Dezember 1995

  • 5.12.95

    Die Sünde gehört der Ordnung des Handelns an, die Schuld der des Urteils. Jedes Urteil aber kommt post festum. Ist nicht der Begriff eines Urteils apriori eine contradicition in adjecto, nur zu begründen in einer Ordnung, in der auch die Zukunft als vergangene angesehen werden kann: in einer Sprache, in der es das Futur II gibt, und im Inertialsystem, dem die gegenständliche Welt durchdringenden Formgesetz des Futur II. Zu vermeiden ist die Sünde, nicht die Schuld, die den Täter, wenn er sie nicht zu reflektieren vermag, schicksalhaft trifft. Ziel ist eine Ordnung der Gerechtigkeit, nicht die Rechtfertigung der Sünder. Die Unfähigkeit, sich in einen andern hineinzuversetzen, gründet in der Logik der Instrumentalisierung, zu der es auf der Grundlage der „subjektiven Formen der Anschauung“ keine Alternative gibt. Die Fassung des kategorischen Imperativs, derzufolge Menschen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck zu behandeln sind, hat die Antinomien der reinen Vernunft zur Voraussetzung. Hat Hegel in seiner Kritik der Antinomien nicht dem Weltgericht das letzte Wort gegeben und der Barmherzigkeit den letzten Zugang verstellt? Die Kritik des Weltbegriffs ist das theoretische Äquivalent der Heiligung des Gottesnamens.

  • 4.12.95

    Ursprung und Geschichte der modernen Wissenschaft setzen, von der Theologie bis zu den Naturwissenschaften, von der Kirche bis zum Nationalismus, vom Kloster bis zu den Burschenschaften, den Zwang zur kollektiven Absicherung des Wissens voraus.
    Der deutsche Idealismus ist der Verführung durch den Begriff des Wissens erlegen.
    Jedes Recht hat Anteil am Weltgericht; und für jedes Rechtsurteil gibt es die begründete Hoffnung auf Revision durchs Jüngste Gericht.
    In der Verurteilung des Verbrechers sind sich alle einig. Gründet nicht die Bekenntnislogik im Geiste des Rechts? Der Ursprung des Rechts aber war die Vergesellschaftung der Blutrache durch den Staat; diese Blutrache kehrt im Kontext der Bekenntnislogik als Opfertheologie wieder. Nur so erklärt sich die starke affektive Besetzung des Kruzifix, das nicht zufällig insbesondere in Gerichtsälen und in Schulräumen, im privaten Bereich aber vor allem in den ehelichen Schlafzimmern, seinen Platz gefunden hat.
    Die Tiere der Apokalypse sind Teile einer außerordentlich dramatischen Entwicklung und Konstellation: Nachdem der Drache vom Himmel auf die Erde geworfen wurde, kommen das Tier aus dem Meere (mit zehn Hörnern und sieben Köpfen, während der Drache sieben Hörner und zehn Köpfe hatte: dieses Tier hat vom Drachen seine Macht) und das Tier vom Lande, der Lügenprophet (der zwei Hörner hat wie ein Widder und redet wie der Drache).
    Ist die Venus-Katastrophe ein Bild jener gesellschaftlichen Naturkatastrophe, in der die Sexualmoral entsprungen ist?
    Liegt nicht das Problem der mikrophysikalische wie auch der astronomischen Theorien heute in einer redundanten Beweisführung, gleichsam in einer verhedderten Logik? Im Urknall wird das gleiche Inertialsystem, das mit ihm entstehen soll, schon vorausgesetzt: Sonst würde es die physikalischen Gesetze, die die dramatischen Prozesse beherrschen, nicht geben. Das Kaninchen war schon in dem Hut, aus dem die Erfinder des Urknalls es herauszaubern zu können glauben. Wird beim Urknall von den Ursachen abstrahiert, so bei den Schwarzen Löchern von den Wirkungen: Was in den Schwarzen Löchern passiert, bleibt unreflektiert.
    Der Name des Geheimnisses bezeichnet heute nur noch das Tabu, mit dessen Hilfe die Aufdeckung einer Untat verhindert werden soll. Gründet nicht auch das Christentum in einem Verbrechen, als es als Kirche – mit der Rationalisierung des Kreuzestodes in der Opfertheologie – auf die Seite der Täter sich gestellt hat?
    Gleicht nicht die Beziehung des Dogmas zur Wahrheit der der Bekehrung zur Umkehr? Gibt es nicht heute soviel Religion, weil alle für alle anderen die Religion für nützlich halten? Die Bekehrung war immer schon die Umkehr für andere.
    Ist nicht der Begriff die Kreuzigung des Namens? So fundiert die Opfertheologie den wissenschaftlichen Erkenntnisbegriff als einen vergesellschafteten Erkenntnisbegriff. Die kantischen subjektiven Formen der Anschauung sind der Statthalter der Gesellschaft im Subjekt.
    Ist nicht das tohuwabohu der früheste Hinweis auf die Urteilslogik, auf Ursprung und die Trennung der Begriffe Natur und Welt? Und beschreibt das tohuwabohu nicht den Ursprung der „Finsternis über dem Abgrund“?

