September 1995

  • 30.9.1995

    Verdacht und Unterstellung sind Mittel der politischen Auseinandersetzung, zu deren Prämissen die Erfahrung gehört, daß Politiker nicht die Wahrheit sagen, daß man auf die Wahrheit erst stößt, wenn man die Reden der Politiker auf die politische Realität und die darin wirksamen realen Interessen bezieht. Die Tauschwert-Metaphorik ist ein Hinweis: Die realen Ziele und Interessen sind Waren, in deren Kontext politische Reden zur Reklame werden, mit deren Hilfe diese Waren allein sich verkaufen lassen. Die Unterscheidung von Information und Meinung ist durchs Tauschprinzip vermittelt. Sie begründet und beschleunigt einen Prozeß, in dem am Ende niemand mehr weiß, was er tut.
    Leer, gereinigt und geschmückt: Meinungen verzichten darauf einzugreifen, sie kommentieren nur.
    Hat das Wort am Kreuz: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, nicht eine gewaltige prophetische Kraft, die sich andeutet im letzten Vers des Buches Jona, in dem Wort von den 120000, die „Rechts und Links nicht unterscheiden“ können? Liegt nicht eine der tiefsten Bedeutungen des Kreuzestodes darin, daß es alle, die sich nicht unters Nachfolgegebot stellen, weil sie die instrumentelle Nutzung des Kreuzestodes im Kontext der Opfertheologie nicht aufgeben wollen (die den Imperativ hierin nicht erkennen): daß es das ganze geheuchelte Christentum in dieses Nichtwissen verstrickt? Ist nicht das Kruzifix, das nekrophile Symbol derer, die ihn immer wieder ans Kreuz nageln, der genaueste Ausdruck dieser Verstrickung?
    Mein ist die Rache, spricht der Herr: Die Wahrheit der Theologie läßt sich an ihrer Beziehung zur Rache erkennen: Während die Religionen den Rachetrieb instrumentalisieren (die Bekenntnislogik und ihr apriorisches Objekt, das Feindbild, gründen in dieser Instrumentalisierung der Rache), ist die Auflösung des Rachetriebs in der Erkenntnis des Namens Gottes ein Gradmesser der theologischen Wahrheit.
    Orthographie als Instrument der Anpassung und Disziplinierung: Wird nicht die Ausdrucksfähigkeit der Sprache, ihr intelligibles und kreatives Potential, eingeschränkt, wenn sie Regeln unterworfen wird, die nicht aus der Sache sich herleiten, sondern aus dem beschränkten Verstand der Pädagogen? Die berüchtigte Deutschlehrerfrage „Was hat der Dichter sich dabei gedacht“, die jedes Interesse an der Literatur austreibt, beweist nur noch, daß ein Bewußtsein von einer eigenen Kraft, einem eigenen Wesen und einer eigenen Logik der Sprache, in denen ihre Fähigkeit, die Sache zu begreifen und auszudrücken, begründet ist, aus dem Unterricht längst vertrieben und entwichen ist. Die „Rechtschreibreform“ wird erst dann eine sein, wenn sie die Rechtschreibung, die Grammatik wie auch die Orthographie, endlich der experimentellen und kreativen Nutzung durch die sich bildende Intelligenz der Schüler freigibt. Grammatische Regeln, die als äußerliche Normen auf die Sprache sich beziehen, lassen sich heute nur noch formulieren, wenn zugleich die eigene Logik der Sprache unterdrückt und verdrängt wird. Sie sind ein Mittel, die Erkenntnis, auf die es ankäme, zu verhindern.
    Gibt es nicht Hinweise darauf, daß die gegenwärtige Sprachforschung (die Linguistik) ihre Hauptaufgabe darin zu sehen scheint, die sprachhistorischen Probleme der Grammatik (das Ursprungsproblem des Begriffs) und die sprachlogischen Probleme des Wortes (das Problem der Logik des Namens) zu verdrängen?

  • 29.9.1995

    Wodurch unterscheidet sich die Tatsache vom Faktum? Das Faktum ist das Gemachte (factum), es verweist auf des Machen Gottes, einen Aspekt seines Schöpfungshandelns. Die Tatsache ist gleichsam eine hybride Form der res factae, das mythische Gegenstück hierzu: In der unerschaffenen Welt, die außerhalb jeder Beziehung zum Handeln Gottes sich konstituiert, gibt es nur noch die weltkonstituierenden Taten der Heroen (die Taten des Herakles).
    Tatsachen konstituieren sich in einer atheistischen Welt.
    Der Tempel unterscheidet sich von der Kirche dadurch, daß er nicht das Haus Gottes, sondern das Haus seines Namens ist, während die Kirche, die den verdinglichten Gott in ihren Mauern zu besitzen glaubt, sich selbst einen Namen machen muß, So ist sie zum „Turm, der bis an den Himmel reicht“, geworden. Der Pomp (die Adaptation der Herrlichkeit) ist das zwangsläufige Korrelat des eigenen Namens.
    Ist nicht die Herrlichkeit Gottes der Schrecken Isaaks? Isaak, Samuel und Johannes dem Täufer ist es gemeinsam, daß sie Kinder der Unfruchtbarkeit (Kinder, die ihren Eltern im Alter geboren wurden) sind. Isaak ist das aufgehobene Opfer, Samuel der Eröffner des Königtums in Israel und Johannes das Opfer des letzten Königs und der Vorläufer des Messias.
    Geschichtsphilosophie ist das Produkt der Übersetzung der Schrift in den Indikativ: Ihr entspricht die Zwangsvorstellung, es gebe einen Plan der Geschichte, eine „Heilsgeschichte“ (eine „Vorsehung“, die, indem sie das Prinzip der Geschichtsschreibung gleichsam nur umkehrt das Unglück der Geschichte nicht aufhebt, sondern es perpetuiert). Aber die Geschichte hat keinen Plan, zu ihren Elementen gehört der Zufall. Auschwitz war nicht „notwendig“, kein Teil eines „göttlichen Heilsplans“, sondern ein Werk des „Zufalls“ in der Geschichte, dessen Kräfte allerdings selber bestimmter geschichtlicher Bedingungen zu ihrer „Freisetzung“ bedürfen. Zu diesen Bedingungen gehören insbesondere Formen des Handelns, die von der inneren Notwendigkeit des Handelns (von der Verantwortung, von der Moral, die sich von selbst versteht) sich emanzipiert haben, die sich selbst zu einem Instrument des Zufalls gemacht haben. In die christliche Tradition ist der Zufall unter dem Namen des liberum arbitrium (der Wahlfreiheit) eingangen.
    Der Sabbat wird mit dem siebten Schöpfungstag und dem Exodus begründet: Bezieht sich der Satz, daß der Menschensohn „Herr des Sabbat“ ist, auch auf diesen Begründungszusammenhang?
    Der Bogen in den Wolken setzt den Wassern eine Grenze und eröffnet dem Feuer den Weg (vom brennenden Dornbusch über das Feuer vom Himmel zu den Feuerzungen des Geistes).
    Was haben die Wolken (in denen nach der Sintflut der Bogen erscheint) mit den Wolken, auf denen der Menschensohn erscheinen wird, und mit den Wolken der Zeugen zu tun (oder was haben der Bogen, der Menschensohn und die Zeugen miteinander zu tun)?
    Bezeugen kann man nur Vergangenes, eine Tat, eine Handlung, ein Geschehen. Hat die „Wolke der Zeugen“ (Hebr 121) etwas mit dem Begriff der Geschichte zu tun? Ist die im Spiegel ihrer Zeugnisse vergegenständlichte Geschichte die Wolke, in die nach der Sintflut der Bogen gesetzt ward und auf der der Menschensohn am Ende erscheinen wird?
    Haben die Wolken des Himmels etwas mit dem Geist über den Wassern zu tun?
    Haben die Donner (deren Stimme in der Apokalypse nicht ins Buch mit aufgenommen werden soll, aber auch die „Donnersöhne“, die Zebedäus-Söhne) etwas mit dem Brüllen JHWHs zu tun?

