Dezember 1995

  • 18.12.95

    Unzuchtsbecher: Hängt nicht der 68er Bruch mit Veränderungen in der Kindheit nach 45 zusammen? Mit der Struktur einer Kindheit, die nach der radikalisierten Trennung von Beruf und Familie von jeder realen Erfahrung der Außenwelt abgeschnitten war. Die ersten Erfahrungen der Außenwelt, deren Repräsentanten in der Familie deren „beruftätige“ Mitglieder, der Vater und immer häufiger auch die Mutter, waren, verschmolzen mit verworrenen Meldungen über eine Zeit, die so schrecklich war, daß man sich damit möglichst nicht befassen sollte. Der Faschismus war gleichsam der letzte Repräsentant jener Tabuzone, deren Grenzen in „normalen Zeiten“ durch die Sexualmoral (und versteckt durch die politischen und kirchlichen Herrschaftsstrukturen, in die das Leben eingebunden war) definiert wurden. Die Wand, die die Selbsterfahrung von einer Vergangenheit trennte, die nur noch den Schrecken repräsentierte, schien erfahrbar zu werden, als die Schrecken der Vergangenheit begannen, mit den ersten Außenwelt- und Öffentlichkeitserfahrungen zu verschmelzen, mit dem Bild der verständnislosen Eltern, mit den Schockerfahrungen, die, beginnend mit der Einschulung, dann zum Modell der Realitätserfahrung überhaupt geworden sind, sowie schließlich mit dem Eintritt in die Berufs- und Erwachsenenwelt, der durch die im Zuge der Rezession zusehends sich verschärfenden Zugangsbedingungen die Schrecken der Kindheit ins Unerträgliche potenzierte.
    Der 68er Bruch hat der wirklichen Öffentlichkeitserfahrung den Weg verstellt, die Außenwelt dem Schuldverschubsystem, den Empörungsmechanismen und dem Urteil, insgesamt dem projektiven Rachetrieb, preisgegeben (er hat die Außenwelt zum Objekt einer Logik gemacht, deren sexualmoralisches Modell die Vergewaltigung ist). Das religiöse Korrelat dieser Außenweltlogik ist der Fundamentalismus.
    Wenn der Faschismus zur Tabuzone wird, wird die Menstruation zur politischen Frage.
    Die Tagträume werden heute von der Kulturindustrie produziert, verwaltet und in eigene Regie übernommen. Bei allen wechselnden Moden hält sie das eine Ziel fest in Augen: die Leute am Erwachen zu hindern.
    Unter den Spinnen gibt es Arten, bei denen das Weibchen das Männchen nach der Begattung frißt. Ist das nicht ein Symbol der Beziehung von Genesis und Geltung, insbesondere in den Naturwissenschaften, in denen der Ursprungsprozeß unrekonstruirbar geworden ist? Haben die Naturwissenschaften nicht überhaupt etwas sehr Spinnenhaftes?
    Das Urteil ist nur zu retten, wenn die transzendentale Logik selber zum Gegenstand der Kritik der Urteilskraft geworden ist.
    Die Wahrheit hat etwas mit der metaphorischen Kraft der Sprache zu tun, die die Gewalt des Indikativs sprengt: Ist nicht der Indikativ der Repräsentant der mathematischen Erkenntnis in der Sprache? Der Indikativ schließt Vergangenheit und Zukunft kurz, bringt so die reale Gegenwart zum Verschwinden und ersetzt sie durch das Präsens. Nur durch die Metaphorik hat die Sprache noch Teil an der realen Gegenwart. Läßt sich daraus nicht begründen, daß und weshalb die Bibel endlich soweit zu dekonstruieren ist, daß sie als Steinbruch für die dogmatische Beweislogik unbrauchbar wird? Statt dessen käme es darauf an, in den Text hineinzuhören: sowohl in die Querverweise (vgl. Lazarus, die sieben unreinen Geister, den Kelch) als auch in die narrativen Elemente, die jedes für sich aufs genaueste aufzunehmen (und so dem erbaulichen Gebrauch zu entreißen) sind.
    Das Hören, der Gehorsam und das Herrendenken.
    Zu Gehorsam: woher kommt das Suffix -sam? Hat es etwas mit Sammeln, mit der inneren Pluralisierung zu tun (mit dem Vertreiben des Subjekts), oder genauer: mit der Ersetzung der erhabenen Gemeinschaft, für die der Name Israel steht, durch eine Form der Kollektivität, die im Bannkreis der Herrschaft (unterm Herrenblick: im Kontext der subjektiven Formen der Anschauung) sich konstituiert? Läßt nicht der Name Israel, der u.a. auch das Subjekt der Psalmen bezeichnet, durch das Wort sich definieren: Solidarität ohne Komplizenschaft (ein Wort, das sich sehr eng mit Ton Veerkamps Titel „Solidarität und Autonomie“ berührt)?
    Vgl. auch die Beziehung des Namens Israel zum Namen der Hebräer, der die Hereinnahme der Fremdbezeichnung ins eigene Selbstverständnis der Israeliten dokumentiert (vgl. hierzu wiederum die Bedeutung und Funktion des griechischen Kollektivbegriffs der Barbaren). Auf ein merkwürdiges Problem in dem Gebrauch, den Moses von diesem Namen macht, wenn er gegenüber Pharao sich auf den „Gott der Hebräer“ (später dann auf JHWH) sich beruft, bleibt hinzuweisen: Spricht Moses hier nur die Sprache Pharaos, oder sind weitere Konnotationen mit zu heranzuziehen (u.a. eine mögliche Beziehung zur dreifachen Gotteserscheinung: im brennenden Dornbusch, am Sinai, als Moses IHN von hinten sehen darf, und schließlich in der Erscheinung „von Angesicht zu Angesicht“?
    Wenn die Schöpfung im Zeichen des Lichts steht, steht dann nicht die Apokalypse im Zeichen des Feuers (und sind beide nicht sprachsymbolische Zeichen, deren Verhältnis sich bestimmen läßt und zu bestimmen wäre)?
    Ist das Feuer ein durch Tragheit und Schwere vermitteltes Licht, steckt in der Beziehung beider mocht die ganze Geschichte des Dogmas (der Bekenntnislogik) und der Naturwissenschaften (des Inertialsystems)?

  • 17.12.95

    Die Barmherzigkeit ist der Mutterschoß der zukünftigen Welt. Hängt nicht die Rosenzweigsche Übersetzung von Gen 12a: „Geist Gottes brütend über den Wassern“ (Stern der Erlösung, Frankfurt 1988, S. 170), hiermit zusammen? Und wenn die Propheten „im Mutterschoß“ berufen wurden, heißt das nicht, daß sie im Namen der Barmherzigkeit berufen wurden?
    War nicht die 68er Bewegung ein Ausbruchsversuch aus der gleichen Lähmung, die mich in den 60er Jahren am Schreiben gehindert hat? Aber ein Ausbruchsversuch, der die Voraussetzungen seines möglichen Gelingens zugleich verdrängt hat? Meinen Hoffnungen, mit denen ich die 68er begleitet habe, war eigentlich von Anfang an das Bewußtsein, daß es so nicht möglich war, beigemischt. Die 68er waren einer Logik verfallen, die aus ihrer Beziehung zum Faschismus, aus den daraus erwachsenen Rechtfertigungszwängen, sich herleiten läßt: Die Verurteilung des vergangenen Faschismus, die jedes Verständnis ausschloß, umschrieb die ganze Spannweite der philosophischen Bewegung von Spionoza bis Hegel: das Urteil über den Faschismus war im Anfang der „index veri et falsi“, es erwies sich dann als der „bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist“. Die Verurteilung des Faschismus war ein „historisches“ synthetisches Urteil apriori, es kehrte sich als juristisches „synthetisches Urteil apriori“ in den „Staatsschutzprozessen“ gegen die, die im Licht dieses Urteils die Gegenwart zu zu begreifen versucht hatten. Der Grundfehler lag in dem unausweichlichen logischen Zwang, der mit dem doch so evidenten Schuldspruch über den Faschismus die gesamte Vergangenheit neutralisierte, die Erinnerung gegenstandslos machte.
    Welche rechtslogische Bedeutung hat die Umwandlung des Angeklagten in einen Feind: Gewinnt nicht das juristische Urteil erst durchs Feindbild sein apriorisches Objekt (so wie die transzendentale Logik durch die subjektiven Formen der Anschauung)?
    Die juristische Adaptation des Feindbildes (deren Logik der Carl Schmittsche Rechtsphilosophie zugrundeliegt) ist der Kern der Notstandslogik, die in den Staatsschutzverfahren den Rechtsstaat dekonstruiert.
    Wenn der Rechtfertigungszwang zum Gerüst der transzendentalen Logik des Rechts wird, wird der Strafvollzug zur Grundlage des „Reichs der Erscheinungen“, die selber kein Teil des Reichs der Erscheinungen ist, wird der Strafvollzug zu dem hinter den Erscheinungen verborgenen Ding an sich.

