Februar 1996

  • 17.2.96

    Das Inertialsystem (der Weltbegriff) transformiert die Zukunft ins Vergangene. Deshalb gibt es zur Erinnerungsarbeit keine Alternative.

  • 16.2.96

    Franz Rosenzweig hat einmal die Frage nach dem, was der modernen Technik in der antiken Welt entspricht, mit dem Hinweis auf die Rhetorik beantwortet. Der Instrumentalisierung der Dinge (der Natur) in der modernen Welt entspricht demnach die Instrumentalisierung der Sprachen in der alten: der Ursprung des Neutrum und Bindung der Konjugation der Verben an die Zeit. Hat nicht der Weltbegriff diese Instrumentalisierung der Sprachen (ihre grammatische Organisation und Entfaltung und ihre Reflexion) vollendet und besiegelt?

  • 15.2.96

    Das Gewaltmonopol des Staates ersetzt den Begründungszwang staatlichen Handelns.
    Die Vergesellschaftung des Proletariats, die Übertragung des Warencharakters auf alle ökonomisch Tätigen mit der daraus abgeleiteten Hierarchisierung der Waren (Luxusgüter und Wegwerfprodukte), enthält eine Bestimmung, die mit zu reflektieren ist: Die Proletarisierung derer, die oben sind, ist begleitet von einer explosiven Ausbreitung von Gemeinheit. Zugleich drückt in der Erscheinung ganzer Gruppen von Jugendlichen heute ein instinktiver Ekel vor denen sich aus, die dazu gehören, insbesondere vor denen, die oben sind; dazu gehört ein Bild, in dem die Selbsterfahrung des Punk sich ausdrückt, das Bild des angemalten Abfalls, zu dem als Symboltier nicht zufällig die Ratten gehören, die in der Realität die Müllhalden bevölkern.
    Im Buch Josue erscheint die Lade beim Durchgang durch den Jordan, bei der Eroberung Jerichos und bei der Versammlung zwischen den Bergen Garizim und Ebal, bei der Verlesung des Segens und des Fluches aus dem Gesetzesbuch. Im Buch der Richter wird die Lade nur in der Geschichte des Kampfes gegen die Benjaminiten erwähnt, bei der Befragung des Herrn in Bethel – „dort befand sich nämlich zu jener Zeit die Bundeslade Gottes“ (Ri 2027).
    Hegels Logik ist eine Entfaltung der transzendentalen Logik auf der Grundlage der Übertragung der Antinomien aus der transzendentalen Ästhetik in die transzendentale Logik. Ist nicht dadurch die transzendentale Ästhetik der Reflexion entzogen und zu einem Absoluten (zum blinden Fleck der Philosophie) geworden?
    Verdankt sich nicht der Schein, seine Stellung in der Logik des Begriffs, jener Veränderung der Logik, die sich aus der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit ergibt (aus der Objektivierung der Zeit, der gleichen Veränderung, der sich auch die Apriorisierung des Objektbegriffs verdankt)?
    Im Namen erlischt der Schein, in der Kraft des Namens wird die Bodenlosigkeit des Begriffs aufgedeckt.
    Das Bekenntnis ist ein Rechtsbegriff, es ist mit diesem seinem Rechtsgrund dem Schuldzusammenhang verhaftet.
    RAF-Prozesse unterscheiden sich von anderen Verfahren der Rechtsprechung vor allem durch die Verwandlungen des Angeklagten in den Feind und durch die Angleichung der Funktion des Richters an die des Anklägers. Diese Transformation ergibt sich zwanglos aus der kantischen Unterscheidung des reflektierenden vom bestimmenden Urteil (die in seinem Werk in der Differenz zwischen der Kritik der Urteilskraft und der Kritik der reinen Vernunft <der transzendentalen Logik> sich ausdrückt). Ist nicht der gesellschaftliche Grund dieser Differenz in der Unterscheidung von Verwaltung und Rechtsprechung vorgegeben? Verweisen nicht die Angleichung der Funktion des Richters an die des Anklägers und die Verwandlung des Angeklagten in den Feind (die Ausblendung seiner Subjektqualität und seine Reduzierung auf die Funktion des reinen Objekts) tatsächlich auf eine Tendenz der Angleichung der Rechtsprechung ans Verwaltungshandeln (entspricht nicht die tendentielle Ausschließung der Öffentlichkeit, die die Medien in vorauseilendem Gehorsam, gleichsam durch Identifikation mit dem Aggressor, inzwischen schon verinnerlicht haben, dem logischen Trieb zur Rückbildung des offenen Gerichtssaals in eine abgeschlossene Amtsstube)? Aber sind die Staatsschutzverfahren damit nicht der zwangsläufig unendliche, weil nie wirklich gelingende Versuch, aus dem reflektierenden ein bestimmendes Urteil zu machen (der Versuch der Konstruktion synthetischer Urteile apriori), aus dem prozessualen Recht ein Subsumtionsrecht, ein Verwaltungsrecht, zu machen? Staatsschutzprozesse sind keine Schauprozesse, deren Zeit ist abgelaufen.