  • 28.9.1995

    Liegt das Problem der Theologie heute nicht darin, daß in einer Gesellschaft, in der man keine Fehler mehr machen darf, Mitleid als Diskriminierung (als Hinweis auf einen unentschuldbaren Mangel) erfahren wird? Das unterscheidet Gott von der Idee des Absoluten: daß ihn eigene Handlungen „gereuen“. Gott ist lernfähig und nicht „allwissend“. Daß Gott etwas gereut, gehört zu den Attributen, die im Imperativ stehen.
    Abraham argumentiert im Falle Sodom mit Blick auf die göttliche Gerechtigkeit, Moses, beim Exodus, im Hinblick auf das Ansehen: Was werden die Ägypter sagen?
    Die Geschichte der Vergesellschaftung von Herrschaft ist die Geschichte der Sünde der Welt. Deshalb ist die Theologie, die Joh 129 aus dem Nachfolgegebot herausnimmt (mit der Vergöttlichung Jesu und der Entsühnung der Welt), Herrschaftstheologie.
    Auch in der Theologie hat Griechenland Rom (die Orthodoxie dem Katholizismus) vorgearbeitet: Die griechische Sprache ist vordogmatisch (vorimperialistisch), die lateinische nachdogmatisch (imperialistisch); die griechische Sprache ist die Sprache des Ursprungs und der Entfaltung des Dogmas, die lateinische die seiner Instrumentalisierung. Nur in diesem Kontext werden die Differenzen zwischen natura und physis, mundus und kosmos, und zusammen damit die grammatischen Neukonstruktionen des Lateinischen (paradigmatisch: Plusquamperfekt und Futur II) durchsichtig. Besiegelt wird die Differenz, die ihr Zentrum in der Trinitätslehre hat, durch die Übersetzung von homousia mit consubstantialis. Umgekehrt: Erst die genaue Bestimmung der grammatischen Differenzen (zu denen der Natur- und Weltbegriff als Schlüsselbegriffe dazugehören) macht die lateinische Trinitätslehre (mit dem filioque) durchsichtig.
    Die dies dominica ist der achte Tag (der „Tag des Herrn“), der noch nicht eingetreten ist, im Sonntag nur antizipiert wird. Was bedeutet es, wenn es heißt, daß der Menschensohn auch Herr des Sabbats ist?
    „Tatsache“, „in der Tat“: Wodurch unterscheidet sich die Tat vom Handeln? Ist die Tat das Plusquamperfekt des Handelns? Wie verhält sich der Begriff der Tat zum Begriff der Welt. Eine „gute Tat“ ist eine Tat vor aller Welt. Es gibt die weltbegründenden Taten des Herakles (das Buch der Richter ist eine Parodie darauf). Das Handeln setzt die Welt voraus, die Tat begründet eine Welt. Taten sind geschichtsbegründend (deshalb gibt es Heldentaten), sie konstituieren und reflektieren den Blick des Historikers, des Nachgeborenen. Tatsachen entspringen dort, wo der Blick des Historikers die Gegenwart mit einbegreift (und durchdringt: ihren Begriff konstituiert). Die Vorform des Empirischen war das Historische. Tatsachen sind zusammen mit den Dingen entsprungen; beide sind Abkömmlinge der Sachen, die in Taten gründen.
    Tatsachen (das gegenständliche Korrelat des Indikativs) werden in der Schrift durch „Dornen und Disteln“ symbolisiert; sie gehören zu einem Begriff der Welt, der durch Gewalt und durch Herrschaft von Menschen über Menschen sich definiert, der unser Bewußtsein und unsere Erfahrung determiniert, durchdringt und beherrscht. Tatsachen bilden sich in einem Raum, zu dessen Konstituentien auch das kontrafaktische Urteil gehört, in dem auch alles hätte anders gewesen sein können und Taten die Ursache sind, daß die Dinge so gewesen sind wie sie waren. Tatsachen gehören zum Begriff der instrumentalisierten Welt, die für alle subjektiven Ziele offen ist, soweit ihnen keine „Tatsachen“, Verkörperungen der Macht und der Ziele anderer, entgegenstehen; sie gehören zu einer Welt, die der Phantasie keine Grenzen zu setzen scheint, in der man sich alles auch ganz anders vorstellen kann. Am Widerstand der Tatsachen entzündet sich das Reich der Phantasie: die Kunst, die diesen Widerstand allerdings bloß spiegelt, nicht bricht. Gebrochen wird dieser Widerstand durchs Wunder, die Erfüllung des Worts.
    Tatsachen entspringen gemeinsam mit dem Bewußtsein (mit der Konstituierung des Unbewußten und seiner Trennung von ihm) und mit dem Staat. Sie sind nicht naturgegeben, sondern das gemeinsame Resultat eines langen und schmerzhaften, eines katastrophischen Prozesses.
    Die natürlichen Objekte des kontrafaktischen Urteils sind neben der politischen Geschichte die Objekte des Geschwätzes (des moralischen Urteils; die Urteilsmoral, deren verdinglichte Gestalt die bei Politikern so beliebte Wertethik ist, ist der private Anwendungsbereich des kontrafaktischen Urteils).
    Der Indikativ (die transzendentale Logik) definiert den Inhalt des Kelches (der subjektiven Formen der Anschauung), der Kelch konstituiert den Indikativ. Ist der Kelch der Reflex des Himmelsgewölbes im Subjekt? Worauf bezieht sich dann das Bild des offenen Himmels?
    Das kontrafaktische Urteil ist das Pendant des Raumes, in dem die kopernikanische Theorie sich bilden konnte. Die Logik der mathematischen Naturwissenschaften, die in den subjektiven Formen der Anschauung und in der Form des Inertialsystems sich entfaltet ist die Kehrseite der Logik des kontrafaktischen Urteils.

  • 27.9.1995

    Nur Gott sieht ins Herz der Menschen. Für uns (im Kontext der urteilenden Erkenntnis) sind die Dinge, wie sie an sich sind, unerkennbar. Hängt das nicht damit zusammen, daß sich unsere, an die subjektiven Formen der Anschauung gebundene, objektivierende Erkenntnis von der göttlichen Erkenntnis wie das Gericht von der Barmherzigkeit unterscheidet? Der Heilige Geist ist der Inbegriff der von der Barmherzigkeit geleiteten (der parakletischen: nicht urteilenden, sondern verteidigenden) Erkenntnis, und insoweit eine Einübung der göttlichen Erkenntnis.
    Zur Sünde wider den Heiligen Geist (Erinnerung an den Imperativ der Gnade): Ist nicht die Sündenvergebung ans Sündenvergeben (sicut et nos dimittimus …) gebunden?
    Auch die Barmherzigkeit urteilt, aber sie verurteilt nicht. Die Unheilssprüche der Propheten stehen insgesamt unter dem Vorbehalt, daß Gott barmherzig ist, daß keines seiner Urteile nicht auch revidierbar wäre. Und es gereute Gott …: Worin zeigt sich die Reue Gottes? In unserer Umkehr. Die Idee des Absoluten steht im Banne einer Logik, die diese Umkehr nicht kennt. Die Sprengung dieses Banns ist der Beginn der Gotteserkenntnis.

  • 26.9.1995

    Wie die subjektiven Formen der Anschauung, die persönliche Meinung, insbesondere aber wie die Gemeinheit konstituiert sich das Vorurteil im Kontext einer Logik, die die Kriterien der Beweisbarkeit durch die der Unwiderlegbarkeit ersetzt. Wer dieser Logik mächtig ist, gilt als schlau (oder auch als intelligent).
    Die subjektiven Formen der Anschauung haben sich hinter dem Rücken des Anschauens, als Referenzsystem der intentio recta, gebildet: Sie sind die Bewußtseinsspuren des Abstraktionsverfahrens, in dem der Begriff der Natur und der Objektbegriff sich bildeten. Das Abstraktionsverfahren selber ist ein gesellschaftliches: Sein Ursprung und sein Motor ist die Herrschaftsgeschichte, deren Beziehung zur Vergangenheit in ihm sich spiegelt. Die Distanz zum Objekt aber gründet in der Beziehung des Herrn zum Beherrschten; der Objektbegriff entspringt mit dem Für-anderes-Sein, in dem die Beziehung des Herrn zum Beherrschten als universale Reflexionsbeziehung sich entfaltet. Die Allgemeinheit dieser Reflexionsbeziehung wird im Weltbegriff zusammengefaßt.
    Die Differenz und die Beziehungen zwischen Mechanik, Gravitation und Elektrodynamik reflektieren das Verhältnis und die Beziehungen der drei Dimensionen des Raumes.
    Zum Bereich der Elektrodynamik gehört der Generator und die Fortpflanzung.
    Unser Verhältnis zur Krankheit ist wie das zur Armut von Elementen des Neids und der Schuldverschiebung durchsetzt. Keiner erträgt mehr, daß hier jemand Mitleid von uns fordert. Wir sind vom Selbstmitleid so besessen, daß wir kein anderes Mitleidsverlangen daneben mehr ertragen.
    Die Frage: Wo waren die Schutzengel der Kinder in Auschwitz, läßt sich mit dem Hinweis auf die Racheengel beantworten, von denen die Welt heute besessen ist. Wie anders wäre der unendliche Rachetrieb zu erklären, dem die Menschen heute sich ausliefern?
    Ist der Widersacher im Hofstaat Gottes der Engel der Geopferten?
    Als umgekehrtes Schuldbekenntnis ist das Glaubensbekenntnis die säkularisierte Sündenvergebung; nur so ist die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben zu begründen. Aber sind damit der Glaube und sein (durchaus apriorischer, aus seinen eigenen Prämissen ableitbarer) Inhalt nicht erst wirklich böse geworden? Die Logik dieser Lehre ist nur aufzubrechen durch die Aufnahme von Joh 129 ins Nachfolgegebot, zu der es keine Alternative mehr gibt.
    War nicht die katholische Eucharistielehre eine Gestalt der projektiven Verarbeitung dieses Nachfolgegebots? Die erste Gestalt dieser Verarbeitung war das Dogma, die Bekenntnislogik.
    Nicht den Zölibat „abschaffen“, sondern das Problem, das ihm zugrundeliegt reflektieren, es auflösen ins Weltproblem.
    Die Bemerkung, daß man sich zur Prophetie nur auf zwei Weisen verhalten kann: Entweder man ist selber Prophet, oder man ist ihr Objekt, gilt auch für die Historisierung der Prophetie, ihre Vergegenständlichung: Durch sie wird die Theologie, ohne es selbst wahrzunehmen, selber zum Objekt des prophetischen Urteils. Zur Aufforderung, selber Prophet zu werden, gibt es keine Alternative.
    Die benennende Kraft der Sprache ist von der Erkenntnis des Namens zu unterscheiden. Erst in der Erkenntnis des Namens löst der Name sich aus dem Schuldzusammenhang, in den das Benennen sich verstrickt. Das Benennen der Tiere durch Adam war durchaus ambivalent: „Aber für den Menschen fand er keine Hilfe, gegen ihn“ (Gen 220).
    Hat das Benennen der Tiere etwas mit dem Tierkreis zu tun, und das kreisende Flammenschwert des Kerubs mit dem Planetensystem? Liegt zwischen Tierkreis und Planetensystem die Vertreibung aus dem Paradies?
    Ist das Planetensystem das Prisma, das das Bild des Tierkreises erzeugt?
    Der astrologische Zusammenhang der Zeichen des Tierkreises mit den Namen der Planeten war das erste weltkonstituierende Kategoriensystem, das im ersten weltkonstituierenden Großreich, in Babylon, sich gebildet hat.
    Hat das Schwert des Alexander, mit dem er den gordischen Knoten durchschlagen hat, etwas mit dem kreisenden Flammenschwert des Kerubs zu tun?
    Babylon hat das Exil der Schechina begründet, und die Geschichte dieses Exils ist noch nicht zu Ende. Babylon lebt fort in Rom, in jeder Form des Caesarismus, im Dogma, in der Kirche.
    Welchen Stellenwert haben die exterritorialen Geschichten der Bibel: Das Buch Hiob ist nicht zu lokalisieren (es spielt irgendwo im Eroberungsbereich der Chaldäer), zu Jona gehört Ninive, zu Daniel Babylon (und Susa), zu Ester Susa?
    Abraham, der aus Ur in Chaldäa kommt, ist auf eine Weise mit Babylon verbunden, die sich invers auf das Verhältnis Josephs zu Ägypten bezieht. Hängt das Rätselwort Jesu: „Bevor Abraham ward, bin ich“, hiermit zusammen?
    Waigel: Wie hängt das Kruzifix mit der Währungsstabilität (mit der positiven Außenhandelsbilanz: dem Export der Armut in die Dritte Welt) zusammen?
    Apokalyptische Mittelstandspolitik: Der Staat füttert die Kuh, die er melken will, er schlachtet sie nicht. (Gibt es einen Zusammenhang mit dem hebräischen Opfer, liegt hier der Schlüssel fürs Verständnis der Opfertiere: Rind, Widder, Lamm, Taube?)
    Der Indikativ ist das Instrument der Verinnerlichung des Opfers und der Vergesellschaftung von Herrschaft. Das Opfer war seit je herrschafts- und somit weltbegründend.

  • 25.9.1995

    Jesus hat die Feindesliebe gelehrt, aber das Christentum hat dazu das Feindbild erfunden. Mit der Bekenntnislogik sind die Elemente des Feindbildes entfaltet worden: der unmittelbare Feind, der Verräter (der Sympathisant) und die Gesamtheit dessen, was unten ist (die Armen, Schwachen, Behinderten, die Unterdrückten und Ausgebeuteten, die Frauen).
    Judas war der Prototyp des individualisierten Feindes, mit dem Verrat als Individuationsprinzip. Was bedeutet der Beiname Iskariot? – Judas war nicht listig, eher ein Verräter aus ehrenhaften Motiven, am Ende ein Verzweifelter: er handelte zwar zunächst hinter dem Rücken, dann aber im Angesicht und auf offener Bühne. Die Personalisierung der List, die hinter dem Rücken und im Dunklen agiert: das Objekt paranoischer Herrenängste, Grundmodell aller Verschwörungsängste, gehört zur germanischen Mythologie (und ist in deren Kontext zum „Teufel“, der ursprünglich etwas anderes bezeichnete, geworden).
    Feindbild und Ghettobildung: Die Bekenntnislogik ist der Grund der Weltanschauungsghettos.
    War nicht das jesuanische Gebot der Feindesliebe eine Fortbildung des Gebots, die Fremden zu achten (und die Figur des Feindes die bekenntnislogisch fortgeschriebene Figur des Fremden)?
    Das Glaubensbekenntnis als Umkehrung des Schuldbekenntnisses verschiebt die Umkehr aus dem Bereich des Handelns in den der „Überzeugungen“.
    „Standort Deutschland“: Der Schluß, der aus den schon ein wenig konfusen Reflexionen Noam Chomskys zu ziehen wäre, liegt, wie mir scheint, darin, daß die Symbiose von Politik und Ökonomie nicht mehr aufzubrechen ist. Das Handeln der Regierungen hängt nicht mehr von der Zustimmung der Bevölkerung (z.B. von einer Politik der Beschäftigungssicherung), sondern von der Teilhabe des Staates an den Umsätzen und Gewinnen der Großunternehmen und von der Ausfuhrbilanz der Industrie ab. Indikator der Handlungsfähigkeit ist nicht zufällig die Geldwertstabilität. Gegen diesen Realitätsblock, an dem jedes Raisonnement abprallt, wird Öffentlichkeit in zunehmendem Maße funktionslos, ohnmächtig und hilflos, nützlich nur noch Tranquilizer, dessen wirksamste Form immer schon der Nationalismus war. Standort Deutschland ist ein Slogan deutscher Machtpolitik.
    Die Idee des Fortschritts stabilisiert den Weltbegriff und die Rechtfertigungszwänge, denen er sich verdankt, durch die eingebaute Diskriminierung der Vergangenheit. Aber spiegelt sich nicht in dem Dunkel, in das die Vergangenheit verdrängt wird, das Dunkel der Gegenwart?
    Das Licht, in dem wir die Vergangenheit sehen, ist determiniert durch das Bild der Welt, in der wir leben.
    Blinder Fleck: Die subjektiven Formen der Anschauung sind Entfaltungen des die Orientierung destruierenden und verwirrenden Prinzips. Durch die Neutralisierung der Beziehung von Oben und Unten wird die der begrifflichen Erkenntnis innewohnende, sie konstituierende Herrschaftsstruktur aus dem Blickfeld gerückt, verdrängt. Prophetie als das Vermögen der Reflexion von Herrschaft wäre das Licht in diesem blinden Fleck. Mit der Verdrängung der Prophetie wurde die Differenz zwischen theologischer Sprache und Herrschaftsmetaphorik unkenntlich gemacht. Theologische Metaphorik und Herrschaftsmetaphorik wurden in eins gesetzt. Die Übersetzung des Gottesnamens mit „Herr“, die Identifikation des Hörens mit dem Gehorsam, die Herausnahme der Barmherzigkeit aus dem theologischen Begriff der Liebe, die Individualisierung der Hoffnung, ihre Trennung vom Zustand der Welt, die Ersetzung der Herrschaftskritik durch die Sexualmoral sind Teil dieses Prozesses.
    Der blinde Fleck im Zentrum der Philosophie ist der Same des Tieres.
    Wenn Jupiter das Symbol der basileia, der Königsherrschaft, war, war dann die Sonne das des Caesarismus? Die Astrologie war die Kunst der Chaldäer, das Instrument der Begründung der Herrschaft Babylons.
    Das Subjekt der Ontologie ist die autoritäre Persönlichkeit.
    Die Kirchenkritik ist an verschiedenen Stellen der Evangelien verankert: in der Geschichte von den drei Leugnungen, in dem Kelchsymbol in Getsemane, in den zwei Lazarus-Geschichten, in den Stellen mit den sieben unreinen Geister.
    Die Tatsache, daß das NT in Griechisch geschrieben wurde, gehört zur descensio ad inferos (zum Tikkun).
    Überzeugungsarbeit: Nicht durch Überzeugung, sondern durch die Kraft der Erkenntnis gewinnt die Sprache Realität. In einer Welt, in der die CDU handelt und schweigt, während die SPD redet und nichts tut (in der die CDU die Realitäten schafft, die die SPD kommentiert), gibt es keine Alternative mehr zum Faschismus. Überzeugungsarbeit bleibt in den Rechtfertigungszwängen gefangen, die jeder Häme als offene Flanke sich darbieten (Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand; Problem der Beweislogik).

  • 24.9.1995

    Wer die Nazizeit post festum nur verurteilt, aber sich weigert, seine Entstehungsbedingungen wirklich zu reflektieren, hat nichts begriffen.
    Trauerarbeit, wie Alexander und Margarete Mitscherlich sie forderten, sollte helfen, die beim Ende des Faschismus zerbrochenen symbiotischen Beziehungen, die nur verdrängt worden sind, aufzuarbeiten. Die andere, sehr viel wichtigere Form der Trauerarbeit, die auf die Gemeinheitserfahrung im Faschismus und auf das darin gründende Verschwinden des Christentums sich bezieht, wäre noch zu leisten.
    Die medienlogische Unterscheidung von Meinung und Information ist ebenso notwendig wie verhängnisvoll. Wenn alles, was nicht Information ist, zur Meinung wird, dann braucht’s auch die Meinung nicht mehr. Aber im Bann des Indikativs, in dem die Information gründet, wird alles, was nicht Information ist, zur Meinung.
    Das Kelch-Symbol ist Ausdruck der Prävalenz der Vergangenheit über die Zukunft (genau das drückt sich in Getsemane aus). Dem entsprechen im Erkenntnisapparat die subjektiven Formen der Anschauung, die genau diese Funktion erfüllen. Insoweit steht das Kelch-Symbol in genauer Opposition zur Idee des Ewigen. Heideggers Begriff des In-der-Welt-Seins bezeichnet eine Kurzfassung oder eine Engführung der Funktion der subjektiven Formen der Anschauung, von denen im Begriff des Daseins nur das ins Passive, ins Objekthafte gewendete deiktische Moment erhalten bleibt (der Mensch ist etwas, worauf man zeigt). Ist nicht der Weltbegriff das Äquivalent des Kelchs (und dessen Inhalt der Inbegriff all dessen, was die Herrschenden konsumieren)?
    Unzuchtsbecher: Das happy end des Kriminalromans ist die Überführung des Verbrechers. Ist nicht der Unzuchtsbecher die Erfolgslogik?
    Der systematische Grund autoritärer Systeme liegt in einer Welt, in der niemand mehr weiß, was er tut, in der jeder einen Herrn braucht, der ihm sagt, was er zu tun hat.
    Ist nicht die Physik heute weithin kontrafaktisch? Hinter den Erscheinungen sind die Erscheinungen selbst (Definition der Erscheinung). Die Weltraumforschung und die Großforschungsanlagen der Mikrophysik haben keinen anderen Zweck als den, das zu beweisen (zu beweisen, daß es hinter den Erscheinungen nichts gibt).
    Schon die erste Gestalt der Physik, die Mechanik, war Metaphysik, ein Reich jenseits, hinter den sinnlichen Erscheinungen. Die Mechanik, Inbegriff der dritten Leugnung, hat das Opfer der Vernunft in der Objektivität, im Begriff der Realität selber, installiert. So hängt sie mit der Geschichte des Dogmas und mit der Opfertheologie zusammen. Zu Reflexion der Mechanik gehört aber die Reflexion auf die beiden Vorstufen des Objektivationsprozesses, auf die beiden ersten Leugnungen: auf die Geschichte der Hellenisierung und dann der Islamisierung der Theologie.
    Sind das nicht die drei in die Theologie eingebauten Feindbilder:
    – der Hellenismus leugnet den Vater,
    – die Islamisierung den Sohn und
    – die Aufklärung den Geist.
    Die Trinitätslehre hat die Offenbarung in dieses Feindbild-Konstrukt mit aufgenommen. Der Objektivierungsprozeß, der in der Theologie entspringt, wiederholt zwangshaft die Verurteilung, die dem Kreuzestod zugrundeliegt.
    Die Geschichte der drei Leugnungen beschreibt den Prozeß, in dem die Religion zur „Religion für andere“, in dem sie blasphemisch geworden ist.
    War nicht der „jüdische Selbsthaß“, selber ein Produkt der Assimilation, ein Reflex des viel tiefer reichenden Selbsthasses, der die Geschichte des Christentums beherrscht? Dieser Selbsthaß definiert die Grenze zwischen den beiden Gestalten des Christentums, auf die Max Horkheimer einmal hingewiesen hat: Es gibt keine menschenfreundlichere Religion als das Christentum, aber es gibt auch keine Religion, in deren Namen solche Untaten begangen worden sind.
    Theologie im Angesicht Gottes ist der Versuch, in der Erkenntnis Gottes den Bann des Selbsthasses zu brechen, unter dessen Herrschaft die Theologie hinter dem Rücken Gottes steht.

  • 23.9.1995

    Die Personalisierung (zu der es seit der kopernikanischen Wende, seit der Installation der subjektiven Formen der Anschauung, keine Alternative mehr zu geben scheint) greift den Himmel an. Sie verwechselt Wasser und Feuer, Begriff und Namen, das Was und das Wer (vgl. Sohar, Ausgabe Diederichs, S. 70, sowie Lk 1249: Ich bin gekommen, Feuer vom Himmel zu holen, und ich wollte, es brennte schon).
    Gibt es einen logischen Zusammenhang und eine logische Folge der Stellen der Schrift, an denen vom offenen Himmel die Rede ist (von der Merkaba-Vision bei Ezechiel über die Taufe und die Verklärung Jesu bis zum Tod des Stephanus)?
    In welcher Beziehung steht der Kampf Jakobs mit dem Engel zu seinem Traum von der Leiter, die bis an den Himmel reicht?
    In den Eltern sind einem auf verschlüsselte Weise Vergangenheit und Zukunft präsent. Hat der „Generationenkonflikt“ (der
    Abbruch der Kommunikation mit den Eltern), in den auch die raf verstrickt ist, nicht etwas mit der Verdrängung der Vergangenheit durch Verurteilung (durch Vergegenständlichung) zu tun, mit der Vorstellung, man könne den Ballast abwerfen und wäre dann frei, mit dem Problem der Personalisierung? Aber nur wer die Last auf sich nimmt, befreit sich von ihr.
    Die Trinitätslehre ist ein Konstrukt zur Absicherung der Bekenntnislogik: Sie setzt die Verdrängung der Vergangenheit durch Verurteilung (den Antijudaismus) voraus. Mit der Kritik der Bekenntnislogik fällt auch die Trinitätslehre.
    Der Abgrund zwischen der Logik der Schrift und der Erfüllung des Worts wird überbrückt durch das Wunder (die Freiheit ist das Wunder in der Erscheinungswelt).
    Wird schon in der hebräischen Bibel zwischen der Erfüllung der Schrift und der des Worts unterschieden, oder erst im Neuen Testament?
    Das Präsens ist eine ästhetische Kategorie. Es hat die vergegenständlichte Vergangenheit und die verräumlichte Zukunft zur Grundlage: Der Raum verkörpert die Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft. Gegen ihn steht die Erkenntnis (die Heiligung, die Einung) des Gottesnamens.
    In der Sache beginnt die Philosophie mit dem Satz: Alles ist Wasser. Ist die Philosophie nicht der strampelnde Frosch, nur daß, was in diesem Wasser dann fest und greibar wird, keine Butter ist, sondern der Begriff (vgl. Dt 2823: Und der Himmel, der über deinem Haupte, wird Erz sein, und der Boden, der unter dir, Eisen; sh. auch Lev 2618f: … werde den Himmel über euch sein lassen wie Eisen und euern Boden wie Erz)?
    Ist nicht der Unzuchtsbecher in der Apokalypse der Schritt über den letzten Satz des Buches Jona hinaus? Dort wurde auf die 120.000 verwiesen, die Rechts und Links nicht unterscheiden können; der Unzuchtsbecher instrumentalisiert diese fehlende Unterscheidungsfähigkeit: er symbolisiert die neutralisierende Gewalt des Begriffs.
    Die Nicht-Unterscheidung von Rechts und Links trennt das Was vom Wer, den Begriff vom Namen. Die Gemeinheit instrumentalisiert diese Trennung.
    Der Raum und der Gottesname: Steckt im hebräischen Namen des Himmels, schamajim, nicht der Raum; ist das Feuer nicht die Normale auf der Angleichung des Wer an das Was, der Grund der Reversibilität beider?
    Daß – so Thomas von Aquin – Geister „an sich böse“ sind, läßt an einer Theologie sich ablesen, die die Lehre von den Engeln und Dämonen unter dem Oberbegriff Geister abhandelt. Daß Geister an sich böse sind, gilt auch noch für den Hegelschen Weltgeist, den Antipoden des Paraklet.
    Parusieverzögerung: Der Fehler der Trinitätslehre war es, daß sie als Theologie im historischen anstatt im prophetischen Indikativ (in einem Indikativ, der den Imperativ in sich enthält) sich begreift. Die Übersetzung des prophetischen in den historischen Indikativ (mit der Opfertheologie als Zentrum) ist die Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben werden kann. Nicht die Ontologie, sondern die Ethik ist die prima philosophia (aber diese prima philosophia trägt das Antlitz der Apokalypse).
    Nicht Opfer, sondern Barmherzigkeit: Das war der Grund und die Urfassung des Satzes, daß die Attribute Gottes nicht auf ein Sein, sondern aufs Handeln sich beziehen, daß sie nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen.
    Der Weltbegriff oder die Ontologie ist Objekt einer Kritik, in deren Kontext der Naturbegriff und die Geschichte seiner Entfaltung (die Geschichte der Naturbeherrschung) als Objekt der Umkehr und als Grund einer apokalyptischen Ethik sich erweisen.

  • 22.9.1995

    Zu Off 133: Den Faschismus nicht als Feind, sondern als Verführung begreifen, heißt, auch das Feindbild Faschismus, das mit der Realität seiner Vergangenheit aufs fatalste zusammenhängt, noch als Verführung begreifen. Erst als vergangener siegt der Faschismus (eigentlich dürfte es nach dem Faschismus nichts mehr geben, was ihn nur überlebt).
    Das Feindbild ist (als Teil der Bekenntnislogik) gemeinschaftsbegründend: ein gesellschaftlicher Kitt.
    Die Todesangst wird durch den Historismus, die Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der Vergangenheit, verdrängt und begründet zugleich.
    Stammen nicht das Bekenntnis, das Dogma, die Orthodoxie aus dem (weltkonstituierenden) Geiste des Rechts? Und ist nicht der „rechtsfreie Raum“, den es nach Meinung des Münchener Bischofs Wetter nicht geben darf, der Raum, in dem sich die Juden, die Ketzer, die Frauen bewegen?
    (Ist die Existenz der Juden, der Häretiker und der Frauen der Beweis dafür, daß der Raum in keiner seiner drei Dimensionen ins Unendliche sich erstreckt? – Im Kontext der Vorstellung des unendlichen Raumes sind der Antisemitismus, die Unfähigkeit, abweichende Anschauungen zu ertragen, und die Frauenverachtung unvermeidlich.)
    Gerichte, die unter dem Bann des Feindbildes stehen (z.B. in Mord- oder in Staatsschutzprozessen), stehen unter dem Bann des synthetischen Urteils apriori; sie haben nicht mehr die Freiheit, abweichende Fakten zu tolerieren, ohne sie – zynisch und paranoid zugleich – nach Maßgabe des Feindbildes einzuordnen. Jede humane Regung gegenüber einem Angeklagten (der in Wahrheit ein Feind ist) wird zwangsläufig als Unterstützung des Feindes und als Angriff auf das Gericht wahrgenommen.
    Ist nicht der 129a die endgültige Grundlage für die Produktion synthetischer Urteile apriori im Strafrecht? Mit dem Tatbestandsmerkmal „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ wird die Zurechnung einer Tat auch ohne Tatbeteiligung möglich (vgl. den Mordvorwurf wg. des Todes des GSG 9-Beamten im Hogefeld-Prozeß). Eine konkrete Tatbeteiligung braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden. Soweit sie dann doch noch erforderlich ist, hat die Kronzeugenregelung die letzte Lücke geschlossen (so im Falle Eva Haule, Christian Klar, Sieglinde Hofmann).
    An der bayerischen Reaktion auf das Kruzifix-Urteil läßt sich erkennen, daß genau jene, die nur noch ein instrumentalisiertes Verhältnis zum Christentum haben, sich über das Urteil empören. Das begründet die Frage, ob das Kruzifix nicht genau dafür das Symbol ist. Der Gebrauch dieses Symbols in den Kreuzzügen, in der Geschichte der Ketzerverfolgung und im Umkreis der Inquisition belegt den gleichen Sachverhalt.
    (Zu Erika Steinbachs Angriff auf die evangelische Kirche in Hessen: So wie den Herrn Hintze hätte die CDU gern alle Pfarrer. Aber verhalten sich nicht in gleichsam vorauseilenden Gehorsam die meisten, allen voran die katholischen Bischöfe, schon entsprechend?)
    Ist der Ausdruck „die Dinge beim Namen nennen“ nicht ein Hinweis auf die fortschreitende Umformung der Sprache zu einem Instrument der Verurteilung (mit ihrer Transformation in den Indikativ)? Ist die benennende Kraft der Sprache endgültig an den gesellschaftlichen Schuldzusammenhang übergegangen? Bezeichnungen wie Nazi, Terrorist, Mörder sind real nur im Kontext eines Schuldverschubsystems, das von der Realität nicht mehr sich unterscheiden läßt.
    Staatsschutzverfahren haben nicht mehr die Kraft zu belehren, weil sie selbst nicht mehr belehrbar, nicht lern- und erfahrungsfähig sind. Es bleibt nur die „Belehrung nach außen“, die Abschreckung, das Errichten eines Tabus (jede „Belehrung nach außen“ ist zugleich eine nach innen, ein Instrument der Verdrängung). Staatsschutzverfahren sind Verfahren der Vorverurteilung, des Vorurteils.
    Zur Genese und zum Begriff des Rassismus: Verdacht und Unterstellung sind experimentelle Anwendungsformen des kontrafaktischen Urteils. Ihre Verwandlung in synthetische Urteile apriori (ihre Biologisierung) macht sie zu Instrumenten des Vorurteils.
    Wie hängt das kontrafaktische Urteil mit dem liberum arbitrium, dem moralischen Äquivalent der „Freiheitsgrade des Raumes“, und wie hängen beide mit den kantischen Antinomien der reinen Vernunft zusammen?
    Erbaulichkeit ist ein Produkt der Übersetzung der Schrift in gegenständliche Vorstellungen, die dann kontrafaktisch ausgemalt werden können (der Mythos war die Einübung dieser kontrafaktischen Ausmalung, der Film ist das Produkt seiner Anwendung). Erbaulichkeit leugnet die Kraft der Sprache. Im Medium kontrafaktischer Urteile hat die transzendentale Ästhetik und Logik (als Inbegriff der Subjektivität) sich konstituiert. Erbaulichkeit nimmt „die Rechte“ der Subjektivität gegen die Idee der Wahrheit wahr. Erbaulichkeit ist blasphemisch.
    Reich der Erscheinungen: Gegenständliche Vorstellungen werden kontrafaktisch ausgemalt, aber durch Musik werden sie verkörpert. Musik verleiht den Vorstellungen Tiefe: Deshalb ist Musik eine aus dem Geist des Christentums (nicht immer jedoch aus christlichem Geist) erzeugte Kunstform, und deshalb bedarf der Film der Musik, um plastische und lebendige Präsenz zu gewinnen.

  • 21.9.1995

    Die griechische verhält sich zur hebräischen Sprache wie die Logik der Schrift zum Wort (oder wie das Überzeitliche zum Ewigen: wie der Begriff zum Namen).
    Banken und Kredite (das Medium des spekulativen Geldgeschäfts) sind das ökonomische Korrelat des Relativitätsprinzips. Die Mechanik ist eine durch den Kapitalismus (durchs Wertgesetz) vermittelte Gestalt der Naturerkenntnis.
    Ist die elektromagnetische Masse kreditierte Masse?
    Das Bewußtsein der Konsumenten (der von der aktiven Teilnahme an der Produktion Ausgeschlossenen) verharrt auf dem Stand der Mechanik. Durch den Kauf beweist sich der Konsument seine Bewegungsfreiheit in dem durchs Tauschprinzip definierten Raum (die Bewegungsfreiheit des Autos im Straßenverkehr).
    Öffentlichkeit ist ein Reflex des Außen im Innern des Staates; deshalb hätte der Staat gern eine domestizierte Presse. (Wenn der Staat das Tier aus dem Meere ist, dann ist die „Öffentlichkeit“ das Tier vom Lande: der falsche Prophet. Verweist nicht das Genitiv/Dativ-Problem auf den Ursprung dieses Tieres? Und sind nicht Philosophie und Wissenschaften Teil der Vor- und Ursprungsgeschichte der Öffentlichkeit, des Tieres vom Lande? Und ist nicht die Kritik der reinen Vernunft eine der ersten Gestalten der Selbstreflektion dieses Tieres?)
    Ist nicht das Wort Jesu gegen das Schwören (Mt 534ff) auch gegen die Kirche gerichtet? Der Zusatz „… vielmehr sei eure Rede: Ja, ja – nein, nein, und was darüber ist, ist vom Bösen“ wäre genauer zu prüfen. Nicht gemeint sein kann das positivistische Verständnis des Satzes, seine Anwendung in den Fangfragen, mit denen die Differenzierung abgewehrt und diskriminiert werden soll. Beachte, daß es nicht heißt: Eure Rede sei Ja oder Nein; die Verdoppelung (Ja, ja – nein, nein) und das fehlende „oder“ sind ein Hinweis.
    Die Orthogonalität ist das Resultat des Durchschlagens des gordischen Knotens; aber genau dieser Knoten wäre zu lösen.
    Zum Problem des Ursprungs des Objektbegriffs gehört der Hinweis, daß der Handel (und mit ihm der Begriff der Ware, der zu den Modellen des Objektbegriffs gehört) seinen Ursprung im (zunächst auch räuberischen) Außenhandel hat. Und zur Ursprungsgeschichte des Handels gehört mit einer ersten Waren, dem Sklaven, auch der Krieg, die Beute, der Tribut und, als deren Reflex im Innern, die Schuldknechtschaft und das Geld (das nicht im Tausch entspringt, sondern ihn begründet). Hängen nicht auch das Inzestverbot und die Exogamie mit dieser Ursprungsgeschichte des Objektbegriffs zusammen?
    Die Bekenntnislogik gründet in dem Schein, man könne durch die Verurteilung einer Sache (einer Häresie wie auch einer unmoralischen Handlung) sich selbst freisprechen.
    Ist nicht das Licht der Erlösung, von dem Adorno am Ende der Minima Moralia spricht, das Licht der Welt, das man nicht unter den Scheffel stellen soll? Der Scheffel über dem Licht aber hat den Vorteil, daß er erlaubt, ihn als Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Licht und Finsternis, zu nutzen (das Licht zu instrumentalisieren). Dann ist alles, was drinnen ist, Licht, und alles, was draußen ist, Finsternis. Ist nicht die Kirche („extra ecclesiam nulla salus“) durch die Bekenntnislogik zum Scheffel über dem Licht geworden?