  • 16.12.95

    Pilatus als Kirchenvater: Hat er nicht mit der Freigabe des Barabas die kirchliche Trinitätslehre begründet? Der Name Barabas bezeichnet die vergegenständlichte Selbsterfahrung Jesu, rückt diese in den Bannkreis des Herrendenkens. Als Jesus mit einer Gegenfrage sich weigerte, die Vollmacht, mit der er spricht, vor den Pharisäern und Schriftgelehrten zu benennen, hat er diese Vollmacht gegen ihre Vergegenständlichung verteidigt. Die Nicht-Antwort war die schärfste Kritik der Theologie. Diese Nicht-Antwort präludiert sein Schweigen vor dem Hohen Rat und dann vor Pilatus. Ist nicht die Theologie heute die Produktion dieses Schweigens? Vertritt nicht die Theologie die Pharisäer und Schriftgelehrten, den Hohen Rat und Pilatus gegen ihr eigenes Objekt, das sie zum Schweigen verurteilt (weil sein Wort ihr Angst macht)? Deshalb ist es zu einer der Hauptaufgaben der Theologie geworden zu beweisen, daß die Schrift das, was sie sagt, nicht so meint.
    Ist nicht die Geschichte vom Steuergroschen eine Belegstelle für das Wort vom Greuel am heiligen Ort?
    Theologie-Kritik: Die apologetische Suche nach einer Legitimation der Theologie beweist nur, daß niemand an die der Theologie immanente, sie überhaupt erst begründende Kraft der Selbstlegitimation mehr glaubt.
    Begründung des Rechts: In den Verbrechern erkennt die staatlich organisierte Gesellschaft das projektive Bild ihres eigenen Tuns; das Rechtsurteil und die Strafe sollen die eigene Schuld und das Erschrecken davor durch projektive Bearbeitung aufheben.
    Vgl. Hegels Satz „Das Wahre ist der bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist“ mit Spinozas Definition der Wahrheit: Verum est index sui et falsi. Liegt die Differenz zwischen den beiden Sätzen nicht im Problem der Beweislogik? Die Spinoza Wahrheit liegt in der Einsicht, sie unterliegt nicht der Beweislogik, während das Wahre Hegels das Wahre für andere ist, das bewiesen werden muß: die durch die Beweislogik vermittelte Wahrheit. Ist die Differenz nicht ein Beleg für das, was Levinas einmal die Asymmetrie zwischen Ich und Du (zwischen mir und dem Andern) genannt hat? Ist nicht Spinozas Definition eine theologische, Hegels Definition hingegen eine juristische?
    Wenn der Apokalypse zufolge das Meer am Ende nicht mehr sein wird, muß man da nicht das Werk des dritten Schöpfungstags zur Erklärung mit hinzuziehen? „Und Gott sprach: Das Wasser unter dem Himmel sammle sich an einen Ort, daß das Trockene sichtbar werde! Und es geschah also. Und Gott nannte das Trockene Land, und die Ansammlung der Wasser nannte er Meer. …“ (Gen 19f). Hinweis: In Texten der Kabbala wird die Stelle, an der es heißt: … sammle sich an einen Ort, übersetzt: sammle sich am Ort der Eins. Bezieht sich das Nicht-mehr-Sein des Meeres auf das Ende des Identitätsbegriffs, auf einen Zustand, in dem es der Identität nicht mehr bedarf? – Vgl. auch die kabbalistische Unterscheidung im Namen des Himmels (schamajim), in dem die Namen von Wasser und Feuer enthalten sind, und das „Alles ist Wasser“ des Thales, mit dem die Philosophie, die Herrschaft des Identitätsbegriffs, beginnt, sowie das Jesus-Wort: „Ich bin gekommen, Feuer vom Himmel zu bringen, und ich wollte, es brennte schon“.

  • 15.12.95

    Der Definitionsmacht des Staates, die eine männliche Logik ist, sich entziehen, das heißt vor allem: die Logik dieser Definitionsmacht, die Logik des Herrendenkens, reflektieren, um ihr nicht selber zu verfallen. Nicht trotzig das Urteil der Bundesanwaltschaft sich zu eigen machen und nur das Vorzeichen umkehren (und das Unmögliche zu versuchen: den Mord, der nicht zu rechtfertigen ist, zu rechtfertigen): So betreibt man gleichsam präventiv und zugleich in vorauseilendem Gehorsam das Geschäft des Feindes. So macht man die Kronzeugen überflüssig, wird man zum Kronzeugen gegen die eigenen Genossen, fügt sich dem synthetischen Urteil apriori, dessen williges Opfer man so wird. In einem der ersten Versuche über die Folgen der KZ-Haft ist der Freudsche Begriff der „Identifikation mit dem Aggressor“ verwendet worden. Er bezeichnete das merkwürdige Phänomen, daß Häftlinge der Verführung, die Logik und die Urteile ihrer Peiniger sich zu eigen zu machen, nur schwer sich entziehen konnten; diese „Identifikation“ war ein Teil ihrer Überlebensstrategie (sind nicht die Rituale der Staatsschutzprozesse, und sind nicht insbesondere die Haftbedingungen nur als Teil des Versuchs, diesen Mechanismus zu instrumentalisieren, zu verstehen?).
    Die wechselseitige Durchdringung von Justiz und Verwaltung, die der Exkulpationslogik (der Ersetzung der gerechten durch die rechtfertigende Verantwortung) manifestiert sich insbesondere in den Staatsschutzverfahren, in denen es um die Rechtfertigung der rechtfertigenden Instanz (des Staates) geht, an der Beziehung der Fertigung synthetischer Urteile apriori (Überleitung der Rechtsprechung in ein Subsumtionsverfahren) zur Vorherrschaft des Feinddenkens (der Feind ist das gesellschaftliche Äquivalent des Objekts, des Gegenstands der Subsumtion).
    In den Texten der InfoAG gibt es Argumente, die den Eindruck erwecken, daß sie der Logik der Bundesanwaltschaft – nur gleichsam seitenverkehrt – aufs genaueste entsprechen. Für einen Augenblick erweckten sie den Verdacht, daß sie von einem Provokateur stammen könnten. Gehört nicht diese Argumentation zum Objektbild der Bundesanwaltschaft, das sie braucht, um die Verfahren in dieser Form durchzuziehen?
    Anstatt in offene Fallen hineinzurennen, wäre es sicher wichtiger, die Konstruktion dieser Fallen zu studieren. Nur so ließe sich ihre Wirksamkeit dekonstruieren.
    Wenn Anklagevertreter und Gericht die Angeklagte und ihre Verteidiger als Feinde und die Prozeßbesucher als Sympathisanten ansieht, so ist das deren Problem, nicht unser Problem. Es ist nur ein Hinweis auf mangelnde Differenzierungsfähigkeit. Wer sich davon nicht düpieren läßt, wird in der Lage sein zu bemerken, in welche Fallen sie hineinrennen.
    Sind die merkwürdigen Reaktionen auf die „Kirchenleute“ eigentlich so weit entfernt von der Logik des Senatsbeschlusses, mit dem er das beantragte seelsorgliche Gespräch ablehnte?
    Daß man Dinge verstehen kann, ohne sie gutzuheißen (und daß „alles verstehen“ nicht „alles verzeihen“ heißt), ist der wichtigste Grundsatz jeder Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber haben die 68er nicht genau diesen Grundsatz verworfen? Es war einfacher, alles zu verurteilen, und in diese Verurteilung die ganze Generation derer, die den Faschismus miterlebt hatten, mit einzubeziehen. Daß der Faschismus vergangen war, daß er für die nachgeborene Generation nur noch gegenständlich war, hat ihr Urteil so gnadenlos gemacht. Es war so einfach: Über Schuld oder Unschuld entschied allein das Datum der Geburt, und dieser Generation kam es weniger darauf an, daß das nicht wieder passierte, als vielmehr darauf, daß, wenn es wieder passierte, sie jedenfalls zu denen gehörte, die daran nicht schuld waren. Nicht um Gerechtigkeit, sondern um Unschuld war es zu tun: Das aber führte mitten in die Logik der Rechtfertigungszwänge hinein, die die feindlichen Parteien seitdem gemeinsam hatten. Heute wird der Kampf gegen den Rassismus fast allein unter den Bedingungen einer Logik geführt, die zu den Wurzeln des Rassismus gehört: unter den Bedingungen der Bekenntnislogik, die den Rassismus zu einer Gesinnung, einer Weltanschauung macht, aber seine Funktion im Vernunfthaushalt, nämlich die Entlastung vom Anspruch und von der Last der Mündigkeit, den Zusammenhang der Exkulpationsstrategien, in denen er sich konstituiert, nicht begreift. Zu den Grundmotiven der inneren Begründung des Rassismus gehört insbesondere die Entlastung vom Tötungsverbot (die zugleich seine Nähe zum Sexismus begründet). Der Rassismus ist ein logischer Teil der Staatsmetaphysik, in der er in einer bestimmten Phase der Herrschaftsgeschichte sich konstituiert; er entspringt in der gemeinsamen Geschichte mit dem Ursprung des Gewaltmonopols des Staates und zusammen mit der Unfähigkeit zur Reflexion dieser Ursprungsgeschichte. Das rassistische Syndrom ist im Ernst nur aufzulösen im Kontext der Fähigkeit zur herrschaftskritischen Reflexion.
    Hängt nicht die Abschaffung der Todesstrafe nach dem Krieg, die eine unmittelbare Reaktion auf den exzessiven Gebrauch, den die Nazis davon gemacht hatten, war, auf eine höchst vertrackte Weise auch damit zusammen, daß nach dem Krieg die Neubegründung des Staates nicht gelungen ist (und nicht gelingen konnte). Der Staat gründet in der Todesdrohung (in dem „Recht“ zu töten), und wenn der Mord im Strafrecht das einzige Täterdelikt ist (alle anderen Straftatbestände sind Tatdelikte), so verweist das darauf, daß der Staat im Mörder einen erkennt, der ihm das Recht zu töten durch die Tat streitig macht: Der Mord ist ein Angriff auf die Souveränität des Staates. Umgekehrt aber, wenn der Staat sich selbst des Rechts zu töten begibt (indem er die Todesstrafe abschafft), kann er dies nur unter zwei einander ausschließenden Bedingungen: entweder er schafft – mit der Begründung einer befreiten Gesellschaft – sich selbst ab (so mag Marx sich das Absterben des Staates vorgestellt haben), oder aber er verzichtet auf die Ausübung dieses Rechts (und damit auf eine der Rechtsquellen seiner Macht), weil es von den Gewalten usurpiert wurde, aus denen es einmal hervorgegangen ist und auf die damit auch die Macht wieder übergegangen ist: Ökonomie und Militär. Heute gibt es andere Formen der Todesdrohung, und diese stehen aller Welt vor Augen: in den Elendsgebieten, in den Auswirkungen der Schuldenkrisen, in der Bedrohung durch eine Armut, zu der es weithin keine Alternativen, und aus der es – nachdem die Marktgesetze universal geworden sind – keine Auswege mehr gibt, und die nur mit direkter Gewalt unter Kontrolle zu halten ist: durch Militärdiktaturen, Folterregime vor Ort und durch ein militärisches Vernichtungspotential, mit dem der Reichtum der Industrienationen gegen die Armut, die er produziert, sich abzuschirmen versucht.
    Jede Verurteilung zieht den Urteilenden in den Bann der Logik der Taten hinein, auf die das Urteil sich bezieht. Hilflos, und in der letzten Konsequenz selbstmörderisch, ist jeder Antifaschismus, der den Schrecken nur durch Verurteilung zu bannen versucht, anstatt ihn zu reflektieren. Nicht daß der Staat „sein wahres Gesicht zeigt“, hilft aus der Gefahr, sondern nur eine Erkenntnis, die ihm den Spiegel der Erinnerung vorhält, in dem er sich selbst erkennt. Im Faschismus hat der Staat sein wahres Gesicht gezeigt, und wer die Wiederholung heraufbeschwören möchte, weiß nicht wovon er redet.
    Scheitert nicht die Kritik Carl Schmitts bis heute daran, daß sie ein logisches Problem mit einem ideologischen verwechselt, daß sie eine verzweifelte Einsicht in die Fundamente des Staates, der Welt und der Zivilisation zu einer bloßen Gesinnung verharmlost und neutralisiert.
    Die Notstandsgesetzgebung hat versucht, den Schmittschen „Ausnahmezustand“ beherrschbar zu machen; sie hat damit an eine Tradition angeknüpft, die einmal Hitler den Weg frei gemacht hat.
    Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Tötung des GSG-9-Beamten in Bad Kleinen nicht durch Wolfgang Grams erfolgte, daß die Schüsse von Wolfgang Grams, die möglicherweise niemanden getroffen haben, in Notwehr erfolgten, und daß umgekehrt Wolfgang Grams selber von durchgedrehten Beamten, die damit den einzigen Zeugen beseitigen wollten, hingerichtet worden ist. Kann es sein, daß dagegen ein „rechtskräftiges“ (damit aber nicht notwendig wahres) Urteil gesetzt werden soll, das der Erforschung der Wahrheit eine juristische Hürde in den Weg stellen soll, auch um den Preis, daß eine nachweislich Unschuldige stellvertretend verurteilt und bestraft werden soll. Kann die Bundesrepublik vor diesem Hintergrund sich einen Prozeß wie den gegen Birgit Hogefeld überhaupt leisten?

  • 14.12.95

    Vollendung der Mechanik: Wenn das Bestehende zum Betonklotz wird, dann müssen seine Kritiker aufpassen, daß sie nicht zu Betonköpfen werden.
    Zum Begriff der Religion: Nicht mehr Kitt, sondern Zement; nicht die Fensterscheibe, die die Innen- von der Außenwelt oder den Käufer vom Warenangebot trennt, sondern die Betonwand, an der man sich den Kopf einrennt. Im Bildschirm des Fernsehers maskiert sich diese Betonwand als Fenster. Das Fernsehen hat die Wohnungen zu Monaden gemacht: sie sind fensterlos (seitdem vertragen die real existierenden Fenster keine Gardinen mehr). Das Fernsehen transportiert nicht das Warenangebot ins Wohnzimmer, sondern das Wohnzimmer ins Innere der Ware (das sich beim Erwachen aus dem Alptraum der Logik des Tauschprinzips als das Innere der Hölle erweisen wird).
    Faschismus als Modernisierungsschub: War Hitler der Vorläufer, das Modell und die Keimzelle des Fernsehens? Läßt diese Frage in eine der Kritik der politischen Ökonomie sich übersetzen (Selbstzerstörung der politisch-moralischen Kategorie der Souveränität)?
    Das Wort, daß der Menschensohn auf den Wolken des Himmels (wieder-)kommen wird, enthält einen Hinweis auf einen Prozeß im Begriff und in der Struktur der Öffentlichkeit, auf den wirklichen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“.
    In der Unterscheidung von Macht und Herrschaft spiegelt sich die von Wut und Zorn. Zur Bestimmung der Begriffe Herrschaft, Macht und Gewalt vergleiche die Bemerkungen von Emmanuel Levinas zum Begriff der Gewalt (Schwierige Freiheit, S. 19, 25). Sind nicht Gewalt und Macht Manifestationen der Herrschaft, reflektiert im Medium der Gemeinheit (der Urteilsform), und verhalten sich Gewalt und Macht wie Natur und Welt (wie Objekt und Begriff)? Deshalb ist die Frage der Gewalt eine essentielle Frage der Linken, die der Welt ihre Naturseite (der Weltgeschichte die Naturgeschichte) vorhält, während die Machtfrage das Erkennungszeichen, an dem die Rechten sich erkennen, ist (Gewalt ist eine Form der Herrschaft, die den Begriff nicht halten kann).
    Gewalt ist ein Akt der Befreiung, nur die Nazis haben „die Macht ergriffen“.
    Unterm Rechtfertigungszwang schnurrt die Wahrheit zusammen zur Ideologie, zum puren Bekenntnis, entfaltet sich in ihr die Bekenntnislogik, zu deren Elementen das Feindbild, die Eliminierung der Häretiker und der Sexismus, die Frauenfeindschaft, gehören.
    Wenn ein Mord sich verständlich machen, niemals aber sich begründen läßt, dann einzig unter dem Aspekt der Notwehr, aber nicht mit dieser unsäglichen Begründung, daß Geiselnahme immer auch die Möglichkeit des Tötens mit einschließt (gleichsam eine Situation, in der Notwehr sich nicht ausschließen läßt), oder dem Hinweis auf „absolut negative Menschen“, die nicht sich ersetzen lassen. Diese Logik ist antisemitisch (der Holocaust wurde als ein präventiver Akt der Notwehr verstanden, die jüdische Rasse als eine Gruppe absolut negativer Menschen).
    Der Versuch, einen Mord zu rechtfertigen, gerät zwangsläufig zur Begründung, zur Festlegung einer Norm, die dann auch auf andere Fälle sich anwenden läßt. Da aber sei Gott vor.
    Läßt sich nicht die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht auf die Nachkriegsgeschichte anwenden, in der die Verlierernationen (Deutschland und Japan) am Ende über die ehemaligen Siegermächte triumphieren?
    Sind nicht die Streiks in Frankreich eine Folge der Übertragung der deutschen Wirtschafts- und Währungspolitik (Standort Deutschland und Stabilität der DM) auf die EU? Und ist nicht die Konstruktion der EU, die nur eine neue, demokratisch weder legitimierte noch kontrollierte Verwaltungsebene geschaffen hat, ein Hinweis auf die politisch-ökonomischen Gesteinsverschiebungen, die der Faschismus ausgelöst hat: der Sieg der Ökonomie über die Politik, die Rückverwandlung von Politik in Verwaltung? Ein Subjekt dieses Vorgangs ist nicht mehr erkennbar, der rechtspolitische Begriff der Souveränität (das Bewußtsein der Verantwortung des Staates für die Herrschaft der Gerechtigkeit und des Friedens, das ersetzt worden ist durch den gegen jede Kontrolle abgeschirmten Gebrauch des staatlichen Gewaltmonopols) ist endgültig gegenstandslos geworden. Wozu der Staat allein noch gebraucht wird, ist ideologischer Natur: er ist zur Exkulpationsmaschine geworden, der die Gewalt, die er nicht mehr beherrschen kann, wenigstens rechtfertigen soll.
    Hat nicht Heinrich Böll mit seinem Wort vom verfaulenden, verrotteten Staat ein Stichwort geliefert, das in der Lage wäre, das Marxsche Konzept vom Absterben des Staates zu spezifizieren: Der Staat ist abgestorben, aber ohne daß etwas anderes an seine Stelle getreten wäre, und wir wohnen im Augenblick dem Verwesungsprozeß bei, dem Prozeß der Verrottung und gleichzeitigen Vergiftung aller Lebensverhältnisse.
    Der Staat hat in einer Reihe von Institutionen die Einrichtungen geschaffen, die dazu dienen, ihm die Last Souveränität, der Entscheidung und der Verantwortung dort, wo er sich unfähig weiß, sie zu tragen, abzunehmen (Verfassungsgericht, Bundesbank). Die wütende Reaktion auf einige Urteile des BVG, die dem Exkulpationsbedürfnis des Staates nicht entgegenkamen, ist nur so zu erklären. Der vorauseilende Gehorsam der Deutschen Bundesbank, ist da schon genehmer.
    Der Kopf des Fisches: Der Verrottungsprozeß des Staates hatte eine Vorgeschichte, er war schon zu erkennen an seinen letzten höchsten Repräsentanten, am Kaiser Wilhelm und an Hitler.
    Versucht nicht dieser Prozeß gegen Birgit Hogefeld die Verfahren gegen die raf auf eine neue Ebene zu schieben? Geht es jetzt nicht energisch an das Konzept der Konstruktion synthetischer Urteile apriori, der Einbeziehung des ganzen raf-Komplexes in ein reines Subsumtionsrecht, in dem es dann auch der Kronzeugen nicht mehr bedarf? Dazu gehört u.a. das Verfahren der Einführung bereits rechtskräftiger Urteile, die falsch sein mögen, die aber den Vorzug haben, daß sie einer nochmaligen Beweisführung nicht mehr bedürfen, somit gegen jede erneute Diskussion abgesichert sind. Hierher gehört insbesondere auch der Teil aus der Anklage gegen B.H., der auf ihre Beteiligung an dem „Mord“ und den „Mordversuchen“ in Bad Kleinen abstellt. Wird hier nicht eine Logik konstruiert, die dann als Subsumtionslogik auf alle weiteren raf-Verfahren, die noch anstehen mögen, anwendbar wäre, in jedem Falle aber die Wirkung einer Präventivabschreckung haben würde. Einer Präventivabschreckung, die u.U. dann auch auf den gesamten Bereich der herrschaftskritischen Reflexion und gegen jede Form der Staatskritik sich anwenden ließe (die Habermassche Konzeption des herrschaftsfreien Diskurses, könnte sich als ein Stück vorauseilenden Gehorsams erweisen), nach dem mittelalterlichen Rechtsgrundsatz: Mitgefangen, mitgehangen.
    Hat nicht der Gesetzgeber dem schon vorgearbeitet, und tut er es nicht weiterhin? Nur: Niemand merkt’s mehr. Wenn’s hoch kommt, dann reicht’s nur zum folgenlosen Protest.
    Der Frontbegriff und die Verräterdiskussion waren logische Fallen, in die alle Empörten hereingelaufen sind. Die Empörungslust war von Anfang an sexistisch.
    Die Uniform hebt das Tötungsverbot auf, indem sie das Gesicht löscht. (Welche Konsequenzen hat dieser Satz für das Verständnis des Hegelschen Begriffs der „Aufhebung“? Ist die Aufhebung der Transformator, der das Gebot in ein Gesetz verwandelt, gehört der Begriff der Aufhebung zu den Konstituentien der Bekenntnislogik? Ist das Dogma die aufgehobene Wahrheit?)

