Februar 1996

  • 4.2.96

    Nach herrschender Auffassung sind alle Apokalypsen entweder – wie die Johannes-Apokalypse – in griechischer Sprache geschrieben oder aber nur in „Übersetzungen“ (griechische, äthiopische, arabische, syrische, slawische u.a.) erhalten. Kann es sein, daß auch die Übersetzungen keine sind, daß vielmehr die nichthebräischen Sprachen Grundlage der apokalyptischen Symbolwelt sind, daß die Apokalypsen die katastrophischen Erfahrungen widerspiegeln, denen das durch die hebräische Sprache und Schrift sensibilisierte Bewußtsein sich ausgesetzt sieht, wenn es in einem fremden Sprachraum sich zu bewegen gezwungen ist, wobei die Symbole, in denen diese Erfahrungen sich ausdrücken, kosmische, sprachlogische und moralische zugleich und in eins sind? Das fundamentalistische Mißverständnis dieser Symbolwelt, das allein die kosmischen Ereignisse wahrnimmt, von den moralischen und sprachsymbolischen Konnotationen dagegen abstrahiert, würde dann selbst zu den Objekten der Apokalypse (zu den „Greueln am heiligen Ort“) gehören. Die Vermutung, daß zwischen der Prophetie und der Apokalypse der Ursprung des Weltbegriffs (und der Ursprung des Staates) liegt, drückt den gleichen Sachverhalt aus. Ausgangspunkt wäre die Vermutung, daß z.B. die paradiesische Schlange schon das Neutrum (das es in der hebräischen Sprache nicht gibt, und das die indoeuropäische von der hebräischen Sprachlogik unterscheidet), die „großen Meeresungeheuer“ (der „Chaosdrache“) die Sprachen der Völkerwelt (nicht der Heiden) insgesamt symbolisieren.
    Wenn das Tier aus dem Meer und das Tier vom Lande auf neutrumsabhägige Formen der Konjugation sich beziehen, was bedeuten dann die Köpfe und Hörner?
    Off 123ff:
    – ein Zeichen im Himmel,
    – ein feuerroter großer Drache,
    – mit sieben Köpfen und zehn Hörnern, auf seinen Köpfen sieben Kronen.
    – Der große Drache, die alte Schlange, genannt der Teufel und der Satan, wurde auf die Erde geworfen, seine Engel mit ihm.
    Off 131ff:
    – Ich sah aus dem Meer ein Tier heraufkommen,
    – mit zehn Hörnern und sieben Köpfen, auf seinen Hörnern zehn Kronen, auf seinen Köpfen gotteslästerliche Namen.
    – Das Tier wär ähnlich einem Panther, seine Füße die eines Bären, sein Rachen der eines Löwen.
    – Der Drache gab ihm seine Kraft, seinen Thron und seine Macht.
    – Einer seiner Köpfe war wie zu Tode getroffen, seine Todeswunde wurde geheilt; die ganze Erde sah staunend dem Tiere nach, sie beteten den Drachen an, sie beteten das Tier an.
    Off 1311ff:
    – Ich sah ein anderes Tier aus der Erde hervorkommen,
    – zwei Hörner gleich einem Lamm und redete wie ein Drache.
    – Alle Macht des ersten Tieres übte es vor seinen Augen aus, und bewirkte, daß die Erde und ihre Bewohner das erste Tier anbeteten.
    – Es tut große Zeichen, Feuer vom Himmel auf die Erde vor den Menschen; verführt die Bewohner der Erde aufgrund der Zeichen, die vor den Augen des Tiers zu tun ihm verliehen ist, beredet die Bewohner der Erde, dem Tier ein Bild zu machen (der die Wunde vom Schwert hat und lebendig geworden ist), dem Bild des Tiers Lebensgeist zu verleihen, sodaß es sogar redet und bewirkt, daß alle getötet werden, die das Tier nicht anbeten.
    – Bewirkt, daß alle sich ein Malzeichen auf ihre rechte Hand und auf ihre Stirn machen, und daß niemand kaufen oder verkaufen kann, der nicht das Malzeichen hat: den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens.
    – Weisheit und Verstand berechnen die Zahl des Tieres (es ist die Zahl eines Menschen): 666.
    Wenn die Momente des Namens des Himmels, Feuer und Wasser, auf das Wer und das Was verweisen, heißt das nicht, daß im Namen des Wassers das Neutrum sich verbirgt? Es bleibt als Objekt im Namen des Himmels, gewinnt nicht Macht über die Sprache.
    Muß man nicht die erkennende Kraft der Sprache, die im Namen gründet, von ihrer mitteilenden Funktion unterscheiden (und trennen), und gründet nicht der Begriff (das Neutrum) in der Subsumtion der erkennenden Kraft der Sprache unter ihre mitteilende Funktion?
    Gründet nicht die noesis noeseos im deklinierbaren bestimmten Artikel (in dem innersprachlichen Verweisungszusammenhang, den der bestimmte Artikel begründet, in seiner idealisierenden Kraft)?

