krise des Gewaltbegriffs; sie sind rational und irrational zugleich: Nation als transzendentales Subjekt in einer Welt, die zur Selbsterhaltung keine Alternative mehr kennt.
    – Fortschreitende „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben; Folge der Expansion der Marktlogik in den Bereich der Souveränität; Begriff des Neofeudalismus zu harmlos. Ausdruck der Strukturänderungen im Gewaltbegriff (im „Begriff“: in der Herrschaftslogik des Ganzen wie in der Depotenzierung des Bewußtseins).
    Sprache und Mathematik: Kant hat die Welt als mathematischen, die Natur als dynamischen Totalitätsbegriff definiert; spiegelt sich darin das Verhältnis von Mathematik und Sprache?
    Auffallend, daß Habermas Horkheimers Skrupel hinsichtlich der Neuauflage der Dialektik der Aufklärung als Ausdruck eines offenen Problems verdrängt, sie statt dessen als „Beweis“ dafür nimmt, daß die Dialektik der Aufklärung überholt sei. Er nutzt Horkheimers Skrupel als Mittel der Neutralisierung der Dialektik der Aufklärung anstatt als Impuls ihrer Weiterentwicklung.

  • 18.6.1995

    Das den Kindern schon früh eingebläute Gebot: Du sollst nicht lügen, galt eigentlich nur im Hinblick auf die Eltern und in deren Vertretung auf die übrigen Autoritäten: den Pfarrer, die Lehrer und sonstige Obrigkeiten. Der Respekt vor der Obrigkeit bestand im Kern darin, daß sie die Adressatin dieses Gebotes war. Aber war nicht diese Version des Gebots, die praktisch galt, aber nie so deutlich formuliert wurde, der genaueste Ausdruck der eigenen Instrumentalisierung, die einem mit diesem Gebot eingebläut wurde, und war diese Version des Gebots nicht der Grund der in der Nazizeit so weit verbreiteten Praxis der Denunziation?
    Gegenüber den außerfamiliären Autoritäten galt das Verbot allerdings mit einem Vorbehalt: Diese Autoritäten repräsentierten die Außenwelt, und ihr gegenüber war es unter Umständen wichtiger, den Schein zu wahren. Die Wahrheitsliebe durfte nicht soweit gehen, daß man der eigenen Familie schadete oder sie blamierte. Das löste bei Kindern nicht selten Schamkonflikte aus, wenn z.B. die Eltern draußen sich anders verhielten als im Innern der Familie, dort die eigenen Normen nicht einhielten. Es gab Situationen, in denen man sich der Eltern schämte. Hängt nicht der Erfolg der Sozialisierung insgesamt an der Lösung dieser Schamkonflikte und an der Stabilisierung dieser Lösung?
    Hat der Rhythmus von Katastrophe und Rettung, der schon in der Einleitung des biblischen Schöpfungsberichts deutlich markiert wird, auch etwas mit dem Ursprung und der Logik der Sprache zu tun? Und ist nicht die Beziehung von Mythos und Philosophie eine Parodie des Offenbarungsrhythmus, deren verhängnisvolle Folgen am Christentum sich studieren lassen.
    Es sollte Anlaß zur Zurückhaltung sein, wenn man sich erinnert, daß es die Dämonen waren und dann auch Petrus, zu dem er an anderer Stelle sagt „Weiche von mir Satan“, die Ihn als den Sohn Gottes erkennen? – Stand dieser Titel unter dem Bann der Logik der Schrift, aus dem er mit der Erfüllung des Worts befreit werden wird? Gilt für diesen Titel nicht auch die Warnung des Jeremias: „Verlaßt euch nicht auf täuschende Worte wie diese: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist hier“ (74)?
    Nicht die Trinitätslehre ist entscheidend, sondern die Nachfolge, es sei denn, wir begreifen endlich die Bedeutung der Trinitätslehre im Kontext des Nachfolgegebots (ihre imperativische Bedeutung, zu der insbesondere das Wort von der Sünde wider den Heiligen Geist gehört).
    Zu Rosenzweigs Übersetzung „Geist Gottes brütend über den Wassern“: Kann es sein, daß der Geist die Gebärmutter/Barmherzigkeit verkörpert, in der das Reich Gottes ausgetragen wird? Vgl. auch das Wort von den „messianischen Wehen“.
    Woher kommt eigentlich und was bedeutet der Begriff Plusquamperfekt? Ist das Plusquamperfekt das durchs Futurum perfectum vermittelte Perfekt? Drückt sich in der Folge: Ich habe gehabt, ich werde gehabt haben und ich hatte gehabt, nicht eine Stufenfolge der Reflexion aus (ähnlich in: ich bin gewesen, ich werde gewesen sein und ich war gewesen)? Das Perfekt ist Ausdruck der abgeschlossenen Vergangenheit, das Plusquamperfekt: da ist auch die Erinnerung dieser abgeschlossenen Vergangenheit schon vergangen und abgeschlossen. – Das Plusquamperfekt: die grammatische Verkörperung dessen, was der jungen Christenheit die eigene „heidnische“ (mythische) Vergangenheit bedeutete? Das Christentum hat die eigene mythische Vergangenheit zur (vollständig verdrängten) Vorgegangenheit gemacht, um sich in der Gestalt Jesu das in ihm reflektierte Israel als neue Vergangenheit aneignen zu können.
    Ist es nicht fast symbolisch, wenn ein Gesamtschuldirektor seine Absicht bekundet, nach seiner Pensionierung Ägyptologie zu studieren (die Geschichte des Sklavenhauses)?
    Drinnen und draußen: Zum Faschismus gibt es kein Draußen; wer sich äußerlich (als Feind) zu ihm verhält, steckt schon drin. Die einzige Kraft, die die des Faschismus aufzulösen vermag, ist die der Reflexion. Deshalb gibt es keine „liberale Substanz“ der Politik ohne die „negative Bürgschaft“ durch die totalitären Systeme (vgl. Metz‘ Bemerkung zu H. Dubiel in seinem Essay „Religion und Politik auf dem Boden der Moderne“, FR vom 10.06.95). Es ist schlechterdings undenkbar, sich den Faschismus als real vergangen vorzustellen. Es gibt keine „Gnade der späten Geburt“. Der Faschismus ist das, was der Mythos für die junge Christenheit war, ein Plusquamperfekt, das nicht vergehen kann.
    Heute ist die Verwechslung von Komplizenschaft und Solidarität unvermeidbar geworden.
    Warum gibt es keinen Primo Levi der raf, warum gibt es keinen Huidobro und Rosencof der raf? Und warum ist der Primo Levi des Stalinismus, Solschenizyn, der den Bericht über den Archipel Gulag geschrieben hat, zum Faschisten geworden?
    Sind die drei Jünglinge im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube Symbole der Politik?
    Ist Habermas‘ Begriff der Moderne nicht ein Bekenntnisbegriff, den es ohne die Häresie der Postmoderne nicht geben würde?
    „Religion und Politik auf dem Boden der Moderne“: Die Moderne ist zwar der Boden der Politik, für die Religion aber Reflexionsgegenstand, nicht ihr Boden. Und wenn Boden: Was liegt unter diesem Boden, worauf stützt er sich? Die Selbstbegründung der Moderne, der Akt, mit dem sie von ihrer Vergangenheit sich absetzt, hat selber ihre verborgenen theologischen Wurzeln.
    Es gibt falsche Zeugen, falsche Eide, falsche Propheten; aber den Nathanael nannte er einen „wahren Israeliten, ohne Falsch und Tadel“. (Wie ist es mit den falschen Zeugen im Verfahren der Hohepriester gegen Jesus, in welchem Sinne war ihr Zeugnis falsch: Verwechslung der Realitätsebene mit der des Symbols?)
    Rührt nicht das Verständnis des achten Gebots (das Verhältnis des falschen Zeugnisses zur Lüge) an ein Problem der Sprache?
    Gibt es nicht den Begriff der Lüge überhaupt erst im Neuen Testament (im Kontext der Gestalt des Teufels, der Dämonen, der unreinen Geister)? – Verhält sich der Teufel zum Satan wie die Lüge zum falschen Zeugnis? – Vgl. die Versuchungsgeschichte Jesu bei
    – Mt: Versuchung durch den Teufel, drei Versuchungen, „Hinweg Satan“, „da verläßt ihn der Teufel, und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm“ (41-11),
    – Mk: Versuchung durch Satan, und „er war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm“ (112-13),
    – Lk: wie Mt, andere Reihenfolge, ohne das „Hinweg Satan“, „und nachdem der Teufel alle Versuchungen vollendet hatte, stand er von ihm ab bis zu gelegener Zeit“ (41-13)
    Nur wenn die Welt durchs Wort erschaffen wurde, ist sie erlösbar. Sind nicht alle naturwissenschaftlichen Weltentstehungestheorien Versuche, die Erinnerung an das Jüngste Gericht aus der Welt zu schaffen? – Wie verhält sich die Lehre, daß die Welt durchs Wort erschaffen wurde, zur Lehre von der creatio mundi ex nihilo?

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie