März 1996

  • 31.3.96

    Ist nicht jeder Indikativ ein versteckter Imperativ (jeder Indikativ erhebt Anspruch auf die „normative Kraft des Faktischen“; darin gründet der Anspruch der Ontologie)? Und käme es nicht darauf an, diesen Anspruch reflexionsfähig zu machen, anstatt ihm blind zu folgen? Das imperativische Zentrum des Indikativs ist die Idee des Absoluten: Produkt der Selbstreflexion des Subjekts im Unendlichen, der Schatten, den das Subjekt auf Gott wirft.
    Das Proletariat in der Marxschen Theorie ist nicht austauschbar und nicht beliebig ersetzbar, insbesondere nicht durch irgendwelche Avantgarden. Stattdessen wäre endlich der Paradigmenwechsel zu reflektieren und zu begreifen, der einhergeht mit der Globalisierung des Kapitalismus, mit der universalen Realisierung des „freien Marktes“ und in deren Folge mit der inneren Differenzierung im Begriff und in der Realität des Proletariats: Der ökonomischen Proletarisierung ganzer Weltregionen entspricht die politische Proletarisierung der Metropolen.
    Der Markt gründet im Fernhandel, in den Außenbeziehungen der handeltreibenden Staaten und Völker; seine Wurzeln liegen im Raub, in der Eroberung und im Opferwesen. Der Markt hat diese Beziehungen im Hegelschen Sinne in „Naturbeziehungen“ transformiert. Es wäre nachzuweisen, daß in dieser Konstellation der Naturbegriff überhaupt erst entspringt (daß die zweite Natur das Modell der ersten war, in deren Bild sie sich bewußtlos wiedererkannte). Natur war seit je potentielles Eigentum (herrenloses Gut, das, was einfach nur da ist), und die vorsokratische Philosophie, die unter dem Standardtitel peri physeos sich entfaltet hat, war ein Produkt der Vergesellschaftung der Logik des Handels, die dem Expansionstrieb des Staates den Weg freigemacht hat. So war Philosophie von Anbeginn (auch als Naturphilosophie, die durch Entzauberung der Natur die Widerstände und Hemmungen abgebaut hat, die der Aneignung und Beherrschung der Natur und der Begründung des Gewaltmonopols des Staates im Wege standen) politische Philosophie.

  • 30.3.96

    Entsühnung der Geschichte: Das wäre der Ruf, der die Toten auferweckt. Der Historismus verschließt die Pforten der Hölle.
    Ist nicht das Wort von der „Bewahrung der Schöpfung“ nur eine Modernisierung eines Slogans, der vor vierzig Jahren theologische Mode war, des Worts von der „Heiligung der Welt“?
    Zum Jakobus-Brief: Welcher Jakobus war der Verfasser:
    – der Zebedäussohn (Bruder des Johannes, einer der drei, die bei der Erweckung der Tochter des Jairus, auf dem Berge Tabor und in Getsemane dabei waren, Mk 537, 92, 1433, nach Mk 129 waren die Zebedäussöhne auch mit im Haus des Simon und Andreas, bei der Heilung der Schwiegermutter des Simon Petrus),
    – der andere Apostel Jakobus (Sohn des Alphäus; identisch mit dem „kleinen Jakobus“, Mk 318, 1540?),
    – der Herrenbruder, Leiter der Jerusalemer Gemeinde, einer der „drei Säulen“ (Gal 29),
    – der Vater/Bruder des Judas (Lk 616, Apg 113, Jud 11); identisch mit einem der beiden vorgenannten?
    Frage: Hat der „Synagogenvorsteher“ Jairus etwas mit dem Clan des Jair (und mit dem gleichnamigen Richter – vgl. 4 Mos 3241 und Ri 103ff -, oder auch mit dem Vater des Mardochai, Est 25) zu tun?
    Anfrage an Dorothee Sölle (zu ihrem Beitrag im letzten Heft der „Jungen Kirche“): Zum Problem der göttlichen Gewalt, Benjamins „Kritik der Gewalt“ und Derridas „Gesetzeskraft“ (fällt der Holocaust unter Benjamins Begriff der göttlichen Gewalt?). Dazu das Problem Kapitalismus/Religionskritik (Hinkelammert „Götze Markt“, Benjamins Bemerkung zum Kapitalismus als Opferkult ohne Entsühnung, nur verschuldend, darin dem Begriff des Rechts in Benjamins Kritik der Gewalt vergleichbar). Ist die Freisetzung der Kräfte des „freien Marktes“ die Freisetzung der Kräfte der Verwüstung: der Selbstzerstörung der Politik („Greuel am heiligen Ort“)?