  • 3.2.96

    Das Cliché von der „postmodernen Beliebigkeit“ trägt aufs deutlichste projektive Züge: Die Informationsgesellschaft zementiert das Bestehende und macht jede Kritik zur Meinung, zu etwas Subjektivem, Beliebigem. Objektiv ist nur das, was ist, worüber man andere (wertneutral) informieren kann. Ist nicht das Konstrukt des „kommunikativen Handelns“ ein Haus der Beliebigkeit? Fehlt nicht im Begriff des „herrschaftsfreien Diskurses“ die Reflexion auf die Außenbeziehungen der Gründe und auf die Außenwirkung seines Ergebnisses, müßte nicht die Herrschaftsfreiheit des herrschaftsfreien Diskurses auch diese Außenbeziehungen mit einbeziehen? Jeder reale Diskurs (jedes Gespräch am Bankschalter, im Büro des Chefs, im Amtszimmer einer Verwaltung) bezieht sich auf Sachverhalte, die bis in die innerste Struktur hinein durch Herrschaftsbeziehungen bestimmt sind, und in der Regel sind es diese Herrschaftsbeziehungen, die das Ergebnis des Diskurses bestimmen. Aber auch der herrschaftsfreie Diskurs am Stammtisch kann durchaus diskriminierende Außenwirkungen, etwa eine Ausländerhatz, zur Folge haben. Die Logik des herrschaftsfreien Diskurses schließt das Vorurteil nicht aus.
    Die subjektive Form der äußeren Anschauung verwandelt die Natur in Ausland (die der inneren Anschauung transformiert ihre Objekte ins Vergangene).
    Enthält nicht der Satz aus Hegels Rechtsphilosophie, daß die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug ist, um der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern, die Begründung der Notwendigkeit des Strafrechts und der Knäste, ist er nicht ein Produkt der Säkularisation der Höllenvorstellung?
    Die positivistische Subjektivierung der Kritik ist die letzte, sprachlogische Konsequenz aus der Subjektivierung der „Sinnesqualitäten“, der „Empfindungen“.
    Seid vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist: Hängt die Bedeutung dieses Satzes nicht vom Verständnis des perfectum ab, davon, ob das perfectum als vergangenes Sein oder als vollendete Handlung verstanden wird? Müßte es nicht heißen: Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen sein wird?
    Wer das perfectum ins Vergangene transformiert, muß dann auch das perfectum wiederum als Vergangenes reflektieren, und zwar sowohl als Plusquamperfekt, als Vorvergangenheit, wie auch als Futur II, als zukünftige Vergangenheit. Ist der Schritt vom Plusquamperfekt zum Futur II der Schritt von der griechischen zur lateinischen (von der dogmatischen zur postdogmatischen) Sprachlogik?
    Apokalyptische Sprachlogik: Wenn der Drache (die Schlange) das Neutrum ist (das Präsens der vollendeten Vergangenheit: Kristallisationskeim der verdinglichten, instrumentalisierten Welt), ist dann das Tier aus dem Meer das Plusquamperfekt und das Tier vom Lande (der falsche Prophet) das Futur II?
    Mein ist die Rache, spricht der Herr: Im Licht des Ewigen ist die Justiz das Verbrechen, das zu verfolgen sie vorgibt.
    Der Knast ist das Produkt der Identifizierung des Plusquamperfekt mit dem Futur II, das Inertialsystem das logische Abbild des Knasts: Die Vorstellung des leeren Raumes verbindet die Offenheit der Zukunft mit dem Nichtsein des Vergangenen.
    Ist der leere Raum das Realsymbol des Rosenzweigschen Nichtwissens, und sind die Gegenstände des Nichtwissens (Gott, Welt, Mensch) die Namen des Nichtobjektivierbaren, des nicht unter die Vergangenheit Subsumierbaren?

  • 2.2.96

    „Präpositionen wie anläßlich, betreffs, bezüglich, mangels, mittels[t], seitens, vermittels[t], zwecks gelten als Papierdeutsch.“ (Duden, Grammatik, S. 364) – Gibt es auch Papieritalienisch, Papierfranzösisch, Papierenglisch? In welchem Zusammenhang werden diese Präpositionen gebraucht (Herrschafts-, Verwaltungs-, Mediensprache)? Gibt es noch andere Sprachelemente und sprachlogische Konstruktionen, die in diesen Bereich gehören? Ist die papierdeutsche Grammatik das Produkt einer transzendentallogischen Rekonstruktion der Sprache, ist das Papierdeutsch Subjekt-Objekt der Sprache der Hegelschen Logik, die die Logik der Schrift ebensosehr reflektiert wie sie sie als Maß ihrer eigenen Rationalität anerkennt (sprachlogisches Paradigma: „Was für eines“)?
    Ideal der Verwaltung: Alle tun ihre Pflicht, und keiner weiß, was er tut. Globke war nicht zufällig der erste Staatssekretär an der Spitze der bundesdeutschen Administration.
    Die Sprachlogik des Papierdeutsch ist die Sprachlogik der deutschen Verwaltung. An der Durchführung des Asylkompromisses wäre zu demonstrieren, daß der Faschismus in der Verwaltung als Modernisierungsschub sich begreifen läßt. Das Papierdeutsch ist wie die deutsche Verwaltung insgesamt (mit einem „Kanzler“, einem Verwaltungsamt, an der Spitze einer „Regierung“) ein Reichserbe: Es gibt keinen Kaiser mehr, aber die der Verantwortung enthobene Verwaltung, die ihre Pflicht tut, ist geblieben. Im führerlosen Staat wird das Ausland zum Repräsentanten der politischen Vernunft.
    Das Papierdeutsch ist das Ergebnis eines unüberbietbar radikalen Versuchs, eine reine Subsumtionssprache herzustellen, eine Sprache, die alles Handeln ins Passiv übersetzt. Das Papierdeutsch ist Ausdruck der Gewalt der Verwaltung, die die Politik am Ende demoralisiert und handlungsunfähig macht. Die Medien sind zu einem Organ der Hofberichterstattung geworden, nur daß an die Stelle des Hofs das reine Nichts getreten ist.
    Vergleiche auch die Rechtssprache, die diesem Zustand immer deutlicher sich anpaßt („in Augenschein nehmen“: ein Realitätsbezug, der sich selbst dementiert).
    Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns, deren Urspünge in den USA wahrscheinlich sehr viel anders klingen, ist durch seine Übertragung ins Deutsche ins Papierdeutsche übertragen worden.
    Sind nicht die philosophischen Kategorien seit ihrem Ursprung (bei Aristoteles) Papierkategorien: Kategorien einer Sprache, die unter den Voraussetzungen der Logik der Schrift sich gebildet hat, zur Verkörperung und zum Gerüst dieser Logik geworden ist?
    War nicht der Übergang vom prosopon zur persona ein Übergang vom Sehen (des Gesichts) zum Hören (der Stimme, die durch die Maske hindurchtönt), aber eines Hörens, das über die Logik der Schrift selber wieder zu einem durchs Sehen vermittelten Hören geworden ist? Ist der Begriff der Person nicht durch seine Ursprungsgeschichte fast unanalysierbar geworden (vgl. die mittelalterliche Definition der Person: persona est rationalis naturae individua substantia)?
    Das Problem der Scholastik gründet darin, daß sie die Kategorien der aristotelischen Philosophie in einen sprachlogischen Kontext übertragen hat, in dem sie ihren Sinn und ihre Erkenntniskraft eingebüßt hat: sie ist durch Instrumentalisierung ins Dogmatische verschoben worden ist. Der griechische Ursprung der Trinitätslehre war ein politischer; er steht in sprachlogischem Zusammenhang mit der Logik des Römischen Reiches (Konstantin gehört in die Ursprungsgeschichte des Dogmas); durch die Übertragung der Trinitätslehre ins Lateinische ist die Opfertheologie in den Kern des trinitarischen Dogmas gerückt, das Dogma selbst konfessionalisiert worden. Die „Wirkung“ des Dogmas ist aus dem Bereich der Erkenntnis in den der Moral verschoben worden: Sein Hauptzweck war die „Entsühnung der Welt“, die zur Grundlage der Entzauberung der Herrschaft und ihrer Vergesellschaftung geworden ist.
    Das Computerdeutsch (das Informatikdeutsch) ist eine Steigerung des Papierdeutsch.
    Wenn die Ökonomie die anorganische Natur des Staates ist, dann ist die Privatisierung der staatlichen Aufgaben, ihre Übertragung an die Ökonomie, das Werk der Verwüstung.
    Das Scheitern Jesu war das Scheitern des Worts an der Schrift.
    Ist der Hahn der Morgenstern unter den Tieren?

  • 1.2.96

    Daß Väter im NT fast nicht mehr vorkommen, ist nur eines der Motive, an denen sich ablesen läßt, daß das „Neue“ nicht die Erfüllung des „Alten Testaments“ ist. Der Versuch, die Erfüllung der Schrift von der des Worts zu unterscheiden, ist ein erster Versuch, die Differenz zu begreifen. Aber liegt der Schlüssel nicht in dem weltgeschichtlichen Paradigmenwechsel, der mit dem Stichwort „Ursprung des Weltbegriffs“ zu bezeichnen wäre?
    Ist nicht die Richtung der Bewegung, deren Maß die Lichtgeschwindigkeit ist, die Gegenrichtung der „Bewegung“ des Lichts, des Sehens?

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