  • 13.12.95

    Heute zerstört das Hegelsche Weltgericht die moralischen und natürlichen Grundlagen des Lebens.
    Propheten: Nicht die Väter und nicht die Herren, sondern die Söhne und Töchter werden weissagen, die Greise werden Träume träumen, die Jünglinge Gesichte sehen, über die Knechte und Mägde wird Gott seinen Geist ausgießen.
    Zu Birgit Hogefeld vgl. Christina von Brauns Bemerkungen über die Ursprung und Geschichte der Hysterie (ein Produkt männlicher, sexistischer Definitionsmacht), die Beziehung von Hysterie und Barmherzigkeit (deren hebräischer Name aus dem der Gebärmutter sich herleitet).
    Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld ist ein Prozeß, der auch gegen die Öffentlichkeit geführt wird: Die Diskriminierung der Linken unterwirft die Öffentlichkeit Rechtfertigungszwängen und desensibilisiert sie zugleich. Nur in diesem Kontext wird der Angeklagte zum Feind, werden Verteidiger und Prozeßbesucher zu Sympathisanten. Restituierung des mittelalterlichen Rechtsprinzips „Mitgefangen, mitgehangen“. Das Perverse ist, daß Birgit Hogefeld, deren Erklärungen durch ein hohes Maß an Reflexion sich auszeichnen, weder durch ihr Verhalten noch durch den bisherigen Prozeßverlauf das Bild bestätigt, in das die Anklage und offensichtlich auch das Gericht sie hineinzwingen wollen (gespenstisches Gefühl, der Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori beizuwohnen). Stigmatisiert wird die Angeklagte nur durch die Rahmenbedingungen des Prozesses, der als „raf-Prozeß“ mit dem eingespielten Ritual (martialisches Polizeiaufgebot, teilweise mit Maschinenpistolen, Polizeihunden; entwürdigende, die Besucher diskriminierende und die Öffentlichkeit abschreckende Eingangskontrollen) geführt wird. Offene Angriffe gegen Prozeßbesucher (auch gegen die Mutter der Angeklagten), nicht nur von Polizeibeamten, sondern auch von Bundesanwaltschaft und Nebenkläger, ohne daß der Senat sich veranläßt sähe, einzugreifen, während die Angeklagte und ihre Verteidigung Einschränkungen unterworfen werden, die teilweise den Eindruck erwecken, daß sie der strategischen Absicherung der „Beweisführung“ dienen.
    Wie hängt die Feindbildlogik, die das Verfahren zu beherrschen scheint, mit dem theologischen Erbe des „stellvertretenden Opfers“ zusammen? Nach staatlicher Rechtslogik bedarf der „Mord“ an dem GSG-9-Beamten der „Sühne“. Die ist aber am toten Wolfgang Grams juristisch nicht mehr möglich (man kann keinen Prozeß gegen einen Toten führen). Diese „Sühne“ ist an ihm möglicherweise schon vollstreckt worden, was jedoch aufgrund eines Senatsbeschlusses nicht in die Beweisführung mit eingebracht werden darf. Die Unschuld des Staates, die dann auch die, die ihn vertreten, freispricht, ist erst gewährleistet, wenn die Tat, die nicht aufgeklärt werden darf, stellvertretend an einer Person gesühnt wird, auch wenn mit Sicherheit feststeht, daß sie sie nicht begangen hat.
    Ein ganzes System von Schuldverschiebungen ist erforderlich, um hier zu einem Urteil zu kommen, das das leistet, was es leisten soll: den Staat freisprechen, und mit ihm die Bundesanwaltschaft und das Gericht, die ohnehin den Eindruck erwecken, daß sie den Grundsatz „In dubio pro reo“ für die Angeklagte nicht mehr verfügbar haben, da sie ihn schon für sich verbraucht haben.
    Ist nicht der Titel Staatsanwalt Teil einer Rechtslogik, deren erster Zweck nicht die Begründung und Förderung von Gerechtigkeit, sondern die Freisprechung des Staates ist? Nur dieser Staat braucht – wie sonst nur ein Beschuldigter – einen Anwalt. In zivilisierteren Ländern gibt es den öffentlicher Ankläger, der schon sprachlich, durch seine Berufsbezeichnung, der Komplizenschaft mit dem Staat enthoben ist. Beim Staatsanwalt, der nicht in eigener Verantwortung die Anklage vertritt, besteht ein gleichsam existentielles Interesse am rechtsförmlichen Nachweis der Unschuld des Staates. Nur so kann der Staat das leisten, was der Staatsanwalt von ihm als Gegenleistung für seinen Dienst erwartet: Ihn von der Verantwortung für die belastende Tätigkeit des Anklägers befreien (er tut nur seine Pflicht).
    Die Verdrängung der Sensibilität, die bewußtlose Form der Gemeinheit, die Gemeinheit mit gutem Gewissen, produziert den empfindlichen Staat, einen Staat, den man nicht ungestraft verunglimpfen darf. Die Empfindlichkeit des Staates ist ein Gradmesser seiner Schuldverstrickung und seiner Verdrängungsleistung (gründet nicht jeder Fundamentalismus in einer solchen Empfindlichkeit, und ist deren subjektive Wurzel nicht die Empörung?).