  • 29.3.96

    Seit ich begriffen habe, daß ich als Christ auch mit dem Martyrium rechnen muß, habe ich die Theodizee nicht mehr verstanden. Ist nicht die Theodizee ein Thema der Täter, die aus den Verstrickungen ihres Selbstmitleids nicht mehr herauskommen, während sie gegen die Leiden ihrer Opfer empfindungslos geworden sind?
    Ochs und Esel: Die Verschiebung des Leids ist die Kehrseite der Schuldverschiebung.
    Hängt die Beziehung der einen Kirche zu den sieben Kirchen in der Apokalypse (Off 2/3) mit der Beziehung des einen unreinen Geistes, der in die Wüste geht, mit den sieben unreinen Geistern, mit denen er in sein Haus zurückkehrt (Mt 1243f, vgl. 2 Pt 220), zusammen? Und die letzten Dinge dieses Menschen werden ärger sein als die ersten: Ist dies der Mensch, auf den sich die Zahl 666 (Off 1318) bezieht?
    Heißt Evangelium „gute“ oder „frohe Botschaft“? Und sind nicht beide Bedeutungen ambivalent? Die gute Botschaft ist auf das partikulare Eigeninteresse der Einzelnen bezogen, die frohe Botschaft auf das einer Gemeinschaft, der einer angehört (auf das Kollektiv der Lacher). Gibt es nicht gute Botschaften, die von dem Schmerz und der Verzweiflung der Beraubten leben, und gibt es nicht frohe Botschaften, die die Barmherzigkeit durch Lachen über das Schicksal der Unterlegenen revozieren?
    Ist nicht der Stern der Erlösung schon ein christliches Buch, auch wenn die Christen bis heute darin sich nicht wiedererkannt haben?

  • 28.3.96

    Beitrag zur Logik der Gemeinheit: Der Satz, Jesus habe den Kreuzestod gewollt, ist gemein und blasphemisch. Er ist ihm nicht ausgewichen und er hat ihn nicht verhindert, weil das nur um den Preis des Verrats möglich gewesen wäre. Wer sagt, er habe den Tod gewollt, weil er die Welt entsühnen wollte, dreht ihm das Wort im Munde herum. Ist nicht die dogmatische Theologie insgesamt gemein und blasphemisch, ist sie nicht, wenn sie davon ausgeht, daß die Wahrheit in der Form des Urteils sich müsse dingfest machen lassen, gezwungen, der Schrift das Wort im Munde herumzudrehen?
    Es gibt zwei Formen des Erwachsenwerdens: Die eine benutzt das Erwachsensein als Exkulpationsritual, als Generalamnestie der Gemeinheit, die andere erfährt im Erwachsenwerden ihre Mitschuld an der Sünde der Welt.
    Das Patriarchat ist die einheitliche Begründung des Herrendenkens und der Logik der Gemeinheit.
    Zu den Voraussetzungen eines selbstverantwortlichen, menschenwürdigen Lebens gehören heute neben Nahrung, Wohnung, Kleidung auch die Versorgung mit Wasser, Energie, Information, die insgesamt nur noch über den Markt (gegen Geld) zu haben sind (in dem Beamten-Silo, in dem wir wohnen, gibt es keine Wohnung ohne Fernseher, aber etwa die Hälfte aller Bewohner hat keine Zeitung abonniert: das Fernsehen ersetzt – und intensiviert – den Nachbarschaftstratsch, macht die Welt zum Dorf, während die Zeitung einmal dem Dorf die Welt erschloß). Noch vor hundert Jahren wurden für Bergleute Siedlungen gebaut, die zu den Wohnungen auch noch Stall (für Ziege, Schaf oder Schwein) und Garten enthielten, d.h. eine vom Lohn und vom Markt unabhängige Grundversorgung durch eigene Leistung ermöglichten.

  • 27.3.96

    Beitrag zur Rosenzweig-Kritik: Als Tage des Eingedenkens sind Feiertage Tage der im Bilde der Geschichte als Natur erinnerten Utopie. Weihnachten ist zum Fest des Selbstmitleids geworden, seit die inertiale Gewalt des Tauschprinzips den Fluß der Zeit begradigt, die Staustufen des Eingedenkens beseitigt hat. Seitdem gibt es keine Zukunft mehr.
    Sind nicht die weibliche Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt die letzten Staustufen gegen den ungehinderten Fluß der Zeit?
    Der Staat entwickelt aus zwei Gründen einen eigenen Selbsterhaltungstrieb: der eine gründet in seiner Beziehung zu anderen Staaten, zur Völkerwelt (das Tier aus dem Meere, der Faschismus), der andere bezieht sich auf die Grundlagen der materiellen Selbsterhaltung seiner Institutionen, auf die Ökonomie (das Tier vom Lande; Stichworte: Währungsstabilität, „Standort Deutschland“). Das prophetische Votum für die Armen und die Fremden bezeichnet aufs genaueste den Widerstand gegen das Tier aus dem Meere und das Tier vom Lande.

  • 26.3.96

    Schuldverschubsystem: Israel versteht sich selbst im Angesicht Gottes, in den Augen der Völker waren die Israeliten Hebräer. In welche Tradition ist das Christentum eingetreten, hat nicht die Konstellation von Testament und Erbschaft die Traditionen durch Projektion und Verschiebung verwirrt? Haben die Christen nicht Israel mit den Hebräern und die Hebräer mit den Juden verwechselt (vgl. die schlimme Verwechslung der Namen bei Theodor Haecker an einer Stelle, die nur auf Joh 149 sich beziehen kann)? Welche Rolle hat hier der Hebräerbrief (oder auch der verhängnisvolle Eingriff in den Kanon, der die Historisierung und Nationalisierung der Prophetie zur Folge hatte) gespielt? Ist das nicht der Knoten, der zu lösen wäre?
    Erinnerungsarbeit zielt auf die Befreiung der vergangenen Zukunft, nicht auf die Konservierung der Vergangenheit. Erinnerungsarbeit ist eine zwanglose Konsequenz aus der Lehre von der Auferstehung der Toten. Ist nicht die Sündenvergebung, wenn sie als Imperativ verstanden wird, ein Teil der Erinnerungsarbeit, die Ausbildung und Entfaltung der Fähigkeit, nicht nachtragend zu sein: der Abbau des Elefantengedächtnisses, das dem Historismus zugrunde liegt?
    Die Konservierung der Vergangenheit kommt in jeder Hinsicht den Herrschenden zugute.
    Allegorien sind instrumentalisierte Symbole. Deshalb sind sie ebenso willkürlich wie zwanghaft.
    Ist nicht die Bekehrung der Herzen der Väter zu ihren Kindern der Akt der Befreiung vom Bann des Erbens?
    Der Mythos und sein logischer Kern, die Schicksalsidee, waren eine Vorstufe der Geometrie und der Gnomon das Instrument der Entfaltung der geometrischen Phantasie. Das Dogma verhält sich zum Inertialsystem wie der Mythos zum Gnomon.

  • 25.3.96

    In der Natur, die alles richtig macht, weil sie blind ihren Gesetzen gehorcht, erkennt sich die Verwaltung wieder.
    Die Kritik der Astrologie wird konkret erst als Kritik der Verwaltung.
    Das Verhältnis der Spaziergänger zur Natur ist ein anderes als das der Radfahrer. Sind die Naturschützer Radfahrer?
    Zum Namen der „hebräischen“ Schrift: Die phonetische Schrift gründet in der Beziehung der Sprache zu anderen Sprachen, in der Materialisierung der Sprache durch Rückführung auf den gemeinsamen Lautbestand. Die erste Gestalt einer phonetischen Schrift, die phönizische, war die Schrift eines Handelsvolkes (in einer Zeit, in der Handel Fernhandel war), eine Schrift, die erfunden wurde, um die Aussprache von Wörtern anderer Sprachen festhalten und wiedergeben zu können. Aus der phönizischen Schrift ist sowohl die hebräische als auch die griechische Schrift hervorgegangen. Die phonetische Schrift verfremdet jede Sprache, indem sie sie in das Licht anderer (fremder) Sprachen rückt. Sind die Begriffe Hebräer und Barbaren, die auf diese Fremdheit sich beziehen, Produkte der phonetischen Schrift (der Logik der Schrift)?
    Im Buch Esther wird der Erlaß des Königs an alle Gaue in ihrer Schrift, an alle Völker in ihren Sprachen, nur an die Juden in ihrer Schrift und in ihrer Sprache versandt (89).
    Zur Unterscheidung von Katze und Hund: „Hunde sind gehorsam, Katzen nicht“. Die Katze war ein Symbol Ägyptens, der Hund ein Symbol Babylons; Ägypten war das Sklavenhaus, Babylon eine Tempel- („freie Markt“-) Wirtschaft. (Fressen Hunden Fische?)
    War der Bann, das Verbot zu plündern, antibabylonisch? Oder anders: War die Erlaubnis zu plündern ein Mittel zur Erzeugung und Stabilisierung der Kampfbereitschaft (der „Moral“ der Truppe, wie man das vermutlich heute noch nennt) des babylonischen Militärs, und haben erst die Römer den „Gehorsam“ erfunden?
    Unzuchtsbecher: Wenn der Faschismus etwas mit verdrängter Homosexualität zu tun hat, was drückt dann in der gegenwärtigen lesbischen Bewegung sich aus? Wäre nicht eine politisch-ökonomische Reflexion der Schwulen- und Lesbenbewegung, die beide gegen das sexualmoralische (Vor-)Urteil in Schutz nimmt, an der Zeit?

  • 24.3.96

    Das Keuschheitsgebot zielt auf die Abwehr der Gewalt, nicht der Lust. Darin liegt seine politische Bedeutung. Vergewaltigung ist kein Sexualdelikt, sondern ein Gewaltverbrechen: Sie macht die Frau zum Objekt und zielt auf den Selbstgenuß der terrorisierenden Gewalt (der Ursprung des Terrors liegt im Vergewaltigungstrieb). Ist in dieser Konstellation die Lösung des Problems des apokalyptischen „Unzuchtsbechers“ zu suchen: als Symbol der politischen Verführung nicht mehr nur zur Trunkenheit (Taumelbecher), sondern zur Gewaltlust, zum Faschismus?
    Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam: Die Schriften des Neuen Testaments unterscheiden sich von denen des Alten nicht zuletzt durch ihren Adressaten. Die an die Gemeinden (die „ecclesiae“) gerichteten Briefe, die Reden Jesu an das Volk, seine „Wunder“ (die Heilung der Kranken, Frauen, Behinderten, die Erweckung der Toten, die Speisungen der Menge), die Aussendung der Jünger und dann der Apostel; die Adressaten sind das Volk, nicht die Herrschenden: nicht die politischen und religiösen Repräsentanten, die nur noch Reagierende, nicht mehr Handelnde sind („sie wissen nicht, was sie tun“) und allesamt als Mitglieder einer Verschwörung gegen das Volk (und gegen ihn) sich erweisen. Ecclesia, der Name der Kirche, erinnert an die Tradition der Versammlung im Tor, an das kollektive Subjekt der städtischen Demokratie.

  • 23.3.96

    Lauter ist nicht der Unbescholtene, sondern der Offene, der nicht heuchelt, nicht manipuliert, nicht hinterhältig ist, keine Falle stellt. Lauter ist die Wahrheit, die ganz durchsichtig ist, nichts hinter zweideutigen Formulierungen versteckt, die nichts zurückhält, die keine anderen Absichten hegt außer denen, die sie auch ausspricht. Lauter ist das Licht, niemals jedoch ein Objekt, das immer eine Rückseite hat, die man nicht sieht. Über die Lauterkeit des Dogmas und der Orthodoxie wird erst zu befinden sein, wenn es gelingt, sie aus dem Bann der Bekenntnislogik, dem sie unterworfen sind, zu befreien.
    Lauterkeit ist die Freiheit von Gemeinheit.
    Im Begriff des Ganzen wird ein Objekt vorgestellt, das, nach außen abgeschlossen, rein dem Anschauen sich darbietet: Sein Modell ist die Statue, die nicht sieht, nicht hört, nicht spricht, nicht handelt. Die (Götter-)Statue ist die Erinnerung an das (mythische) Opfer, auf das keine Auferstehung folgt. Bild dieser Ganzheit ist der Heros, das in sich verschlossene, stumme Selbst, niemals der Prophet. Der Begriff des Ganzen gewinnt seine Verführungskraft aus der Konstellation von Opfer und Altar, Statue und Tempel, aus der wahrscheinlich einmal die Institution des Königtums hervorgegangen ist. Er gehört zur Geschichte der Verstrickung von Religion und Herrschaft, aus der das Wort der Offenbarung, das aufs Hören statt aufs Anschauen verweist, einmal den Weg der Befreiung gewiesen hat. Die Idee der Auferstehung antizipiert die Erfüllung des Satzes: Barmherzigkeit, nicht Opfer (das Jüngste Gericht ist das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht).
    Der Begriff der Kommunikationsgesellschaft abstrahiert von einer Realität, die durch die Schuldenkrise, das Armutsproblem und die Härte der Herrschaftsstrukturen sich definiert. Ebenso ist eine Theorie des kommmunikativen Handelns schon im Ansatz falsch, die nicht auch eine Theorie des Gerüchts, des Vorurteils, der Medien und der Unterhaltung mit einschließt: einer Kommunikation ohne Reversibilität, einer Kommunikation, die zum Reversbild der „subjektiven Formen der Anschauung“ geworden ist: Wie diese vom Blick des Andern, so abstrahiert jene von der Antwort der Andern, vom Dialog. War die Anschauung ein Instrument der Vergesellschaftung von Herrschaft und der Bildung des Subjekts, so ist die Entfaltung und Realisierung der Kommunikationsgesellschaft durch die Medien das Instrument der Gewöhnung und Fixierung der Beherrschten an ihren Objektstatus.
    Eine Theorie der Gemeinheit ist nicht möglich ohne eine Kritik der Beweislogik, die aber setzt die Theologie voraus, allerdings eine Theologie, die selber aus dem Bann der Logik der Gemeinheit sich befreit: als Theologie im Angesicht Gottes.
    Der Tod Mosis: Das Hegelsche Absolute ist der Ort des erloschenen Feuers im nicht mehr brennenden Dornbusch.
    Lk 1111f: Sind wir nicht die Väter, die ihren Kindern, wenn sie um Brot bitten, nichts anderes als Steine zu geben vermögen, wenn sie um einen Fisch bitten, nur eine Natter anbieten können, und statt eines Eis nur einen Skorpion geben können?
    Wo entspringt die Differenz zwischen dem Namen des Neuen Bundes und dem des Neuen Testaments, oder verschwimmen nur die Begriffe im Griechischen, in dem diatheke beides, den Vertrag und das Testament, bezeichnet: und das aufgrund einer Logik, die im Vertrag, und damit auch im Tauschakt, noch die Dramatik des Erbens begreift, im Tausch den wechselseitigen Tod der Tauschenden? Ist das Christentum durch die Metaphorik seiner Theologie (in der ein herrschaftsgeschichtlicher Zusammenhang sich widerspiegelt) zum Bewohner des Totenreichs geworden, auf das die Idee der Auferstehung sich bezieht?
    Die Geschichte von den Blinden und Lahmen (bei der Eroberung von Jerusalem durch David) erfüllt sich im Inertialsystem: in der Beziehung von Anschauung und Trägheit.
    Zum Verhältnis von Spekulation und Reflexion: Der Weltbegriff ist ein Spiegelsystem.