    Schließt das Subsumtionsrecht nicht die Umkehr der Beweislast mit ein?
    Die Gesetzesbindung der Verwaltung begründet ein Recht ohne Öffentlichkeit (ein monologisches Verfahren der Urteilsfindung): Die verwaltete Welt ist das Korrelat der Wittgensteinschen Definition; diese Welt ist alles, was der Fall ist.
    Führen nicht die Staatsschutzprozesse den realen Beweis, daß kommunikatives Handeln monologisch ist? Und ist nicht die Ausscheidung der Reflexion aus dem Urteil (im Konstrukt des propositionalen Satzes, dem grammatischen Grundelement der Linguistik) die zwangsläufige Folge eines Objektivitätsbegriffs, der neben der Information nur noch die Meinung, das unverbindliche Raisonnement, kennt (vgl. Habermas‘ Begriff der Öffentlichkeit)? Die Objektivität (die Welt) ist – nach dem Modell einer Natur, die auch ohne die Menschen da ist – zu einem festzementierten Konstrukt, zu einem Betonklotz, geworden, gegen den der Gedanke, die Sprache, die Argumentation nichts mehr ausrichtet.
    Hat dieser Betonblock etwas mit dem Namen des (Simon) Petrus zu tun (mit dem Namen des Felsen, auf den die Kirche gebaut werden sollte)? Ist dieser Betonblock das steinerne Herz der Welt (das am Ende in ein fleischernes Herz umgewandelt werden wird)? Kann es sein, daß der transzendental-ästhetische Grund dieses Blocks, die subjektive Form der äußeren Anschauung, seine Ausscheidung aus dem Bereich der Reflexion (die Verwerfung der kantischen Antinomie der reinen Vernunft, der einzigen Stelle, an der ein Versuch der Definition der Totalitätsbegriffe Welt und Natur vorkommt), mit den sieben Siegeln der Apokalypse (und mit den sieben unreinen Geistern, von denen Maria Magdalena befreit wurde) zu tun hat? Ist der „Fels“ das gegenständliche Korrelat der ungelösten Siegel? – Wer ist die „Schwiegermutter des Simon Petrus“?
    Läßt sich nicht die Hegelsche Logik, die auch eine Staatslogik ist, unter diesem Aspekt begreifen: als Versuch, das bestimmende mit dem reflektierenden Urteil zu verschmelzen, das reflektierende Urteil ins bestimmende Urteil mit hereinzunehmen? Vorausgesetzt ist eine Zeitvorstellung, die das (unendliche) Ende antizipiert: Deshalb gehört zu Hegels Philosophie das Weltgericht (die Gegenwart des antizipierten Endes, dessen Verkörperung der Staat ist).
    Rührt die Subsumtion des reflektierenden unter das bestimmende Urteil (auf die das Adorno-Wort „Das Ganze ist das Unwahre“ sich bezieht) nicht an den Grund des Symbols des apokalyptischen Tieres?
    Hat sich Habermas mit der Theorie des kommunikativen Handelns nicht freiwillig (in einem Akt der Identifikation mit dem Aggressor) in die Isolationshaft begeben, vor der zu fliehen versuchte, als er von der kritischen Theorie sich verabschiedet hat?
    Sind nicht Bad Kleinen und die Durchführung der Asyl-Regelung ein Beleg dafür, daß mit der „Wiedervereinigung“ etwas qualitativ Neues eingetreten ist: Die Grenze, auf die definitionsgemäß der BGS sich bezieht, ist von außen nach innen verlagert worden. Bad Kleinen ist Mogadischu, der Frankfurter Flughafen die alte „Zonengrenze“. Der BGS, dieses hybride Konstrukt aus Militär und Polizei, ist das polizeiliche Äquivalent der Staatsschutzsenate und der Geheimdienste.
    Hängt der Satz „Laß die Toten ihre Toten begraben“ mit dem Testament-Begriff (in den Paulus-Briefen, vor allem aber im Hebräer-Brief) zusammen, und bezieht er sich nicht auf die theologische Wendung, die der Testament-Begriff belegt (ist nicht der Testament-Begriff das Begräbnis der Toten durch die Toten, die Selbstzerstörung der Offenbarung durch Anpassung an die Logik des Weltbegriffs, die Wurzel der Logik des Inertialsystems; durch seine Beziehung zum Begriff des Erbes erinnert der Name des Testaments nicht grundlos an den Begriff der Erbsünde, den der Weltbegriff instrumentalisiert; die Welt ist die Welt der Väter, ihr Testament)?
    Der Hebräer-Brief läßt sich zwanglos als Konsequenz aus dem Urschisma begreifen: als Darstellung und Produkt der Introversion des Opfers, dessen Realität mit den Juden verworfen wurde. Der Hebräer-Brief ist ein Beispiel dafür, daß jede Verurteilung den Urteilenden in den Bann seines eigenen Urteils hereinzieht.
    Ist nicht der Versuch, die Probleme, die Frauen mit einer Sprache haben, in der sie „nicht vorkommen“, durch Sprachregelungen zu lösen, erkauft mit der Sprachlogik eingebauter, automatisierter Verurteilungsmechanismen?

  • 14.2.96

    Vierzig Jahre Flaschenpost – Norbert Rath zitiert in seinem Beitrag den Satz Horkheimers: „Die Philosophen im 19. Jahrhundert, Hegel und Nietzsche, haben geschrieben: Gott ist tot. Wahr ist vielmehr, daß der Gedanke gestorben ist“ (S. 95). Ist die Aufsatzsammlung selber nicht eine Sammlung von Grabreden, wird hier der „Gedanke“ nicht in der Tat nur noch als toter Gedanke erfahren? – Auf der gleichen Seite, auf der er den Horkheimer-Satz zitiert, spricht Norbert Rath vom „Schwanken (sc. Horkheimers) zwischen den miteinander unvereinbaren Bezugstheorien von Marx und Nietzsche“. Hier werden Philosophen zu Erfindern von Theorien, die dann verifiziert oder falsifiziert werden können. Daß in der Philosophie „Theorien“ Organisationsformen von Einsichten und nicht die Organisationsformen, sondern diese Einsichten (die Habermas als privilegierte Erkenntnis ausscheidet, während sie durch Reflexion ihrer logischen Form, die ihren Zeitkern bildet, wiederzugewinnen wären) der eigentliche Gegenstand der philosophischen Tradition sind, das wird durch den Begriff „Bezugstheorien“ verdrängt. Eben dieser Verdrängung verdankt sich die Ideologisierung der Einsichten von Marx und Nietzsche, die beide zu „toten Hunden“ macht und die Philosophie zu einem Beerdigungsinstitut am Gräberfeld der Philosophiegeschichte.
    Heute verstellt schon der Naturbegriff der Einsicht den Weg (Habermas‘ Stellung zur Natur gehört zu den Voraussetzungen seiner Beziehungen zur Kritischen Theorie und des Konzepts seiner Theorie des kommunikativen Handelns, deren Zweck es sein könnte, Philosophie von der Last der Einsicht zu befreien). Kann es sein, daß die Totalitätsbegriffe Welt und Natur den logischen Grund bezeichnen, aus dem die mythischen Gestalten des Satans (des Anklägers) und des Teufels (des Verwirrers) einmal hervorgegangen sind (während das Wissen auf einen dämonischen Grund verweist)?
    Steckt nicht im Namen ein magisches Element, und war nicht in der Tat die Magie in erster Linie Namenszauber (während der Mythos zur Vorgeschichte des Begriffs gehört)?

  • 13.2.96

    Der Schrecken des Faschismus ist durch Verurteilung nicht zu bannen.

  • 12.2.96

    Die Logik des Hinter dem Rücken ist eine Logik mit eingebauter Gemeinheitsautomatik. So wird auch die Theologie vom Bann erst befreit sein, wenn sie als Theologie im Angesicht Gottes sich erneuert.
    Die Theologie hinter dem Rücken Gottes ist ein Herrschaftsinstrument (sie steht unter dem Bann des Weltbegriffs); sie ist die Brutstätte der Bekenntnislogik.
    Enthält nicht die Beelzebub-Geschichte einen deutlichen Hinweis darauf, daß, wer immer die Einheit und Geschlossenheit zum Prinzip erhebt, das Reich des Beelzebub fördert? – Vgl. dazu Jer 3134: „Da wird keiner mehr den andern, keiner seinen Bruder belehren …“ Die Einheit der Gotteserkenntnis ist nicht die Einheit des Bekenntnisses. Ein Bekenntnis, zu dem man sich bekehrt, ist das Bekenntnis zu einer Schicksalsgemeinschaft, ein Instrument der Komplizenschaft. Jede Bekenntnisgemeinschaft (auch die kirchliche) trägt völkische Züge.
    Der Staat ist ein Produkt der Instrumentalisierung des Schicksals.
    Einer der verhängnisvollsten Übersetzungsfehler war die Übersetzung des Begriffs Völker mit dem Namen der Heiden. Seiner Sprachlogik zufolge entspricht dieser Name eher dem der Barbaren: Christen verhalten sich zu Heiden wie Hellenen zu Barbaren. Waren nicht die Muslime die ersten „Heiden“ (vgl. den Titel „Summa contra gentiles“)? Und war nicht mit dem Namen der Heiden die projektive Verschärfung im Namen der Wilden mitgesetzt (der Name der Wilden hat sich im Kontext der Konfessionalisierung des Christentums, mit der es die Abgrenzung nach außen ins eigen Innere mit aufgenommen hat, herausgebildet)?
    Ist nicht das Christentum über die Projektionsfolien der Heiden und dann der Wilden selber zu dem geworden, wovon es glaubte sich absetzen und distanzieren zu müssen?
    Wenn in der Essay-Sammlung „Vierzig Jahre Flaschenpost“ die Inszenierung des Weltuntergangs durch die Nazis Weltpolitik genannt wird (in dem Beitrag von Martin Seel?), wird der Faschismus durch Neutralisierung, die in der Konsequenz seiner Verurteilung liegt, verharmlost. Dazu paßt der Satz: „Gäbe es kein richtiges Leben im falschen, wäre das falsche nicht falsch“ (S. 37): Dann wäre die Hölle keine Hölle mehr. Einen Spiegel widerlegt man nicht, wenn man ihn zerschlägt, weil man sein eigenes Bild nicht erträgt.
    Der Versuch, die projektiven Moment im Objektivierungs- und Erkenntnisprozeß zu entwirren, mag schwierig sein, aber es gibt keine Alternative.
    Das ungeheuerliche Zitat aus der Odyssee:
    Da der edle Odysseus die Freier jetzo bestraft hat,
    Werde das Bündnis erneuert, er bleib‘ in Ithaka König;
    Und wir wollen dem Volke der Sühn‘ und Brüder Ermordung
    Aus dem Gedächtnis vertilgen; und beide lieben einander
    Künftig wie vor, und Fried‘ und Reichtum blühen im Lande.
    (24, 481-483; Zitat S. 69)
    ruft Konnotationen wach, die eher die Interpretation der Dialektik der Aufklärung bestätigen als den Text von Helga Geyer-Ryan und Helmut Lethen. Blühen nicht auch nach der „Strafaktion“ der Nazis „Fried‘ und Reichtum … im Lande“, nachdem „dem Volke der Söhn‘ und Brüder Ermordung aus dem Gedächtnis getilgt“ wurden? Man muß wohl wirklich einmal das Erschrecken in sich verspürt haben bei der Erinnerung, daß man in der Zeit der „Endlösung“ in der Kirche das Lied mitgesungen hat: „Hilf uns hie kämpfen, die Feinde dämpfen, Sankt Michael“.
    Wenn Horkheimer und Adorno auf die „schwarzen Schriftsteller“ rekurrieren, auf Nietzsche und de Sade, dann kann man dem nicht entgegenhalten: Ja, aber was hatten die für Anschauungen! So schnappt wieder einmal nur die Verurteilungsfalle (die der Begriff der Anschauung insgesamt bezeichnet) zu, in der jedesmal der, der glaubt, sich ihrer bedienen zu können, selber mitgefangen wird.
    Erweckt nicht der Aufsatz über das Verhältnis Horkheimers und Adornos zu Nietzsche den Eindruck, als wollte hier einer nachträglich die Erkenntnis Adornos belegen, daß heute alle nur noch heraushören, wofür oder wogegen einer ist?
    Die Opfertheologie hat uns zu Konsumenten des Kreuzestodes gemacht, zu theologischen Kannibalen. Der Bann wird erst gelöst sein, wenn die Eucharistie entsakralisiert und zu dem wird, als was sie vielleicht einmal gemeint war: zum Brotbrechen und zum Teilen des gebrochenen Brotes mit den Armen; nur durch Entsakralisierung wird die Eucharistie auf eine neue und andere Weise geheiligt (wäre nicht auf diesen Hintergrund – zugleich als Hinweis auf die Differenz von Essen und Trinken, Brot und Wein <Schrift und Wort> – auch Mt 2629 zu beziehen?).
    Wenn die Lichtgeschwindigkeit sich auf eine Bewegung bezieht, die nicht mehr mechanisch, sondern nur noch teleologisch (durch ihre Beziehung auf das Ende, nicht auf den Anfang der Bewegungsrichtung) sich verstehen läßt, so berührt das zugleich die Frage der Konstituierung der mikrophysikalischen Objekte, die dann keine mechanischen Objekte mehr sind.
    Sind nicht die physikalischen Aggregatzustände (gasförmig, flüssig, fest) Stufen der Konstituierung des mechanischen Objekts, und welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die „Thermodynamik“, die Wärme, das Feuer und das Licht?
    Es gibt zwei Aspekte des Rechts, die sich deutlich unterscheiden lassen: den ökonomischen, der auf die Sicherheit des Eigentums und die Verbindlichkeit von Verträgen abzielt, und den politischen, dessen Hauptziel die Konstituierung und Sicherung der Staatsgewalt ist. Ist nicht die unterschiedliche Ausgestaltung der Funktion der Anklage in den westlichen Ländern ein Indiz dafür, welches der beiden Momente als vorrangig angesehen wird? Den „öffentlichen Ankläger“ scheint es vor allem in den Staaten zu geben, deren Hauptziel die Eigentumssicherung ist, während die Institutionalisierung der Aufgabe des „Staatsanwalts“ in dem Ziel der Verteidigung des Staates begründet zu sein scheint. Dann aber sind Staatsschutzsenate bloße Verdoppelungen der Staatsanwaltschaft, hier ist der Richter vom Änklager nicht mehr zu unterscheiden – wie unter dem Bann der gleichen Logik dann auch der Verteidiger vom Angeklagten nicht mehr zu unterscheiden ist; beide werden vom Gericht als Feinde wahrgenommen.
    Die Logik der Staatsschutzprozesse ist die des kurzen Prozesses; deshalb dauern sie so lange.

  • 11.2.96

    Kants Kritik des apagogischen Beweises ist ein Versuch, die Gemeinheitslücke zu schließen. Diese Lücke ist heute zum offenen Scheunentor, zum Schlund, zum Abgrund geworden.
    „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“: Ist das nicht das Lied der Bekenntnislogik? Kommen in der Schrift Fahnen vor, und seit wann gibt es Fahnen (lt. Meyers Taschenlexikon, Bd. 6, S. 315, „als Kampf- und Siegeszeichen und als Herrschaftssymbol schon den altorientalischen Völkern, den Römern, Germanen und Arabern bekannt“)? Sind Fahnen nicht Einheitssymbole, und gehört dazu nicht der Satz, daß die Wasser am Ort Eins sich sammeln, und neutestamentliche Beelzebub-Geschichte, wonach die Einheit ein Indiz des Reichs des Beelzebub ist (das „zerfällt, wenn es mit sich uneins wird“, während das Himmelreich verschiedene Wohnungen in sich enthält)?
    Der Topos „zur Rechten Gottes/des Vaters“: Wer sitzt wem zur Rechten? Sind die Formulierungen gleichlautend, welche Unterschiede gibt es, in welchen Konstellationen?
    „Meine Rechte möge verdorren, wenn ich Dein vergesse, Jerusalem“ (Ps 1375): Ist die Kirche die verdorrte Rechte (Barmherzigkeit, Feigenbaum?), und der Staat der einarmige Bandit (der linkshändige Benjaminite)?
    Rätselhafter Hebräerbrief, seine ungeheuerliche ambivalente Symbolik: Hat er nicht das Christentum durch Rejudaisierung antijudaistisch gemacht? Hier taucht zum erstenmal der Begriff des (alten und neuen) Testaments auf, der den des Bundes ersetzt; und das mit dem Hinweis, daß ein Testament Rechtskraft erst mit dem Tod des Erblassers erlangt (und daß das alte mit dem neuen „veraltet“ ist). Heißt das nicht in letzter Konsequenz, daß Israel am Kreuz gestorben ist? Ist nicht der Hebräerbrief, und sind nicht in seinem Licht erst die Paulus-Briefe die Grundlage der Väter-Theologie (und trennt nicht der Hebräerbrief die Paulus-Briefe von den Pastoralbriefen)? Das Neue Testament ist nicht der neue Bund.
    Ist nicht der Hebräerbrief das Paradigma der Verinnerlichung des Opfers, und ist er nicht das Paradigma der Ursprungsgeschichte des Symbolons?
    Gehört nicht der Hebräerbrief zum Verständnis der Wendung „zur Rechten“ (hier heißt es „zur Rechten der Majestät <megalosyne>“)? Aber ändert sich nicht der Sinn des Hebräerbriefes, und mit ihm der Sinn der gesamten christlichen Theologie, im Lichte des Rosenzweigschen Satzes, wonach Gott „nicht die Religion, sondern die Welt erschaffen“ hat.


  • 10.2.96

    Der Reni-Blick ist feinsinnig, aber unsensibel.
    Sind Staatsschutz-Prozesse nicht Fundstätten für Beispiele des apagogischen Beweises (wenn eine Sache als bewiesen angesehen wird, wenn die gegenteilige Behauptung nicht widerlegt werden kann)? Ist der apagogische Beweis nicht ein Konstituens der transzendentalen Ästhetik, und damit eine der Grundlagen synthetischer Urteile apriori? In juristischem Zusammenhang gehört er zu den Begründungen des Satzes, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist. Gehorcht nicht die „Aufklärung“ der Vorgänge in Bad Kleinen genau dieser Beweislogik (oder, wenn im Hogefeld-Prozeß eine Zeugin zunächst sagt, die Frau, die sie gesehen hatte, habe blaue Augen gehabt, dann aber solange bekniet wird, bis sie sagt, so genau wisse sie es nicht mehr; oder, wenn Zeugen geladen und vernommen werden, bei denen aus den Akten erkennbar ist, daß seine jetzige Aussage im Verlauf von zehn Jahren die dritte Version ist, merkwürdigerweise aber jede Version genau zum jeweiligen „Erkenntnisstand“ der Ermittlungsbehörden paßt)?