  • 12.12.95

    Müßte der Titel des Buches von Heribert Prantl nicht anders lauten, anstatt „Deutschland, leicht entflammbar“: „Deutschland brennt“ (oder, um den Anschluß an Ulrich Sonnemanns vor 32 Jahren erschienenes Buch herzustellen: „Jenseits der Grenze der Zumutbarkeit“, mit der anzuschließenden einfachen Frage: Wie lebt sichs da)?
    Sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung (ist nicht das Sehen) das Korrelat und zugleich ein Produkt der Bekenntnislogik? Und gründet nicht der wissenschaftliche Begriff der Kritik darin, daß zuvor das Bekenntnis aus einer Theorie herauspräpariert werden muß, wodurch sie zu einem Gegenstand der Kritik überhaupt erst gemacht wird? Hängt nicht die Bekenntnislogik über die gemeinsame Beziehung zur Gemeinheit mit der Beweislogik zusammen (und sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung Formen, die sich selbst beweisen, Formen mit einer eigenen, selbsttätigen Beweisautomatik – vgl. Off 1713.17)? Die Bekenntnislogik ist die Logik des Schuldverschubsystems. Die ihr zugrundeliegende Schuldumkehr ist der Grund der Trennung von Natur und Welt.
    Die kantische Unterscheidung im Erkenntnisbegriff, den er in femininer und in neutraler Form verwendet (die Erkenntnis, das Erkenntnis), bezeichnet genau den Ursprungspunkt des Gemeinheitsmoments in der Erkenntnis, den Punkt, an dem Genesis und Geltung sich trennen. Die Generalisierung des Femininum war eigentlich eine Neutralisierung, die die Erkenntnis an ihrer Wurzel vergiftet hat. Seitdem ist die Erkenntnis unfruchtbar und kinderlos (die Verkörperung der Unfruchtbarkeit und Kinderlosigkeit ist das Dogma). Was hat Kant mit Sara (der Mutter Isaaks), Hanna (der Mutter Samuels) und Elisabeth (der Mutter des Täufers) zu tun?
    Die feministische Theologie ist ein notwendiger und längst fälliger Ausbruchsversuch aus der Bekenntnislogik. Hierzu gehört auch ein Titel wie der des „Schwarzmond-Tabu“ von Jutta Voss, ein drastischer Beleg für die Notwendigkeit des Ausbruchs (vgl. auch Birgit Hogefeld, „Ich verstehe: DAS muß frau verstecken“, in Info 8 zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld, Anfang Dezember 95). Sind nicht die entscheidenden Texte der feministischen Theologie jene, die sich gegen die Vergewaltigung durch die Bekenntnislogik wehren? Es ist wahr, im Christentum kommen seit Paulus die Töchter und die Schwestern nicht mehr vor. Die letzte Erinnerungsspur ist die völlig mißverstandene Maria Magdalena, das verdrängte und diskriminierte Gedächtnis der Befreiung von den sieben unreinen Geistern. Die Bekenntnislogik ist in der Tat eine männliche Logik: die Logik, die Sara, Hanna und Elisabeth unfruchtbar macht. Die Bekenntnislogik ist das Medium der Erzeugung und Reproduktion der Gemeinheit in der Theologie. Sie hat den Zugang zur Erkenntnis des Gottesnamens verlegt. Ist nicht der Gebrauch des Vaternamens unverständlich, obsolet geworden, nachdem niemand mehr das Erbe der Barmherzigkeit antreten will? Wartet nicht immer noch die ganze Schöpfung auf das Offenbarwerden der Freiheit der Kinder Gottes?

  • 11.12.95

    Was bedeutet der Begriff der Heiligung in dem Satz „Der Zweck heiligt die Mittel“? Heißt es nicht, daß hier eine Sache nur der Kritik entzogen wird? Gehört es nicht in einen Zusammenhang, in dem Blasphemie und Majestätsbeleidigung (Verunglimpfung staatlicher Symbole) nicht mehr sich unterscheiden lassen, ist es nicht eine Heiligkeit, die als Unberührbarkeit der Macht sich begreift: als Verdinglichung des Heiligen? Es ist das genaue Gegenteil des Begriffs der Heiligung, der dem Gebot der Heiligung des Gottesnamens zugrundeliegt.
    Zum Begriff des Neutrums gehört auch die grammatische Form des Indikativs, einer sprachlichen Form der Objektivität, die von allem Subjektiven (Wunsch, Zweifel, subjektiv Möglichem) gereinigt ist, das dann in den Konjunktiv verschoben wird. Im Lexikon der Sprachwissenschaft (Kröner, Stuttgart, 19902) wird der Indikativ als „neutraler Darstellungsmodus“ definiert (S. 407). Vgl dazu Hegels Bestimmung des Ursprungs und der Form der Prosa (ein Begriff, der im ebengenannten Lexikon ebensowenig vorkommt, wie auch nur ein Ansatz zu einem Versuch der sprachlogischen Bestimmung des Neutrums).
    Als Habermas mit dem Titel „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ das Thema verfehlte, hat er sich von der kritischen Theorie verabschiedet. Seitdem gilt er als ihr Vertreter.
    Heute ist die Gegenwart in einem Maße historisiert, daß jeder kritische Impuls Gefahr läuft, sich ins Kontrafaktische zu verlieren (zum ohnmächtigen und unverbindlichen Räsonnement wird, das die Betonwand des Wirklichen nicht mehr zu durchdringen vermag). Die kontrafaktische Reflexion bezieht sich nicht mehr nur auf vergangene Entscheidungen, sondern die Gegenwart selber ist in einem Maße vorentschieden, daß Reflexion insgesamt in Gefahr ist, kontrafaktisch zu werden.
    Merkwürdiges Gefühl beim Heribert Prantl: Er rührt an den Kern der Dinge, aber auf eine bloß noch räsonnierende Weise: auf die Weise des resignierten, ohnmächtigen Protests, dem die Kapitulation vor der Übermacht des Bestehenden schon einbeschrieben ist (vgl. Ulrich Sonnemann: Der verwirkte Protest, in: Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, Hamburg 1963).
    Als Habermas die Natur von der Hoffnung auf eine befreite Gesellschaft ausschloß, hat er vor der Übermacht des Bestehenden kapituliert.
    Heute reflektieren alle nur noch über die Sache, anstatt die Sache zu reflektieren. Wäre der Satz, mit dem das kommunistische Manifest beginnt: „Ein Gespenst geht um in Europa – …“, heute nicht anders weiterzuführen: Anstatt auf den Kommunismus wäre er heute auf die Gestalt des abgestorbenen Geistes (und nur so gewinnt der Name des Gespensts Realität), die in den Banken umgeht und rumort, zu beziehen. Der Macht und dem Tun dieses Gespenstes ist es zu danken, wenn heute der Name des Geistes endgültig obsolet geworden zu sein scheint. Als der Faschismus Vergangenheit geworden ist, hat er die Gegenwart in diesen Hades mit hereingezogen. Auf dem Boden der Katastrophe gibt es nur noch die Macht der Reflexion; wer glaubt, auf diesem Boden eine andere Welt erbauen zu können, wird in ihren Strudel mit hereingezogen. Wenn die kopernikanische Wende (die neue Astronomie) die Neukonstituierung der politischen Institutionen begleitet, ist dann nicht das Medium, in dem die neue Physik sich herausgebildet hat, insbesondere die Elektrodynamik, Symptom des Ursprungs und der Entfaltung jener Macht, die die politischen Institutionen der Moderne unterminiert, neutralisiert und verdrängt: der Ökonomie?
    Gründet nicht die Verdrängung der Kritik der subjektiven Formen der Anschauung in der bewußtslosen Anwendung des Satzes, daß der Zweck die Mittel heiligt? Der diesem Satz zugrundeliegende Begriff der Heiligung steht in genauestem Gegensatz zum Gebot der Heiligung des Gottesnamens. Die Heiligung des Gottesnamens ist ein Erkenntnisgebot, die Heiligung der Mittel durch die Zwecke ist ein Ensemble von Tabus, von Verdrängungen, von Erkenntnisverboten (Quellpunkt des Opfers der Vernunft).
    Wer das, was Bundesanwälte, Richter und die Polizei sich heute selber antun, beim Namen nennt, beleidigt sie. Damit hängt es zusammen, daß es einen herrschaftsfreien Diskurs solange nicht geben wird, wie es nicht gelingt, die Reflexion von Herrschaft auch in die Institutionen des Rechts hineinzubringen.
    Der Drache, das Tier aus dem Meere und das Tier vom Lande: Es gilt zu begreifen, daß das Neutrum zwar ein Instrument der Desensibilisierung ist, selber aber das sensibelste, empfindlichste Wesen ist (Geld macht sinnlich).
    Die Exkulpationsmacht des Staates ist nur solange zu halten, wie sie selber der Reflexion und der Kritik sich entzieht (durchs Tabu, durch den Schutz vor „Verunglimpfung“). Wäre nicht das adornosche Stichwort der „vollständigen Säkularisation aller theologischen Gehalte“ zu ersetzen (und zu erfüllen) durch die restlose Reflexion des Säkularisationsprozesses, zu dessen Geschichte die der Theologie dazugehört? Für den Mord an Menschen, die herrschaftskritische Hoffnungen verkörpern, gibt es unendlich viele Beispiele. Gibt es ein einziges Beispiel eines wirklich gelungenen Tyrannenmords? Ist nicht das einzige historische Beispiel hierfür der Mord an Julius Caesar, der real den Caesarismus (bis hinein in den Caesarismus der dogmatischen Theologie, in dessen Kern die Opfertheologie steht, die eher auf die Ermordung Caesars als auf den Kreuzestod Jesu sich beziehen läßt) überhaupt erst begründet hat? War nicht Brutus das Modell für das christliche Verständnis des Verräters Judas? Die Kosmologie, die Naturphilosophie und dann die Naturwissenschaft sind der Schatten und das Reflexionsmedium der Staatenbildung.