  • 20.9.1995

    Das Staatsschutzrecht versucht völkerrechtliche Probleme mit strafrechtlichen Mitteln zu lösen. Der Staat, der das Eigentum seiner Bürger begründet und schützt, ist selber der Eigentümer seiner Bürger. Fremde sind recht- und herrenloses Gut, und wer sich gegen den Staat stellt, macht sich selbst zum Fremden.
    Die Apokalypse ist das Korrelat der Prophetie unter den Bedingungen des Weltbegriffs. Die Sexualmoral, selber Nachfolger und Erbe des Astarte/Ischtar/Venus-Kults, ist das Produkt der Privatisierung des mit dem Weltbegriff entsprungenen Problems (Zusammenhang mit der „Venus-Katastrophe“, der Astrologie insgesamt?). Sie ist ein Symptom, keine Lösung des Weltproblems.
    BI-Plakat: „Alle reden vom Klima, wir machen es. Pro Platz in einem Flugzeug ruinieren sie die Atmosphäre bei einem Langstreckenflug wie durch 14 Jahre Autofahren.“
    Die Geschichte der drei Leugnungen steht genau an der Grenze (zwischen Synhedrium und Pilatus), an der das Christentum, indem es glaubte, den Staat für seine Zwecke instrumentalisieren zu können, selber zu einem Instrument des Staates geworden ist.
    Die Geschichte der Theologie steht unter einem Bann, der allein mit Hilfe der Geschichte von den drei Leugnungen zu lösen wäre. Die „drei Leugnungen“ sind nicht ganz sinnlos: sie gehören zur Klugheit der Schlange, die nur durch die Arglosigkeit der Tauben sich heilen läßt.
    Zum Begriff (und zur Grenze) des Beweises (oder zu den Antinomien der reinen Vernunft): Die Unmöglichkeit, einen Verdacht zu widerlegen, ist kein Beweis. Sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung die sich auf sich selbst beziehende Form des Verdachts, und ist nicht das Objekt Produkt der Unwiderlegbarkeit dieses Verdachts? Der apagogische Beweis ist keiner.
    Im Wort „Beweis“ steckt ein demonstratives Moment, das Weisen, das durch das Präfix be- die Reflexion auf den Andern in sich aufgenommen hat, in die Urteilslogik (und in die Logik des Weltbegriffs) integriert worden ist. Beweisen ist ein Weisen von außen, durch oder für einen Andern. Der wichtigste Beweis ist der Zeugenbeweis (die Berufung auf die Wahrnehmung eines andern), der durch die Formen der Anschauung (als Formen der Vergesellschaftung der Wahrnehmung, durch die meine Wahrnehmung mit der Wahrnehmung aller andern identifiziert wird) verinnerlicht und vergesellschaftet wird. Intersubjektivität (auch die des Urteilens) ist durch die Formen der Anschauung vermittelt, in den Formen der Anschauung sind Ankläger und Richter, Angeklagter und Zeugen systemisch vereinigt.
    Was bedeutet und worauf bezieht sich der juristische Begriff „Augenschein“? Im Zuge einer Ermittlung wird nicht gesehen, sondern „in Augenschein genommen“: das Sehen vergesellschaftet. Das Präsens, die Gegenwart, ist das Korrelat des Augenscheins, nicht des Sehens, der Augenschein ein Produkt des Indikativs, durch den das Sehen juristisch verwertbar wird, durch Subsumtion unter die Beweislogik. Der Indikativ ist eine Sprachform, die im Bannkreis des Wertgesetzes und der Beweislogik sich gebildet hat.
    Die ungeheure Bedeutung der kantischen Antinomien der reinen Vernunft liegt darin, daß aus ihnen die Prävalenz der Vergangenheit in der Beweislogik sich ablesen läßt. Durch die Subsumtion unter die Vergangenheit wird die Sache ästhetisiert, den subjektiven Formen der Anschauung und damit einer Logik unterworfen, in der auch das kontrafaktische Urteil gründet: Hier kann alles auch anders sein. Die Antinomien sind die Rache des kontrafaktischen Urteils an seinen Konstituentien. Kontrafaktische Urteile sind ein Hinweis darauf, daß es keinen absoluten Indikativ gibt.
    Der Verdacht ist der Grund der synthetischen Urteile apriori, sein gegenständliches Korrelat das Reich der Erscheinungen. Gegen ihn steht das verteidigende, parakletische Denken.
    Die Logik der Schrift und die Erfüllung des Wortes: „Nur Gott sieht ins Herz der Menschen.“ Auch dieser Indikativ ist eigentlich ein Imperativ, theologischer Grund des parakletischen, verteidigenden Denkens. Als Indikativ ist der Satz das Signum des steinernen Herzens, als Imperativ der Beginn der Umwandlung des steinernen in ein fleischernes Herz, der Beginn der Transformation des Opfers in Barmherzigkeit.

  • 19.9.1995

    Das gesellschaftliche Korrelat des Objektbegriffs ist das Feindbild. Deshalb ist die Kritik der Verdinglichung (die Kritik der transzendentalen Ästhetik) die genaueste Konsequenz aus dem Gebot der Feindesliebe. Der Indikativ aber ist die Objektsprache, er steht unter dem Bann der transzendentalen Ästhetik.
    Opfertheologie, Verdinglichung und Verdrängung: Die Opfertheologie instrumentalisiert das Leiden, sie entbindet von der Pflicht zu helfen, indem sie dem Leiden einen Sinn gibt, sie begründet den Glauben (an die magische Kraft des Opfers und an eine jenseitige Vergeltung) und immunisiert die Gläubigen gegen die Wahrnehmung des Leidens der anderen, sie verstopft die Ohren gegen den Schrei der Opfer. Die Empfindung, deren Gegenstand das eigene Leiden ist, wird von der Sensibilität für das Leiden anderer getrennt; die Spur dieser Empfindung ist das Ich, die Subjektivität, das Bewußtsein: die Person. Empfindung und Sensibilität werden zulasten der verdrängten Sensibilität durch den hier entspringenden Weltbegriff (als Bewußtsein und Unbewußtes, Ich und Es) getrennt. Die Opfertheologie ist das Instrument des strengen Gerichts, für sie gilt der Satz: Nicht Opfer, sondern Barmherzigkeit.
    Die doppelte Bedeutung des Wortes Gericht beruht nicht bloß auf einer Äquivokation, die getrennten Bedeutungen verweisen vielmehr auf einen gemeinsamen, mit dem Ursprung des Weltbegriffs zusammenhängenden Ursprung (Zusammenhang mit Sein, Sinn, Zeugung).
    Frohe Botschaft und Gute Nachricht: Botschaft und Nachricht unterscheiden sich wie Gebot und Gericht. Zum Gebot gehört der Bote (der Engel), die Nachricht bezieht sich auf den Empfänger wie das richtende Urteil auf den Angeklagten. Sind heute nicht alle Zuschauer, die tagtäglich dem Schauprozeß beiwohnen, in dem sie Angeklagte sind und gerichtet werden, nur daß sie’s nicht merken? Die „Gute Nachricht“ ist die milde Lüge, die sie über das wahre Urteil (das synthetische Urteil apriori, das, indem es über andere gefällt wird, über den Richtenden selber ergeht) hinwegtäuscht (Beitrag zur Genesis und Logik des Erbaulichen).
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind die synthetischen Urteile apriori, die, indem sie über andere gefällt werden, über die Urteilenden selber ergehen. Deshalb sind sie die apriorischen Objekte der Antinomien der reinen Vernunft: Verkörperungen der Grenzen der Beweislogik. Die subjektiven Formen der Anschauung begründen und neutralisieren die Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen.

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