  • 22.3.96

    Genealogie: Die Bekenntnislogik ist die Tochter des Tauschprinzips und die Mutter des Trägheitsgesetzes. Sie ist das Bindeglied zwischen der Geldwirtschaft und den mathematischen Naturwissenschaften.
    Die Bekenntnislogik (vom Götzendienst über das trinitarischen Dogma bis zum Faschismus) ist das Laboratorium des Weltbegriffs.
    Das Inertialsystem ist die instrumentalisierte Schicksalsidee (die instrumentalisierte Logik des Mythos). Die Schicksalsidee (und der Mythos) aber war der Preis für die Bildung des Neutrum und den Ursprung der indoeuropäischen Sprachen.
    Der Islam, der das Schicksal monotheisiert hat, hat den Ausweg aus dem Mythos vesperrt.
    Jeshajahu Leibowitz: Die Geschichte ist die Geschichte des Wahnsinns, des Verbrechens und des Unglücks. Und sie ist zugleich die Geschichte des Kampfes dagegen. Verweist nicht der Wahnsinn auf die Bekenntnislogik, das Verbrechen auf die Geldwirtschaft und das Unglück auf den Ursprung des Naturbegriffs? Wer die Geschichte auf Wahnsinn und Verbrechen reduziert, ist paranoid. Nur die Erinnerung ans Unglück bewahrt vor der Paranoia, vor der auch die Kapitalismus-Kritik nicht gefeit ist. Dem Faschismus ist es vorbehalten geblieben, auch das Unglück noch in die eigenen Regie zu nehmen, die Naturkatastrophe zu inszenieren.
    Was die Reflexion von Auschwitz und den „christlich-jüdischen Dialog“ so unendlich belastet und fast unmöglich macht, ist das Erbe einer Logik, die zuerst in der Christologie sich manifestiert hat: die Logik der Vergöttlichung des Opfers, die ein Teil der Urteilslogik ist. Der Faschismus aber war eine Explosion der Gemeinheit; und diese Explosion ist nicht beendet, sie geht weiter. Damit hängt es zusammen, wenn der Schrecken und der Bann des Faschismus nicht durch Verurteilung aufzulösen ist, sondern allein durch Reflexion der Logik der Gemeinheit, die innerhalb der Urteilslogik nicht zu leisten ist, weil sie die Reflexion der Urteilslogik (die Kritik der in der Urteilslogik begründeten Totalitätsbegriffe, der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt) voraussetzt.
    Ist nicht der Begriff der Bekenntnislogik ein Versuch, dem Problem der Gemeinheit auf die Spur zu kommen? Die Bekenntnislogik, die in der Schuldumkehr gründet, verdankt sich der Weiterbildung und Entfaltung des projektiven Moments im philosophischen Erkenntnisbegriff. Das Glaubensbekenntnis ist ein umgekehrtes Schuldbekenntnis: Bekannt (und damit zugleich festgeschrieben und fixiert) wird die Schuld des Objekts, die „Schuld der Welt“, die der Erlöser im Opfertod am Kreuz „hinweggenommen“ und gesühnt haben soll. Der christliche Erlösungsbegriff, die Idee der „Entsühnung der Welt“, war die konsequenteste Entfaltung der Bekenntnislogik; ihr wirkliches Ergebnis aber war die Freistellung des Weltbegriffs, die Legitimierung von Herrschaft, die Diskriminierung der Kritik. Die die Bekenntnislogik konstituierende Opfertheologie ist im Faschismus nochmals explodiert: Das war die Explosion der Gemeinheit. Ist die Bekenntnislogik der „Greuel am heiligen Ort“? Und ist das in die Bekenntnislogik verstrickte Christentum nicht die Bestätigung des Satzes, daß vor Gott tausend Jahre wie ein Tag sind: der Tag des Schreckens (mit der Bekenntnislogik als Mittel der moralischen Anästhesie), der Tag JHWHs (die Zeitdilatation der Bekenntnislogik: das Binden, zu dem das Lösen noch aussteht)? Nicht zufällig wollten die Nazis ein „Tausendjähriges Reich“ errichten. Hier findet das Bild vom Dogma als der Schockgefrierung einer Tradition, die nur so zweitausend Jahre Christentum überleben konnte, seine Begründung.
    Die Theologie im Angesicht Gottes ist eine anarchische Theologie.
    Gibt es nicht eine merkwürdige Beziehung der Schlange zum Kelch (des Neutrums zu den subjektiven Formen der Anschauung, zum Raum)? Und gibt es nicht eine symbolische Verknüpfung beider (etwa in der Gnosis)?
    Die Linguistik läßt sich als Versuch begreifen, auch die Sprache noch zu neutralisieren. Sie macht die Sprache selber zu Schlange, die auf dem Bauche kriecht und Staub frißt: Indem sie die Sprache (im Kontext des Begriffs der Kommunikation) auf ihre Mitteilungsfunktion reduziert und fixiert, verdrängt und zerstört sie ihre erkennende Kraft, läßt sie sie (wie die BILD-Zeitung in ihren Texten, die mit den Mitteln der Linguistik nicht mehr sich würden kritisieren lassen) zusammenschnurren zu „propositionalen Sätzen“. Die Sprache, die zum Gegenstand der Linguistik geworden ist, verhält sich nur äußerlich zur Sache, sie bewegt sich nicht mehr in der Sache, beide werden dinglich getrennt. Eine Sprache aber, die in die Sache nicht mehr eingreift, der die Welt zur Dingwelt wird, an der die Sprache abprallt, bewegt nur noch die Vorstellungen ihrer Adressaten: sie wird zu einem Instrument der Manipulation.

  • 21.3.96

    Schließen sich das „geisteswissenschaftliche“, objektivierende, vergleichende Lesen und das interlineare Lesen (z.B. die Lektüre von Adornos „Philosphie der Neuen Musik“ als „Philosophie der modernen Naturwissenschaften“) nicht aus: die „Philosophie der Neuen Musik“ geht über Schönberg und Strawinsky und nicht über Einstein und die Kopenhagener Schule? Aber ist das interlineare Lesen nicht das eigentliche lernende Lesen?
    In der Natur gibt es keinen Kreis und keine Kugel; das aber heißt: die Orthogonalität ist eine Unterstellung, ein Instrument der projektiven Erkenntnis.
    Die Vorstellung der unendlichen Ausdehnung des Raumes ist eine durch die Logik der Orthogonalität erzeugte Zwangsvorstellung.
    Hängt nicht Joachim Ritters Bemerkung (in seinem Essay über die Subjektivität), daß das Subjekt im Kontext der Vergegenständlichung der Natur (und d.h. zusammen mit dem Ursprung des Naturbegriffs) sich konstituiert, mit dem Glauben an die magische Kraft des Urteils zusammen? Und wird die Rittersche Bemerkung nicht durch den Satz widerlegt, daß die Verurteilung des Faschismus den Bann nicht sprengt, sondern ihn verstärkt? Ritter hat übersehen, daß die Gegenständlichkeit der Natur im herrschaftsgeschichtlichen Prozeß, im Kontext der Klassenscheidung, sich konstituiert. Gegenständlich wird die Natur im Prozeß der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, die auch die Herrschaft in der Gesellschaft (die Scheidung von oben und unten) unter sich begreift und mit einschließt. Erkenntnistheoretisches Pendant der Klassenscheidung sind die subjektiven Formen der Anschauung, ist insbesondere die Form des Raumes, die die Abstraktionsleistung gleichsam automatisch vollbringt, zugleich die Abstraktion selber verdrängt, ihr Produkt, das „Objekt“, als ein Stück Natur anschaut.
    Die objektivierte Natur erzeugt nur den Schein der Freiheit. Die Freiheit selbst gründet in der Fähigkeit, den zugrunde liegenden Objektivationsprozeß als einen Herrschaftsprozeß zu reflektieren.
    Der Rittersche Freiheitsbegriff gehört zu einer Geschichte, in der es Freiheit nur für die gibt, die oben sind.
    Das göttliche Gebot ist nur eine Richtschnur des Handelns, kein Maßstab für das Urteil über das Handeln der andern. Vor diesem Urteil steht die Frage: „Hättest du anders gehandelt, wenn du in seiner Lage gewesen wärest?“ Hierzu gehört der Satz vom Ochs und Esel, die man nicht gemeinsam vor den Pflug spannen soll, Grund des Levinasschen Konzepts der Asymmetrie. Nur wer die Last auf sich nimmt, befreit sich von ihr, nicht wer sie andern als Joch auferlegt. Genau das unterscheidet das Gebot vom Gesetz. Die Universalisierung, die aus dem an mich gerichteten Gebot ein Gesetz für alle macht, leugnet das Gebot. Das ist der utopische Grund von Jer 3134.
    Das Bekenntnis „Du bist der Sohn Gottes“ ist das Bekenntnis Petri und zugleich der Dämonen. Kann, wer heute dieses Bekenntnis fordert, die Frage beantworten: Was hat er davon, wenn ich bekenne, daß er der Sohn Gottes ist? Die Unbeantwortbarkeit dieser Frage macht das Bekenntnis zum Opfer der Vernunft. Die Bekenntnislogik ist das Produkt der Verinnerlichung des Opfers, die der Dialektik der Aufklärung zufolge die Geschichte der Zivilisation begleitet. Und diese Verinnerlichung des Opfers ist der Preis für den historischen Objektivationsprozeß: für den Prozeß, in dem Vergegenständlichung und Instrumentalisierung zusammenfallen, und in dem die instrumentelle Vernunft sich gebildet hat.
    Religion als Blasphemie, das ist die Religion unterm Bann der instrumentellen Vernunft; das ist die Religion, an die man selbst nicht mehr glaubt, die man braucht als Religion für andere: für die Kindererziehung, aber auch um die Gesellschaft in Schach zu halten; diese Religion ist Ausdruck der Angst, daß die Dämme brechen, das Chaos ausbricht, alles überflutet wird (Männerphantasien). – Bezeichnet nicht der Thalessche Satz „Alles ist Wasser“ den Ursprung der Männerphantasien und den Anteil der Männerphantasien am Ursprung und an der Geschichte der Philosophie, die nicht zufällig die Herrschaftsgeschichte aufs genaueste widerspiegelt?
    Ist Andreas ein beschnittener Alexander (und gibt es den Namen Andreas auch außerhalb der Evangelien), und verkörpert der Name des Philippus die Erinnerung an den Vater des Alexander (der seinen Vater ermordet hat)?

  • 20.3.96

    Auch das Lachen hat Anteil an der Verurteilung und Diskriminierung, und im Lachen steckt ein magisches Erbe.
    Das Lachen ist ein Instrument der Vergesellschaftung: Es macht die, die ins Lachen einstimmen, zu Komplizen (und die, die nicht einstimmen, zu Verrätern).
    Das Dogma und die ihm zugrunde liegende Vorstellung, die Wahrheit sei in Urteilen faßbar, verdrängt den dämonischen Charakter des Urteils, es verdrängt den Verdrängungsprozeß selber, dem das Urteil sich verdankt. Diese Verdrängung erscheint dann in den Außenbeziehungen der Bekenntnislogik, in der automatischen Konstitution des Feindbildes, im Verrätersyndrom und in der Frauenfeindschaft.
    Verweist nicht der Hegelsche Satz, daß das Wahre der bacchantische Taumel ist, in dem kein Glied nicht trunken ist, darauf, daß in der Logik des Dings das planetarische System sich widerspiegelt? War vielleicht die Astrologie der Versuch, die Momente des Dings, seine „Eigenschaften“, in der Sternenwelt zu begreifen? War die Astrologie der Chaldäer eine Vorstufe der Hegelschen Logik?
    Hat die Neigung zur Astrologie wie auch die zur Religion heute etwas mit dem unendlichen Exkulpationsbedürfnis zu tun, das man versucht, über die Externalisierung von Schuld zu befriedigen?
    Kann es sein, daß im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit eine Eigenschaft des Raumes sich ausdrückt, die in anderer Konstellation im Gravitationsgesetz sich manifestiert?
    Muß man im sogenannten „Neuen Testament“ nicht jeden Text so verstehen, als wäre er der Schlüsseltext fürs Ganze?
    War der Stier in der alten Welt das Symbol der äußeren imperialen Macht, und verliert der Stier in dem Augenblick seine symbolische Kraft, in dem die imperiale Macht (Babylon) politisch sich durchsetzt und zur alles durchdringenden Substanz der Wirklichkeit wird: zusammen mit dem Weltbegriff? Was wurde auf dem Marsfeld geopfert (vgl. Benveniste)? Abel brachte von den Erstlingen der Schafe und von ihrem Fett ein Opfer dar.
    Daß das Joch nicht mehr mit der Last verwechselt werden soll, daß das Wort vom Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt, unters Nachfolgegebot fällt, daß es dem Christen schlicht unerlaubt ist, die eigene Last andern als Joch aufzuerlegen, das rückt die Beziehung von Moral und Theologie in ein neues Licht. Es entzieht dem moralischen Urteil den Boden. – Hängt das Stiersymbol mit der Ursprungsgeschichte der Urteilslogik zusammen? Ist die transzendentale Ästhetik der Kelch und die transzendentale Logik der Stier?
    Ist nicht das Futur II, die „zukünftige Vergangenheit“ die verurteilte (die „ausgelachte“) Zukunft? „Was wird schon gewesen sein?“ Drückt nicht der Kohelet „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ genau das Gleiche aus?

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