  • 10.12.95

    Die Idee des Heiligen ist jener Verdinglichungslogik zu entreißen, in die Rudolf Otto sie verbannt hat.
    Im Kontext der drei theologischen Gegenstände: Angesicht, Name und Feuer, steht das Feuer fürs Gebet (vgl. den Vers aus dem Sonett Reinhold Schneiders: „Allein den Betern kann es noch gelingen, …“, den letzten Satz in Blochs „Geist der Utopie“: „… und die Wahrheit als Gebet“, und die Verknüpfung des Gebets mit dem Versöhnungsgebot im Evangelium).
    Es gibt nicht „das Gute“, das ist eine platonische Erfindung. Das Gute ist immer das Gute für jemanden, und das gilt auch für den Gebrauch dieses Begriffs im Schöpfungsbericht (und Gott sah, daß es gut war), wobei der Name Elohim, das Sehen und das Adjektiv „gut“ zusammengehören. Das Gute ist ein Korrelat des Sehens, nicht der Hörens, es ist ein Korrelat des Gerichts (des Urteilens), nicht der Barmherzigkeit. Beim J gehört die Erkenntnis des Guten und Bösen (als Teil der richtenden Erkenntnis) zum Sündenfall, sie ist eine herrschaftsbegründende Erkenntnis.
    Ist es nicht eine fatale Verschiebung, die durch die Übersetzung ins Griechische, zuerst durch die LXX, in die Schrift hereingebracht worden ist, wenn der Gottesname JHWH mit kyrios, Herr, wiedergegeben wird? In Ps 1101: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten“, ist hiernach der Herr (die Verkörperung der Barmherzigkeit) vom Herrn (dem Namen der Herrschaft) nicht mehr zu unterscheiden. Rühren nicht wesentliche Probleme der Evangelien daher, daß die Unterscheidung der Gottesnamen fast unmöglich geworden ist:
    – Im messianischen Titel Gottessohn ist nicht mehr erkennbar, ob der darin zitierte Gottesname auf Elohim oder auf JHWH sich bezieht. Was bedeutet das für die, die Jesus Gottessohn nennen (Petrus, die Dämonen)? Ist der Titel Gottessohn (hyos theou) wirklich identisch mit dem Namen des Sohnes in dem Satz „mein Sohn bist du“, in dem das „mein“ vom Ursprung her auf JHWH (den Barmherzigen), und nicht auf „Gott“ (die Übersetzung von Elohim) sich bezieht?
    – Ist der Vatername die neutestamentliche Version des Namens JHWH (auch das würde den Titel Gottessohn in ein anderes Licht rücken)?
    Haben das Dogma, die Opfertheologie, die Bekenntnislogik aus dem Sohn der Barmherzigkeit den Sohn des Gerichts gemacht?
    Bindung Isaaks: Die Aufforderung, den einzigen Sohn als Opfer darzubringen, geht vom Engel Elohims, gerettet wird Isaak (und mit ihm das Erbe Abrahams) durch den Engel JHWHs. Es ist JHWH, der das Volk Israel begründet.
    Hodie, si vocem ejus audieritis: Hegel hat den Isaak geopfert, seine Ohren gegen das Wort des Boten JHWHs verstopft.
    Gehören nicht die beiden Sätze (vom Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt, und der andere: Ehe Abraham ward, bin ich) zusammen, und werden nicht beide falsch, wenn man sie indikativisch versteht? Gehören nicht beide in den Kontext des Nachfolgegebots, und werden sie nicht aus diesem Kontext und dann auch von einander getrennt durch die Opfertheologie, durch das theologische Konstrukt des „stellvertretenden Opfers“?
    Der Staat ist die Instrumentalisierung Elohims; darin gründet seine weltkonstituierende Funktion.
    Solidarität ohne Komplizenschaft: Auch die Aktionen der raf müssen reflexionsfähig gehalten werden. Lernfähigkeit schließt auch die Fähigkeit mit ein, Vergangenes an seinen Folgen zu messen.
    Zur Kritik der Beweislogik (oder zur Logik des nachfaschistischen Staates): Dem Titel Staatsanwalt liegt ein instrumentalisiertes Verständnis des Begriffs der Anklage zugrunde: Während ein öffentlicher Ankläger seine Ermittlungen und die daraus abzuleitende Anklage selber verantworten muß, wird dem Staatsanwalt diese Verantwortung durch den Staat abgenommen. Die Anklage wird zu einem Attribut des Staates, zu einem Teil seines Wesens. Der Titel des Staatsanwalts begründet eine ihm eigene Exkulpationsautomatik, er macht den Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist, indem er ihn instrumentalisiert, unangreifbar. Eben damit aber verwischt er die Grenze zwischen dem Angeklagten und dem Feind.

  • 9.12.95

    Politische Naturgesetze und das Gewaltmonopol des Staates: Auch eine Mauer aus Paragraphen ist undurchdringlich. Die bundesdeutsche Asylgesetzgebung unterscheidet sich von der von der DDR errichteten Mauer nur durch die Richtung der Abschreckung: Die eine sollte keinen heraus-, die andere niemanden hereinlassen. In beiden Fällen erweist sich die gesetzlich installierte Gewalt als das politische Korrelat des physikalischen Trägheitswiderstandes.
    Ebenso wie es am Ende des Zweiten Weltkrieges keinen Friedensschluß mehr gegeben hat, gibt es seitdem keine erklärten Kriege mehr. Konflikte „brechen aus“ wie ein Vulkan. Kriege sind zu Naturereignissen geworden. Ist das nicht der entscheidende Hinweis, daß die politische Ökonomie insgesamt in Natur regrediert, daß sie ebenso unbeherrschbar geworden ist wie diese? Der Neoliberalismus, der für die uneingeschränkte Wirksamkeit der Marktmechanismen und -kräfte (für die Naturalisierung der Gesellschaft) sich einsetzt, ist die Ideologie dieses Zustandes, das Alibi für den Verzicht auf eine von bloßer Verwaltung sich unterscheidende Politik. Regieren ohne die Idee einer moralisch verantwortbaren Souveränität kann nur noch heißen: Aussitzen. Wenn die Grenzen der moralischen Legitimität des Handelns aufgehoben sind, begründen Macht, Gewalt und Erfolg sich gegenseitig, gibt es zu dem, was ohnehin sich durchsetzt, keine Alternative mehr.
    Keiner Generation hat sich die Gewißheit, daß die Vergangenheit sich nicht ändern läßt, so tief eingeprägt wie der Generation nach Auschwitz. Aus dem gleichen Grunde ist diese Generation ausweglos auf Rechtfertigungszwänge fixiert. Alles Handeln wird, wenn der Blick auf eine Änderung der Dinge, auf die Fähigkeit und die Kraft, in den Gang der Dinge einzugreifen, versperrt ist, allein noch unter dem Gesichtspunkt der Schuld, und d.h. im Bann des Rechtfertigungszwangs wahrgenommen.
    Ist nicht das Bilderverbot eigentlich das Verbot, von der Schwerkraft (vom Schuldzusammenhang) zu abstrahieren? Fällt nicht die kopernikanische Wende (und mit ihr die modernen Naturwissenschaften und der deutsche Idealismus) unters Bilderverbot? Und ist nicht die Ästhetik insgesamt, die in der modernen Welt zusammen mit der Geldwirtschaft, den Anfängen der Naturwissenschaft und dem Ursprung des konfessionellen Christentums entspringen, ein Produkt der Abstraktion von der Schwere (vgl. die Frage Rosenzweigs, ob Künstler selig werden können)?
    Zusammen mit einem Recht ohne Feindbild und ohne Kronzeugenregelung wünsche ich mir Solidarität ohne Komplizenschaft.
    Wer über Fehler nicht mehr nachdenken will, blockiert die eigene Lernfähigkeit. Man sollte die Kritik der raf nicht allein der Bundesanwaltschaft überlassen (und nicht jeden Kritiker für einen Sympathisanten der Bundesanwaltschaft halten).
    Darüber, ob die raf die Politik in der BRD nach rechts gerückt hat, wird man diskutieren können (und müssen). Ohne Zweifel war das nur möglich, weil das Potential dafür schon (oder immer noch) vorhanden war. Aber hätte nicht die raf diese Situation mit reflektieren müssen: Kann man wirklich die ganze linke Diskussion vor 68, von der nach 68 nicht viel übrig geblieben ist, durchstreichen und vergessen? Zwischen Lenin und der raf gibt es immerhin Namen wie Rosa Luxemburg, Georg Lukacs, Karl Korsch, Rudolf Hilferding, auch Ernst Bloch, Walter Benjamin, Horkheimer und Adorno: Wer diese Tradition glaubt links liegen lassen zu können, darf sich nicht wundern, wenn er nicht nur der Rechten Tür und Tor öffnet, sondern sich selbst am Ende rechts wiederfindet.
    Lehrstück der Dialektik: Hat nicht die raf dem Staat, der auf dem Sprung nach rechts war, Hilfestellung geleistet, ihm dazu das Rüstzeug, das er brauchte, geliefert?
    Gegen Habermas: Die Dialektik der Aufklärung ist nicht das „schwärzeste Buch“, sondern eine der genauesten Analysen einer der finstersten Perioden der europäischen Geschichte. Anstatt diese Analyse bloß abzuwehren, käme es viel mehr darauf an, sie auf den gegenwärtigen Stand zu bringen. Die Historisierung dieses Buches war eines der wirksamsten Mittel seiner Neutralisierung. Seine, weiß Gott, weiterbestehende Aktualität wäre zu retten.