    Die Sexualmoral gewinnt ihre politische Bedeutung zurück, wenn sie aus dem Bann des Weltbegriffs (der Urteilsmoral) erlöst wird. Erfüllt nicht der theologische Begriff der Entsühnung der Welt den apokalyptischen Tatbestand der Unzucht?
    Die organische Chemie ist eine politische Wissenschaft: Im wissenschaftshistorischen Paradigmenwechsel vom Darwinismus zur organischen Chemie spiegelt sich die Normalisierung des Faschismus wider, die „Anorganisierung des Organischen“ (die Durchsetzung der Herrschaft der Ökonomie als anorganische Natur der Staatenwelt, Voraussetzung der Dekolonialisierung der Dritten Welt).
    Bezeichnet nicht das bara, der Schöpfungsbegriff der Genesis, eigentlich eine Abfolge von Katastrophen: Geschaffen werden „Himmel und Erde“, die „großen Seetiere“ und die Menschen.
    Der Weltbegriff ist der Inbegriff der Naturbeherrschung, und die Entsühnung der Welt ist die Entsühnung der Naturbeherrschung, die die Grundlage jeglicher Herrschaft ist.
    Zur Genese und zum Begriff der Gemeinheit: In der vollends aufgeklärten Welt gibt es keine Schuldzusamenhänge mehr zwischen Objekten, sondern nur noch Sachzwänge. Schuld wird – wie zuvor die sinnlichen Qualitäten und wie die Kritik, jene zu Empfindungen, diese zur Meinung – subjektiviert zu Schuldgefühlen, die apriori irrational und pathologisch: durch Therapien zu beseitigen sind. In diesem Kontext trennt sich das Verbrechen von der Tat, es wird zu einer Folge des Erwischtwerdens (für das die Beweisbarkeit steht). So wird man normal; aber ist diese Normalität nicht die des alltäglichen Faschismus?
    Der ungeheuerliche Satz bei Lk (117), daß „er (Johannes der Täufer) die Herzen der Väter zu ihren Kindern bekehren wird“.
    Der protestantischen Bekenntnistheologie zufolge ist der Staat der weltliche Arm der Kirche. Ist nicht heute der Staat zu einem einarmigen Banditen geworden?
    Zum „Tier aus dem Meer“: Der Weltbegriff ist aus dem Meer, dem Inbegriff der Völkerwelt, hervorgegangen. Ist das „Tier vom Lande“ (der falsche Prophet) die Bekenntnislogik?
    Der Drache und das Tier aus dem Meer unterscheiden sich eigentlich nur durch die Plazierung der Kronen: Der Drache trägt sie auf den sieben Köpfen, das Tier auf den zehn Hörnern.
    Wie hängen die sieben Siegel und die sieben Donner, die sieben Posaunen und die sieben Zornesschalen mit einander zusammen, gibt es nur diese vier Siebenerfolgen (die den sieben Köpfen des Drachen und des Tiers aus dem Meer entsprechen)? Die ganze Apokalypse ist von Siebenergruppen durchsetzt, gibt es auch Zehnergruppen?
    Der Naturphilosophie geht die Kosmologie voraus: Natur, das war zunächst die Außenwelt der Völker, die zur Natur durch die Unterwerfung und Beherrschung anderer Völker, durch die Hereinnahme in den Herrschaftsbereich des eigenen Volkes wird (durch den „Handel“, der in seiner ersten Form Fernhandel ist: die Griechen haben die Natur erfunden).
    Ist der Weltbegriff der Spiegelungspunkt, durch den Kosmos und Natur (Mythos und Philosophie) aufeinander sich beziehen?

  • 8.2.96

    Alle Qualitäten sind symbolischer Natur, und das Licht ist der Quell aller Qualitäten.
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist der Beweis dafür, daß nicht das Licht, sondern das Inertialsystem der Zeit unterworfen ist.
    Bekenntnislogik: Produkt der Vergesellschaftung des Stammesbewußtseins oder der Produzent des Wahns.
    Der Wahn ist das Produkt der Bekenntnislogik, die Verblendung das des Geldes und das Herrendenken das des Inertialsystems.
    Das Tauschprinzip-Paradigma rückt den Kapitalismus in das herrschaftslogische Licht der Technologie und blendet die Herrschaftsreflexion aus; nur im Kontext der Reflexion von Herrschaft aber wird das Moment der Schuldknechtschaft im Geld (seine reale Ursprungsgeschichte) erkennbar.

  • 7.2.96

    Sehen und hören: Sehen heißt urteilen (und Gott sah, daß es gut war; nachdem die Menschen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hatten, gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren). Theologie (Gotteserkenntnis) aber gründet im Hören.

  • 6.2.96

    Zur Verwechslung von Genitiv und Dativ gibt es auch die Umkehrung: „Der erste, der sich dem Gestapo-Thema in seiner gesellschaftsgeschichtlichen Erweiterung annahm, war der kanadische Historiker Robert Gallately“ (Norbert Frey: Kein Angst vor der Gestapo, FR vom 6.2.96).
    Das Prinzip der Legitimation durch Verfahren ist die Grundlage der Konstruktion synthetischer Urteile apriori in der Justiz. Gerechtigkeit ist nur zu retten durch Reflexion der Verführungsgewalt dieses Prinzips (durch Reflexion des Schuldzusammenhangs). Das selektive Hören im Hogefeld-Prozeß, das dazu führt, daß die Erklärungen von Birgit Hogefeld oder auch die wichtigsten Anträge der Verteidigung inhaltlich nicht zur Kenntnis genommen werden, gründet in diesem Prinzip: Wahrgenommen wird nur, was die legitimatorische Kraft des Verfahrens (die „Formalitäten“) berührt; das Urteil, das am Ende herauskommt, braucht nicht gerecht, es muß revisionsicher sein.
    Das Problem des Rechts liegt darin, daß es den Begriff und das Problem der Sünde nicht kennt: Das „Verbrechen“ ist die Widerspiegelung der Sünde im Spiegel des Schuldzusammenhangs.
    Symbolisiert nicht das Feigenblatt den Ursprung des Weltbegriffs (die Logik, die Gott blind macht)?
    Die Bemerkung im Buch Henoch, wonach Leviathan weiblich und Behemoth männlich ist, enthält einen noch unentfalteten Hinweis auf den symbollogischen Grund der „Hure Babylon“ und des Begriffs der Unzucht (des Bechers der Unzucht) in der Johannes-Apokalypse. Das Tier aus dem Meer wäre danach weiblich, das Tier vom Lande, der falsche Prophet, männlich?
    Die Heiligkeit des Heiligen Geistes gründet in der Reflexion und Kritik des Schuldzusammenhangs (der objektivierenden und instrumentalisierenden Eigentumslogik und ihrer Verkörperung im Staat). Deshalb ist der Weltgeist in allen Stücken das Gegenteil des Heiligen Geistes.
    Kritik der Verurteilung: Ist nicht jede Gemeinheit Folge und Symptom einer Verletzung, die der Verletzte projektiv abzuarbeiten versucht? Die Vorstellung, ein Verhalten, bei dem man den Frust als Wut abzureagieren versucht, ließe sich psychohygienisch begründen, ist nicht mehr zu halten. Die Begründung wird in der Regel eine mechanische sein, nach dem Modell: Ventil öffnen, Dampf ablassen. Soweit ein solches Verhalten als Erleichterung empfunden wird, handelt es sich um eine Erleichterung, die man empfindet, wenn man die Last, in den andern sich hineinzuversetzen, bloß abwirft: Es ist die Erleichterung der Lust an der Gemeinheit. Eine solche Erleichterung mögen Folterknechte bei ihrer „Arbeit“ empfinden, die vorher durch entsprechenden Druck konditioniert worden sind. – Ist es heute nicht schon so weit, daß, wer sich weigert, sich auch in einen Folterknecht noch hineinzuversetzen, Folterknechte produziert?
    Die Verurteilung ist der Schlüssel zum Schuldverschubsystem (der Schlüssel zum Abgrund, Off 201).

  • 5.2.96

    Wenn Recht „im Namen des Volkes“ gesprochen wird, so verweist das auf die Definition des Volkes als einer Schicksalsgemeinschaft. Hat diese Konstellation in der germanischen Institution des Thing ihren Ursprung (vgl. auch den Zusammenhang mit der Versammlung am Tor, mit dem Kohelet, der Ursprungsgeschichte des Begriffs der Kirche)? Gehört zur Ursprungsgeschichte des Rechts nicht auch das Institut des vom Volk gewählten, dann genealogisch sich „fortpflanzenden“ Königs? Setzt das durch Zeugung sich fortpflanzende Erbrecht des Herrschens nicht an die Stelle des Volks die Gattung (und die Diskriminierung der Sexualität)? In welcher Beziehung steht diese Geschichte zur Ursprungsgeschichte des Dings, des Objektbegriffs, der transzendentalen Logik?
    Das Ding: Heißt das nicht auch, daß das Gerichtete der Richter sein wird (ist die Robe des Richters ein Schutz gegen das Wiedererkanntwerden durch das im Angeklagten präsente Jüngste Gericht)?
    Die Verurteilung der Nazis führt mitten in den faschistischen Bann (in den Schuldzusammenhang, in dem der Faschismus gründet) hinein, ebenso der Hinweis auf das Urteil der Nachwelt (das „Urteil der Geschichte“ oder der Satz: „Meine Kinder sollen mir nicht einmal vorwerfen können, …“). Aus dem Bann heraus führt einzig das Bewußtsein, daß die Opfer unsere Richter sein werden: die Reflexion der Sünde, nicht der Schuld.

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