  • 3.12.95

    Zum Begriff des Objekts:
    – Der Begriff des Objekts ist ein Weltbegriff: es ist die Welt, die der Natur den Objektbegriff zugrundelegt, so den Naturbegriff begründet.
    – Die Natur dynamisiert den Objektbegriff, der nur im Kontext des Weltbegriffs als statischer, ein für allemal gegebener Begriff erscheint (darin reflektiert sich das Erhaltungsgesetz der kapitalistischen Produktion, die nur als ständig sich erweiternde sich erhält: mit dem marktwirtschaftlichen Konzept der „Währungsstabilität“, das nur über eine „ausgeglichene Außenhandelsbilanz“ sicherzustellen ist, ist die Ausbeutung der Dritten Welt mitgesetzt). Ohne fortschreitende Naturerkenntnis, und d.h. ohne den Prozeß, den sie gegen die Objekte in sie hineintreibt, würde es den Objektbegriff nicht geben.
    – Der Satz aus der Dialektik der Aufklärung, daß die Distanz zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, vermittelt ist durch die Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt, verweist darauf, daß in der Strukturgeschichte des Objekts (in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Erkenntnis) die Herrschaftsgeschichte sich widerspiegelt, die jedoch dem Herrendenken selber, das unter dem Primat des Welt-, nicht des Naturbegriffs steht (oder das sich selbst im blinden Fleck steht), verborgen bleibt: das „Innere der Natur“, das der Erkenntnis sich entzieht, ist die Herrschaftsgeschichte, die sich selbst nicht durchschaut (außer in der „Heiligung des Gottesnamens“).
    In dem Satz: Das Innere der Natur ist die Herrschaftsgeschichte, steckt die Beziehung von Hegel zu Schelling.
    Hat die Beziehung der Begriffe Natur und Welt etwas mit der Beziehung der Planeten zum Tierkreis, hat sie etwas mit der Beziehung der Plejaden zum Orion zu tun? Und bezieht sich das Wort vom Binden und Lösen auf den Weltbegriff, den Inbegriff des Bindens, zu dem es bis heute ein Lösen (das dann auch auf den Himmel sich erstrecken würde) noch nicht gibt?
    Ist nicht die „Währungsstabilität“ das politisch-ökonomische Äquivalent der „subjektiven Formen der Anschauung“: die eine garantiert die Stabilität des Marktes im Innern der Nationen (auf Kosten der „Dritten Welt“), sie garantiert die Einheit der Nationalökonomie, die andere die Stabilität des Wissenschaftsbegriffs (der Identität der wissenschaftsfundierenden Totalitätsbegriffe Natur und Welt), und damit die Einheit des erkennenden Subjekts.
    Der Kampf gegen den Baal war der prophetische Kampf gegen die Anfänge des Herrendenkens, während die Apokalypse die Ursprungsgeschichte einer Situation reflektiert, in der (mit der Ursprungsgeschichte des Staates, im Namen Babylons, und in der logischen Konstruktion des Weltbegriffs) das Herrendenken objektivitätskonstituierende Bedeutung gewinnt. Dieser Prozeß wird in der Prophetie im Bilde des Kelchs reflektiert (Taumelkelch, Kelch des göttlichen Zorns: der Kelch, den die Herrschenden trinken, bis hin zum Unzuchtsbecher in der Johannes-Offenbarung; vgl. auch Hegels Satz: das Wahre ist der bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist).
    Bezieht sich nicht das Wort am Kreuz: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, auf alle Gestalten des Bewußtseins, die unterm Bann des Weltbegriffs stehen, auch auf die Theologie seit den Kirchenvätern (auf die Theologie hinter dem Rücken Gottes, eine Theologie, die bis heute nur gebunden, nicht gelöst hat)?
    Wer an Gott glaubt, muß an die Aufertehung der Toten glauben. Gott ist der Erwecker der Toten. Alles andere ist Rechtfertigung, Ideologie.
    Unschuldssyndrom: Wer nur unschuldig sein will, hat der Gerechtigkeit bereits entsagt. Es gibt keine Unschuld in dieser Welt, nur die Gottesfurcht; und die ist in der Tat der Anfang der Weisheit. Die Bekenntnislogik, zu der die Rechtfertigungslehren gehören, verdankt sich dem Unschuldssyndrom.
    Der Satz: „Mein ist die Rache, spricht der Herr“, sprengt den Objektbegriff, der selber ein Depositum des Rachebedürfnisses ist (das Rachebedürfnis begründet und konstituiert das Präsens und den Indikativ).
    Die theologische Qualität der deutschen Sprache läßt sich an Wörtern wie Zorn und Wut (an der Unterscheidung der beiden Begriffe), an der Äquivokation des Seins (Infinitiv und maskulines Possessivpronomen) oder des Zeugen und der Zeugung, die keine bloßen Äquivokationen sind, an der Deklination der bestimmten Artikel und nicht zuletzt am Begriff des Substantivs erkennen.
    Im Kontext seiner Funktion als Possessivpronomen ist das Sein das Fundament des Rechts und des Staats.
    Der Substantiv ist der apokalyptische Drache, der das Weib, das den Knaben geboren hat, verfolgt.