  • 8.12.95

    Gibt es ein kosmologisches Äquivalent der Logik der Schrift? Ist nicht die Kosmologie (und der Ursprung des Weltbegriffs) insgesamt ein Produkt der Logik der Schrift? Wäre vor diesem Hintergrund nicht die biblische Wendung „Erfüllung der Schrift“ (und ihre Beziehung zur Katastrophe, zuletzt zum Kreuzestod Jesu) genauer zu bestimmen?
    In welcher Beziehung steht die Logik der Schrift zum Buch des Lebens?
    Die Bekenntnislogik, das sind die Dornen und Disteln; sie definiert das Gesetz der Profangeschichte.
    Die Bekehrung ist die instrumentalisierte Umkehr; die Bekenntnislogik beschreibt das Gesetz dieser Instrumentalisierung.
    Nicht auf die Hypostasierung der Ursprünge: auf die Reflexion der Ursprungsgeschichte kommt es an.
    Die Kriminalpolizei rät: Schüren die Ratschläge der Kriminalpolizei nicht genau die Ängste, denen sie dann abhelfen sollen? Diese Ängste sind nicht von vornherein irrational, sie werden es durch Einbeziehung in ein Kriminalisierungskonzept, indem sie das Machtdenken befördern (law and order).
    Reflektiert sich darin nicht ein Stück Logik-Geschichte (und ihrer Beziehung zur Herrschaftsgeschichte): Die Kriminalisierung ist in der Sphäre zwischen Begriff und Objekt angesiedelt, sie ist ein Instrument zur Stabilisierung des Begriffs, was nur zu Lasten des Objekts (im Kontext seiner Kriminalisierung) möglich ist. Kein Urteil (kein Begriff und kein Objekt) ohne Verdrängung. Auch das Strafrecht, die Justiz und die Knäste (mit denen der Staat dem Volk einen Teil seiner Verdrängungsleistung abnimmt) haben eine bewußtseinsstabilierende Funktion.
    Liegt nicht der Beschluß des 5. Senats des OLG Frankfurt im Hogefeld-Prozeß, der jede Rückfrage zum Tod von Wolfgang Grams unterbindet, auf der gleichen Ebene wie der Beschluß, in dem es zu Hubertus Janssen heißt: „der sich als Pfarrer bezeichnet“? Beides gehört zum Komplex der Beziehung von Gemeinheit und Beweislogik.
    Die Ausblendung der Umstände des Todes von Wolfgang Grams hat natürlich auch die Funktion, alles auszublenden, was der Mordthese, in die dann Birgit Hogefeld mit einbezogen werden kann, im Wege stehen könnte. Der Beschluß des Senats ist ein Baustein in der Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori (Indiz eines Versuchs der Rechtsbeugung?).
    Das Verhalten des Senats erweckt den Verdacht, daß seine Beschlüsse strategische Beschlüsse sind, deren vorrangiger Zweck es ist, die Verfertigung eines synthetischen Urteils apriori sicherzustellen.
    Ob der, dem man nichts nachweisen kann, auch vor sich selber unschuldig ist, ist eine andere Frage. Ist es nicht in der Tat wichtiger, mit sich selbst ins Reine zu kommen, als unter dem Zwang des guten Rufs den Rechtfertigungszwängen zu verfallen?
    Wie hängt der Satz „Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand“ mit dem Eindruck zusammen, daß im Hogefeld-Prozeß, wie in den raf-Prozessen überhaupt, der Angeklagte nicht mehr Angeklagter, sondern Feind ist? Wie hängt das Feinddenken mit der Gemeinheitslogik zusammen?
    Die Sozialdemokratische Partei scheint nicht zu begreifen, was z.Z. in Frankreich sich tut: Verweisen nicht die Streiks in Frankreich aufs deutlichste auf den Zusammenhang der Bedingung der Geldwert-Stabilität, an die die Einführung einer einheitlichen europäischen Währung gebunden ist, mit dem Zwang zum Abbau der Sozialleistungen? Ist nicht schon dieses Nicht-Begreifen der Beitrag der SPD zum Sozialabbau in Deutschland? Aber hat das Bedürfnis der Sozialdemokraten in Deutschland, von den Herrschenden anerkannt zu werden, nicht schon seit je ihre Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit aufs empfindlichste und aufs folgenreichste behindert?
    Die subjektiven Formen der Anschauung rücken die Welt ins Licht des Prinzips der Selbsterhaltung, in dem sie zur Welt erst wird.
    Das indogermanische Präsens gehört zu einer Welt, die ihr perfectum nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit hat; einer Welt, die sich nicht ändern läßt. Diese Welt konstituiert sich im Kontext der Anschauung, als deren Korrelat.

  • 6.12.95

    Definition der Prophetie (für Jürgen Ebach): So tief in einen Sachverhalt eindringen, daß die Zukunft in ihm ablesbar wird. Diese Zukunft ist katastrophisch: Prophetie ist per definitionem „Unheilsprophetie“, unter den Bedingungen des Weltbegriffs ist sie apokalyptisch.
    Die Logik der Schrift wird erst durchsichtig, wenn in ihr die Logik des Weltbegriffs, das objektivitätskonstituierende Element in der Logik der Schrift, erkennbar wird. (Anmerkung: Hubertus Janssen berichtet, daß H.-E. Richter die Erklärung zum Hogefeld-Prozeß nicht unterschrieben hat mit der Begründung, er kenne die Fakten nicht und könne nicht zu Dingen Stellung nehmen, die er nur vom Hörensagen kennt. Der Hogefeld-Prozeß gewinnt demnach erst Realität, zu ihm kann man erst Stellung nehmen, wenn öffentlich über ihn berichtet wird: Die Existenz einer Sache ist ein logischer Sachverhalt, der konstituiert wird durch Öffentlichkeit: durch die Schrift, die selber wiederum zu den Konstituentien der Öffentlichkeit gehört (beide, Schrift und Öffentlichkeit, begründen den Weltbegriff). Das begründet hinreichend das ambivalente Verhältnis des 5. Senats des Frankfurter OLG zur Öffentlichkeit, wenn er diese aufteilt in Sympathisanten, eine Art nichtöffentlicher Öffentlichkeit, und eine „seriöse“ Berichterstattung, die sich an die Vorgaben der amtlichen Pressestellen hält.)
    Medien und Banken: Nicht nur die Schrift, auch das Geld ist existenz- und weltbegründend (ähnlich wie das Inertialsystem nur im Zusammenhang seiner objekt- und naturbegründenden Funktion sich bestimmen läßt). Ist hier nicht der Vermittlungspunkt, an dem sich zeigen läßt, daß und weshalb Geschichte durch Geschichtsschreibung sich konstituiert und Realität gewinnt?
    Kelch des göttlichen Zorns: Die Vorstellung des Zeitkontinuums ist vermittelt (bedingt) durch die des dreidimensionalen Raumes; die Unendlichkeit der Zeit ist ein Reflex der Unendlichkeit des Raumes: Der Raum ist der Betondeckel auf der Vergangenheit, die Leugnung der Idee der Auferstehung. Diese Leugnung gehört zu den Konstituentien des Herrendenkens.
    Simulieren nicht die Fernsehnachrichten (die Berichterstattung im Fernsehen allgemein, die inzwischen zur Norm auch der übrigen Medien geworden ist, und das in einem durchaus geometrisch begründbaren Sinne) den privaten Blick auf die Dinge: den Blick aus dem Wohnzimmer? Machen sie sich nicht schon präventiv mit den Zuschauern gemein, die durch die Information in ihrer Privatruhe nicht gestört sein wollen und selber wiederum einer genau darauf abgestimmten Organisation der Information bedürfen, um diese Ruhe abzusichern (Drachenfutter)? Wie wäre es anders zu erklären, wenn heute „nationale“ Sportereignisse politischen und wirtschaftlichen Informationen in der Berichterstattung den Rang streitig machen können? Die Information rückt die Welt aus dem Bereich des Handelns in den des Urteils. Die transzendentale Logik der Medien wäre noch zu schreiben (Voraussetzung wäre die Bestimmung der zugrundeliegenden transzendentalen Ästhetik der Medien, ihrer „subjektiven Formen der Anschauung“, die auf den Schuldzusammenhang, der ein Urteilszusammenhang ist, zurückweisen).
    Nicht nur der Schuldzusammenhang, auch der Herrschafts- und Verblendungszusammenhang ist ein Urteilszusammenhang, die Urteilsform ist ihr Kristallisationskern.
    Nachrichten: Einübung in die Entsolidarisierung der Kritik. Sie fordern anstatt zum Handeln zum Urteilen heraus (Schuldverschubsystem, Esel und Rind). Entsolidarisierung schafft den Boden, auf dem die Sensationen wachsen und gedeihen (Beispiel: die Scharping-Kampagne, die von einem bestimmten Zeitpunkt an zum Selbstläufer geworden ist, der keines der Medien sich mehr zu entziehen vermochte).
    Der wechselseitigen Konstituierung von Privatsphäre und Information korrespondiert die „Amtlichkeit“ der Nachrichten, ihr gleichsam hoheitlicher Charakter: Moderatoren und Sprecher werden präsentiert, als stünden sie hinterm Schalter oder säßen an einem Schreibtisch (und Schalter oder Schreibtisch werden dann via Fernsehen ins Wohnzimmer transportiert). Ist der Nachrichtensprecher ein später Nachfahre des „Engels Elohims“ (der Abraham aufforderte, seinen Sohn zu opfern)?
    Die Medien verarbeiten die Informationen imd Interesse des „beschränkten Untertanenverstandes“.
    Jürgen Ebachs Bemerkung: „wir haben nur unsere Ohren“ (Junge Kirche), wäre im Hinblick auf den Gebrauch des Possessivpronomens zu überprüfen. Verstopft nicht dieses Possessivpronomen die Ohren? Die Norm des Hörens, die im „Heute“ begründet ist (Heute, wenn ihr seine Stimme hört), wird durchs Possessivpronomen gleichsam inertialisiert, von der Erinnerungsarbeit getrennt, die der Tatsache Rechnung zu tragen versucht, daß dieses Heute durchaus ein vergangenes sein kann (das der Prophetie, der Schrift, die „vergangene Hoffnung“ der Dialektik der Aufklärung). Nicht das Unser, sondern das Heute ist das Kriterium des Hörens, das der zukünftigen Welt den Weg freimacht.
    Die Zeugenschaft gründet im Sehen (das Ezechiel aufs Antlitz fallen läßt); deshalb ist die authentische Form der Zeugenschaft das Blutzeugnis. Die Auferstehung hingegen gründet im Hören (das Ezechiel wieder aufrichtet).
    In ihrer Ursprungsphase war die raf selber ein Teil des öffentlichen Diskurses. Sie stand in der Tradition der „symbolischen Aktionen“ (so der Kaufhausbrand in Frankfurt, aber auch der Anschlag auf das Heidelberger Hauptquartier der US-Army, mit dem der Anschlag auf den US-Airport in Frankfurt sich nicht mehr vergleichen läßt), diese zielten in erster Linie auf die kritische Öffentlichkeit. Terroristisch wurde die raf, als sie fundamentalistisch wurde, ihre Aktionen aus dem symbolischen Diskurs in den dogmatisch-politischen Indikativ übersetzte: als sie aus dem Bereich der Öffentlichkeit und der Sprache in den der Macht sich abdrängen ließ. Der zweiten und dritten Generation der raf fehlte das Sensorium für den kritisch-symbolischen Diskurs, sie ist aus der Öffentlichkeit (freilich nicht ohne Mitwirkung der Institutionen der Öffentlichkeit selber, die tatkräftig mitgeholfen haben, diesen Diskurs durch Diskriminierung zu neutralisieren) nur noch herausgefallen, wie die Szene dann nur noch stumm geblieben ist. Diese Generation ist zur Erinnerungsspur des Verdrängten geworden; sie wird nicht mehr wahrgenommen, sondern löst – wie alles Verdrängte – nur noch Ängste und Aggressionen aus.
    Merkwürdig das Stichwort „Generationenkonflikt“, das sehr früh ins Spiel gebracht, aber nie wirklich begriffen worden ist. Hat dieses Stichwort nicht einen ganz anderen Sachverhalt verdeckt: Dies war die erste Generation, für die der Faschismus Geschichte, Vergangenheit, nur noch Gegenstand des Urteils, nicht mehr der eigenen lebendigen Erfahrung war. Sie war die erste Generation, die ohne es durchschauen zu können, allein durch ihre Geburt in einen Schuldzusammenhang verstrickt war, an dem sie sich (zu Recht) unschuldig fühlte. Sie stand unter einem Rechtfertigungsdruck, dessen Ursprung für sie selbst im Dunkel lag. Die Gnade der späten Geburt erwies sich als deren genaues Gegenteil: als ein objektives, schicksalshaftes Urteil, dem sie nur durch die Verurteilung der Generation glaubte entrinnen zu können, die für sie diese Vergangenheit verkörperte und die sie durch ihre Beteiligung an dieser Geschichte in diese Lage gebracht hatte. Dieser Ausweg aber war keiner. Der Konflikt ist im Felde des Urteils nicht aufzulösen. Das Stichwort „Generationenkonflikt“ hat den Konflikt nur scheinbar verständlich gemacht; sein Preis war der Abbruch der Kommunkation. Dieser Konflikt war kein Generationenkonflikt, sondern Symptom einer herrschaftsgeschichtlichen Katastrophe, ein verzweifeltes Echo der „Endlösung“. Das Stichwort Generationenkonflikt entlastet nur, löst aber nichts auf. Im Gegenteil: Indem es entlastet, vermehrt es die Last.
    Beitrag zur Kritik der Phänomenologie: Symptomatisch, daß die Vermummung der Polizei gleichzeitig erfolgte wie das gesetzliche „Vermummungsverbot“, in dem die „Erscheinung“ des Jugendprotests als Handeln erkannt und diskriminiert wurde. Was ist da wirklich passiert? (Hinweis: Der Personbegriff verweist ebenso wie auf die Sphäre des Rechts auf die des Schauspiels. Persona war die Maske des Schauspielers, durch die hindurch seine Stimme tönte.)
    Hegels Hinweis, daß die Natur den Begriff nicht zu halten vermag, wird von ihm selbst begründet mit dem Hinweis auf die Differenzierung der Gattungen und Arten der Tierwelt; er ließe sich ebenso demonstrieren an der Differenzierung der „Gattungen und Arten“ der indoeuropäischen Sprachen, die den gleichen Sachverhalt widerspiegelt. Die indoeuropäischen Sprachen haben das Perfekt vom Handeln ins Urteilen verschoben, indem sie es in die Vergangenheit zurückgestaut haben.
    Betroffenheit: Das Wörterbuch des Unmenschen, das heute implodiert und die Sprache insgesamt in sich aufsaugt und verschlingt, entstammt der theologischen Tradition.
    Das Hegelsche Absolute ist die Seele des sterblichen Gottes, als dessen Namen Hobbes den Leviathan erkannte. Ist nicht das Absolute die in den Begriff erhobene Natur, das Tier, das nicht mehr in der Endlichkeit der Gattungen und Arten gefangen ist?
    Brauchten die Christen nicht einen „persönlichen Gott“, um dem Konstrukt der Sündenvergebung die erforderliche Grundlage zu geben? Erst, wenn ich mich zum Objekt der Sündenvergebung mache, wenn ich sie als Mittel der Vernichtung meiner Schuldgefühle mißbrauche, benötige ich als magischen Helfer einen „persönlichen Gott“ (das absolute Kuscheltier).
    Mit der Einführung des Priestertums ist die sadduzäische Tradition (das Bündnis mit der Macht) ins Christentum mit aufgenommen worden. (Wer ist die Magd und wer sind die Knechte des Hohenpriesters in der Geschichte von den drei Leugnungen?) Symptom dieser sadduzäische Tradition ist die Stellung zur Lehre von der Auferstehung: Das Christentum hat diese Lehre neutralisiert, als sie sie zum Gegenstand der Bekenntnislogik machte. Würde auch nur ein Theologe wirklich an die Auferstehung glauben, die Theologie würde anders aussehen.
    Die Idee des Heiligen läßt sich durch ihre Beziehung zum Possessivpronomen definieren. Das Heilige ist dem Anwendungsbereich des Possessivpronomens (den der Weltbegriff umschreibt und definiert) enthoben. Theologie im Angesicht Gottes ist die Erfüllung des Gebots der Heiligung des Gottesnamens, und die Kritik des Weltbegriffs ist die Kritik der universalen Anwendbarkeit des Possessivpronomens (das am Andern seine Grenze findet: das Antlitz des Andern ist die Sichtbarkeit dieser Grenze; deshalb ist das Gesicht die Verkörperung des Gebots „du sollst nicht töten“).
    Die „vollständige Säkularisation aller theologischen Gehalte“ ist eine contradictio in adjecto: Der Begriff der vollendeten Säkularisation postuliert den universalen Geltungsanspruch des Possessivpronomens; dagegen ist die Theologie der letzte Einspruch. Das Gesicht ist das Wunder in der Erscheinungswelt.

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