  • 2.12.95

    Wer andere nicht verraten will, muß bereit sein, deren Sünde mit auf sich zu nehmen. Ist das der Sinn von Joh 129: Nimmt das Lamm Gottes die Sünde der Welt auf sich, weil es die Menschen nicht verraten will?
    Entspricht nicht der Idee des Jüngsten Gerichts, wenn sie als Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht zu verstehen ist, ähnlich wie auch dem Hegelschen Weltgericht ein Erkenntnisbegriff?
    Der Aktualitätspunkt, auf den die Prophetie sich bezieht, ihr Wahrheits- und Zeitkern, ist das „Heute, wenn ihr meine Stimme hört“: der „Tag des Herrn“, die dies dominica, den die Christen zum Sonntag neutralisiert haben.
    Zoologischer Garten: Der Sündenfall hat nicht die Menschen aus dem Garten der Tiere befreit, sondern er hat das Paradies zum Garten der Tiere gemacht.
    Wie hängen Kanaan (die Händler), Kana in Galiläa (die Hochzeit und das erste Wunder sowie die Folgegeschichte in Kapharnaum), die kanaanäische Frau, Simon der Kananäer (der Zelot) und Nathanael, „der aus Kana in Galiläa kam“ mit einander zusammen?
    In der vollständig instrumentalisierten Welt verlieren die Sakramente, die auch ein Stück ritualisierter Technik sind, ihre raison d’etre.
    Die logische Asymmetrie, die die Ethik zur prima philosophia macht, die es verwehrt, aus Grundsätzen des Handelns Maßstäbe des Urteils zu machen, gründet in der Differenz zwischen der Wahrheit eines Satzes und seiner Instrumentalisierung.
    Es gibt eine geheime Kommunikation zwischen dem Fortschritt der Ökonomie und dem der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.
    Das Anschauen (von dem die subjektiven Formen der Anschauung abstrahiert sind) ist der mitleidslose Blick, der der Logik des „Richtet nicht, …“ unterliegt. Im Weltbegriff wird dieser mitleidslose Blick zur Grundlage eines Totalitätsbegriffs. Die Ursprungsgeschichte des Weltbegriffs fällt mit der des Staates zusammen.
    Begreifen und Denken: Ist der Begriff (vgl. auch die Heideggersche Unterscheidung des Vorhandenen vom Zuhandenen) das apokalyptische Zeichen an Hand und Stirn?
    Rechtfertigung zielt auf Unschuld, nicht auf Gerechtigkeit; aber nur Gerechtigkeit ist ein theologischer Begriff, Unschuld dagegen ein Weltbegriff. Die Idee der Gerechtigkeit konstituiert sich im Angesicht Gottes, der Begriff der Unschuld im Anblick der Anderen (im Kontext der Scham). Nur das Recht, nicht Gott, spricht jemanden schuldig oder unschuldig.
    Teilhard de Chardin hat einmal auf den instrumentellen Charakter des Organischen hingewiesen, der soweit geht, daß z.B. „der Maulwurf … ein Grabwerkzeug und das Pferd ein Laufwerkzeug, der Tümmler ein Schwimmwerkzeug und der Vogel ein Fliegwerkzeug“ ist. „In diesen verschiedenen Fällen gibt es eine werkzeugliche Besonderheit für jede Gattung, jede Familie oder zoologische Ordnung. Anderswo, z.B. bei den sozialen Insekten, sind ausgewählte Individuen allein mehr oder weniger vollständig zu Kriegs- oder Fortpflanzungswerkzeugen umgebildet.“ (Auswahl aus dem Werk, Freiburg i.Br. 1964, S. 57) Läßt nicht das Leben der Tiere insgesamt (der Begriff des Instinkts verweist darauf) als ein Leben im Bann einer Selbstinstrumentalisierung sich begreifen, den das einzelne Tier durch Reflexion nicht aufzulösen vermag, in den es verstrickt ist, dem es nicht entrinnen kann.

  • 1.12.95

    Brief an Ton Veerkamp:
    Zum apokalyptischen Symbol des Tieres (das im moralischen Gebrauch dieses Symbols, in seiner Anwendung auf den Trieb, die Sexualität, gleichsam halbiert wird) ist darauf hinzuweisen, daß es nicht im Gegensatz zur selbsterhaltenden Vernunft, sondern als die apokalyptische Gestalt ihrer kollektiven Verkörperungen zu begreifen wäre: als Verkörperung einer Gestalt der Vernunft, die durch Einschränkung aufs Selbsterhaltungsprinzip sich selbst ihrer erkennenden Kraft beraubt. Der Repräsentant der Selbsterhaltung im Erkenntnisprozeß ist die intentio recta: der Positivismus (Zusammenhang mit dem Weltbegriff; Wittgenstein; Hegels Logik; Kants Definition von Natur und Welt; die Urteilslogik und die subjektiven Formen der Anschauung, das Geld und die Bekenntnislogik; Sprachphilosophie und Theologie des Falls).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie