Juli 1996

  • 31.7.96

    Welches Befreiungspotential steckt in der Wahrnehmung, daß nicht die Opfer, sondern die Täter nach dem Krieg sich frei von Schuld fühlten: Liegt hier nicht der Beweis, daß der Rachetrieb (der die Schuld auf sein Opfer verschiebt) nicht den Opfern, sondern allein den Tätern zuzuschreiben ist? Bezieht sich hierauf nicht der Satz von dem „einen Sünder“, über dessen Bekehrung mehr Freude in den Himmeln herrscht als über 99 Gerechte, ebenso wie der letzte Satz des Jakobusbriefs: daß, wer einen Sünder vom Weg des Irrtums (und ist dieser Irrweg nicht der der Projektion, der Weg, den das Schuldverschubsystem eröffnet) bekehrt, seine eigene Seele rettet und „eine Menge Sünden zudeckt“? Ist dieser Weg des Irrtums nicht der der Verblendung und Verstockung, und ist das nicht der Weg der Herrschenden: der Weg des Pharao? Hätte das Scheusal Ägyptens geopfert werden können (und wäre Israel auf andere Weise befreit worden), wenn es gelungen wäre, den Pharao (den „einen Sünder“) aus dem Irrweg seiner Verstockung herauszuholen. Die Griechen hatten die Fremdheit nach draußen (ins Anderssein, in die „Barbaren“) projiziert; zur Absicherung haben sie die Natur (die Totalität des Andersseins) erfunden. Die Christen haben die Fremdheit in die Vergangenheit projiziert (in die Juden und Heiden, die Verkörperungen der vergangenen Welten): Instrument dieser Projektion war die Lehre vom Sündenfall (die zur Vorstufe der Gravitationstheorie geworden ist); zur Absicherung haben sie die Hölle erfunden, die seit je für die Christen einen höheren Realitätsgrad hatte als die Himmel. Lassen sich hieraus nicht Antisemitismus, Ketzer- und Hexenverfolgung, sogar die Scheiterhaufen, zwanglos ableiten? Unter einen Begriff werde ich (als Objekt) subsumiert, beim Namen werde ich gerufen. Hängt die Logik des Namens nicht mit der der Auferstehung zusammen? Verhalten sich Begriff und Name nicht wie Gericht und Barmherzigkeit? Verstärkt sich nicht der Eindruck, daß die Theologie heute verzweifelt sich bemüht, die Idee des seligen Lebens, ihre einzige Kraftquelle, zu verdrängen, sie nicht mehr laut werden zu lassen? Das kopernikanische System ist ein System von Bewegungen, deren jede in einem Abstraktionsschnitt sich konstituiert, in dem sie von den anderen jeweils absieht; die Einheit des Systems ist eine den einzelnen Bewegungen äußerliche: die des Raumes. – Die Erdrotation bezieht sich auf den Wechsel von Tag und Nacht, Licht und Finsternis, – das Kreisen der Erde um die Sonne auf den Jahreskreislauf; – worauf bezieht sich das Kreisen des Mondes um die Erde? Auf den Zyklus der Frau? Bezeichnet der mit dem paulinischen Begriff des Fleisches nicht das mit dem Ich gesetzte Ich-Fremde? Das würde auf den Zusammenhang des Begriffs des Fleisches mit der Sintflut verweisen („das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen; denn die Erde ist voller Frevel von den Menschen her. So will ich sie denn von der Erde vertilgen“, Gen 613), auf die Überflutung der Erde mit dem Ich und seinen Emanationen. Erinnert nicht das Freudsche „Wo Es ist, soll Ich werden“ an den paulinischen Begriff des Fleisches? Der Tod macht den Leib zum Fleisch. Ist es nicht das Kelch-Symbol, in dem die Herrschaft des Todes sich verkörpert, und gründet hierin nicht die Verknüpfung des Kelches mit dem Kreuz in der Getsemane-Geschichte? Sind es nicht die 99 Gerechten, die aus der Tatsache, daß Maria Magdalena, die große Sünderin und Büßerin, von den sieben unreinen Geistern befreit wurde, den Schluß gezogen haben: Die muß es aber schlimm getrieben haben? Wer seine Seele retten will, wird sie verlieren; wer sie aber rettet, hat mehr als seine Seele gerettet. Der Christ müßte eigentlich fähig sein, den Satz, daß niemand über seinen Schatten springt, zu widerlegen. Im Kontext des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die Existenz der Lichtgeschwindigkeit der Beweis, daß die Physik es nur mit dem Schatten zu tun hat. „Im Namen des Volkes“: Der Satz am Kreuz „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ richtet sich eindeutig an die Richtenden; und sprechen kann diesen Satz nur das Opfer, der Verurteilte, nicht aber einer, in dessen Namen das Urteil gesprochen wurde. Die Natur kann den Begriff deshalb nicht halten, weil sie ihn zu halten versucht. Aus dem gleichen Grunde kann die Geschichte das Objekt nicht halten. Nur die Barmherzigkeit erreicht ihr Objekt: durch Auflösung des Begriffs im Namen. Ist nicht die Beziehung von Täter und Rachsucht der Beweis dafür, daß ich der Täter der Sünde Adams bin? Und genau hierauf bezieht sich der Satz des Täufers über Jesus vom Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich (nicht hinweg-) nimmt. Die Sünde der Welt, das ist die Erbsünde, und der eine Sünder, über dessen Bekehrung eine größere Freude in den Himmeln herrscht als über 99 Gerechte, ist der Täter dieser Sünde, der endlich sich bekehrt. Die Sünde der Welt reproduziert sich durchs Recht. Das unterscheidet das Recht von der Gerechtigkeit. Ziel des Rechts ist die Erhaltung und Wiederherstellung des Rechts gegen den, der es verletzt, nicht die Gerechtigkeit. Mit dem Satz „Im Namen des Volkes“ konstituiert sich das Volk als Schicksalsgemeinschaft; die Wiederherstellung des Rechts ist nicht die Versöhnung. Und der Satz von Jutta Ditfurth, daß der Staat seine Terroristen braucht, verweist auf diese Logik, in der er gründet. An welcher Stelle der zehn ägyptischen Plagen finden die Allmachtsphantasien der Verwaltung ihren Platz? Hat das „Scheusal der Ägypter“ etwas mit der Zeusstatue im Tempel in Jerusalem. mit dem Greuel am heiligen Ort, zu tun? Und ist dieses Scheusal der Repräsentant der Allmachtsphantasien der Verwaltung (der subjektlosen Herrschaft)? Zu Habermas‘ Verfassungspatriotismus, den er wohl auf das Prinzip der Gewaltenteilung bezogen wissen will: Die Gewaltenteilung ist ohne Zweifel notwendig, aber ebensosehr auch reflexionswürdig, wenn sie nicht zum Prinzip der Selbstverblendung werden soll. Sind wir nicht dabei, die Legislative zum verlängerten Arm der Exekutive zu machen, und reproduzieren sich in der Jurisdiktion nicht immer deutlicher die Elemente der Exekutive? M.a.W., beginnt nicht die Gewaltenteilung sich selbst von innen aufzuzehren; droht nicht die Exekutive, sie zu verschlingen? Es gibt bereits Verwaltungen, die keiner demokratischen Kontrolle mehr unterliegen, die selbst als Legislative sich konstituieren: Vollzugsorgane der stärkeren ökonomischen Mächte, die sie beherrschen. Aufgrund objektiver Zwänge wird die Legislative immer mehr zum verlängerten Arm der Exekutive. Zugleich regrediert die Jurisdiktion in Verwaltung (werden reflektierende Urteile zu bestimmenden, zu synthetischen Urteilen apriori). Die Verwaltung wird zur Verwaltung des Wissens, mit dessen Hilfe sie Gesetzgebung (Natur) und Rechtsprechung (Welt) präjudiziert. Die Gewaltenteilung gründet in den Totalitätsbegriffen, die die Verwaltung zum Instrument der Transformation der Urteilskraft ins universale Vorurteil machen. Wird nicht das Gewaltmonopol des Staates durch das Wissensmonopol der Verwaltung abgesichert, wobei mit Hilfe der Geheimhaltung zwischen Herrschaftswissen und öffentlichem Wissen (zwischen Handlungskompetenz und Selbstdarstellung) deutlich unterschieden wird? Hierzu gehört es, daß der Staat bemüht ist, die Zuständigkeit der Medien auf den durch ihn definierten Bereich des öffentlichen Wissens einzuschränken, der Öffentlichkeit den Zugang zum Herrschaftswissen zu verwehren. Dem kommt der Informationsbegriff, das Selbstverständnis der Medien, auch ohne daß man gezwungen wäre, einen vorauseilenden Gehorsam zu unterstellen, weit entgegen, durch die Logik von Tatsache und Meinung, die zur Sache äußerlich sich verhält und den kritischen Begriff zur subjektiven Meinung, zum bloßen Raisonnement, und damit unschädlich macht. Rückt nicht ein Zustand immer näher, in dem es unmöglich zu werden beginnt, gegen das, was ist, noch anzuschreiben, in dem das Bestehende von der Logik seiner Rechtfertigung nicht mehr sich trennen läßt? Die These scheint begründbar zu sein, daß die Gewaltenteilung (wie auch die Konstellation der drei Totalitätsbegriffe Kants) das Gegenstück, das genaue Korrelat, zu der dreifachen Abstraktion darstellt, die das kopernikanische System determiniert und in ihm sich entfaltet. Bezeichnet nicht der Begriff der Determination (der Abstraktion von der Idee eines objektiven Ziels) das Grundprinzip der Begriffsbildung, das gleiche Prinzip, das den Objektivationsprozeß an den der Instrumentalisierung bindet? Durch dieses Prinzip ist das Verfahren der Begriffsbildung ans Selbsterhaltungsprinzip gebunden, und der Erkenntnisprozeß an ein Verfahren kollektiver Identitätsbildung (Ursprung des Nationalismus). Das reicht hinein in die Naturerkenntnis und in die historischen Gestalten der Kosmologie. Der Terminus, von dem abstrahiert wird, ist der Name und das Angesicht, und die Determination selber, der Abstraktionsprozeß, ist das Feuer. (Vgl. das ungeheure Bild in der sechsten der zehn ägyptischen Plagen, daß „der Ofenruß vor den Augen des Pharao gen Himmel“ geworfen wird.) Gehört nicht das Strafrecht zu den Konstituentien auch der logischen Determination? Ist nicht Kants Wort von der Erhabenheit des moralischen Gesetzes in mir und des Sternenhimmels über mir eine Station auf dem Wege der Selbstaufklärung der Aufklärung (auch der Astronomie)?

  • 30.7.96

    Schwindel: ein physischer und ein logischer Sachverhalt; Zusammenhang von Hören und Sehen, Fall und Rotation (Planeten). Der Schwindel und die „Wege des Irrtum“, der Taumelkelch. Das Inertialsystem erzeugt den Schein des Schutzes vor diesem Schwindel, er verschafft den Begriffen Grund durch Verankerung in der Identität des Anschauens, der sichtbaren Dinge. Seitdem steht alle Identität unter dem Bann des Anschauens.
    Im Johannes-Evangelium gibt es den „Fürsten dieser Welt“: – 1231: „Jetzt … wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen werden“, – 1430f: „Nicht mehr viel werde ich mit euch reden, denn es kommt der Fürst dieser Welt. Über mich vermag er nichts, …“ – 167f.11: „Wenn ich nicht ginge, würde der Beistand nicht zu euch kommen … Wenn er dann kommt, wird er die Welt überführen: … des Gerichts, weil der Fürst dieser Welt schon gerichtet ist.“
    Wer ist damit gemeint: Der Caesar oder eine Engelsmacht (wenn beide sich überhaupt unterscheiden lassen)? Ist die Engelsvorstellung nicht politischen und astrologischen Ursprungs zugleich (und sind die Horoskope säkularisierte Engelsbotschaften)? Und unterscheiden Engel und Dämonen sich nicht eigentlich nur dadurch, daß, während jene auf das Endziel, die Rettung der Welt, sich beziehen, diese auf Interessen der Selbsterhaltung?
    Zur Zweideutigkeit des Begriffs der Autonomie: Die Autonomie, die dem Selbsterhaltungsprinzip korrespondiert, gründet im Eigentum (der Nicht-Eigentümer ist nicht autonom), die andere Autonomie in der Distanz zur Selbsterhaltung (oder in der Fähigkeit zur Schuldreflexion): in der Freiheit zur Barmherzigkeit, zur Identifikation mit dem Anderen.
    Die zweite Gestalt der Autonomie findet ihre biblische Verkörperung in der Idee des Heiligen Geistes. Als Verkörperung des verteidigenden („parakletischen“) Denkens ist der Heilige Geist die Verkörperung einer Freiheit, die dem Rechtfertigungszwang entronnen ist.
    Ist nicht das Auto, dessen Kosten insgesamt die der „Anschaffung, Aufzucht und Erhaltung“ eines Kindes entsprechen dürften, und das auch einer ähnlichen „Zuwendung“ bedarf, das Symbol der Abschaffung der Zukunft? Hierbei entspricht der Geschwindigkeitsrausch („Freie Fahrt für freie Bürger“) dem Trieb, in der Gegenwart verharren zu können, der Zukunft zu entfliehen (Kult des Komparativs: Höher, schneller, weiter; zum Fetisch Auto gehört der Olympia-Kult). Sind nicht die Siege im Sport, insbesondere auf dem Fußballplatz, Exerzitien der schrecklichen Siege, deren Opfer wir alle einmal sein werden? Ist nicht das Ziel allen Sports das Präsens, das keine Zukunft mehr kennt (der Indikativ, der keinen Konjunktiv mehr kennt)? Bezieht sich nicht der Satz, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden, auf dieses Präsens. Oder anders: Ist dieses Präsens das schwarze Loch, das alles Licht in sich aufsaugt, aber keins mehr ausstrahlt? Wie hängen die Formen der Deklination (die Casus) mit den Formen der Konjugation (den Zeiten und Modi: mit Präsens und Vergangenheit, Aktiv und Passiv, Indikativ und Konjunktiv, mit Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II, am Ende mit Infinitiv und Imperativ) zusammen? Hat nicht das nunc stans, das geheime Ziel der Lehre von der ewigen Wiederkunft, mit Nietzsche als absolute Parodie des Ewigen sich enthüllt? Nur daß es in einer Logik, die das Ewige mit dem Überzeitlichen verwechselt, hierzu keine Alternative gibt. „Ehe Abraham ward, bin ich“: ist dieser Satz nicht doppeldeutig? Er verweist einerseits auf eine vergangene Zukunft, die bis heute noch nicht eingeholt ist, während das „ehe“ auf eine Vorangehendes, Früheres, Erstes verweist, durch deren Kritik hindurch die Idee des Messias überhaupt erst zu gewinnen wäre. In messianischem Kontext ist das Erste das Letzte. Was „vor aller Zeit“ ist, ist keine Vergangenheit, sondern die Zukunft. Dieser Anfang wird das Ende sein. Deshalb ist der erste Akt der Schöpfung das Fallen, eine Katastrophe, das tohuwabohu, die Finsternis über dem Abgrund, während der zweite, noch nicht abgeschlossene der des Rettens ist. Der Anfang dieses zweiten Akts ist der über den Wassern brütende Geist. Aus wieviel Siebener-Gruppen besteht die Apokalypse (wenn man die Schreiben an die Engel der sieben Gemeinden in Asien mitzählt)? Kann es sein, daß es insgesamt elf sind, und bezieht sich darauf das Jesus-Wort an Petrus (das fast unmittelbar auf den Satz vom Binden und Lösen folgt), daß wir nicht nur siebenmal sondern siebenundsiebzigmal vergeben sollen (Mt 1822)?
    Läßt sich die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik nicht daraus herleiten, daß nur die, die mitgemacht haben, lebenstüchtig waren, während die, die nicht mitgemacht haben, zu sehr mit sich selbst (mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Probleme) befaßt und für die anderen Dingen nicht frei waren? Hat nicht der leichte Gesinnungswechsel nach dem Krieg die Bekenntnislogik, der er sich bediente, endgültig gegen die Tradition, aus der sie einmal erwachsen ist, immunisiert und damit erst wirklich faschistisch gemacht? Hier liegt der Ursprung des Mechanismus, zu dem es keine Alternative mehr zu geben scheint, der bewirkt, daß heute der Kampf gegen den Faschismus zum Kampf gegen die Erinnerung wird: Die reflexartige Verurteilung des Faschismus, die das Erinnern ausschließt (das Entsetzen soll nicht „konserviert“ werden), macht auch den Kampf gegen den Faschismus blind gegen das wirkliche Verhängnis, das fortbesteht, sie macht ihn am Ende selber faschistisch. „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“ (Zwi Rix, zit. na Henryk M. Broder): Gehört nicht zur Anamnese der Rache die Einsicht, daß nicht die Opfer, sondern nur die Täter rachsüchtig sind; und liegt darin nicht die wirkliche politische Gefahr? Läßt sich nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos auf die Gechichte des Christentums anwenden (und liegt das einzige Hemmnis nicht in den aus genau dieser Anwendung ableitbaren Folgen dieser Geschichte)? Und sind wir nicht heute in der Phase der Finsternis? Worauf bezieht sich das Wort vom Greuel der Ägypter; ist dieses Greuel (die Materie des Opfers) eins in den Augen der Ägypter oder in den Augen Israels (das Greuel der Ägypter selbst, das Prinzip Mizrajim)? In jedem Fall rührt das am dritten Tag nach dem Auszug vorgesehene (dann aber nicht erfolgte?) Opfer an die „heiligsten Güter“ Ägyptens.
    Ist es nicht doch ein wenig arglos, wenn Ton Veerkamp darüber klagt, daß die gegenwärtige Theologengeneration an der Schrift nicht interessiert sei? Braucht nicht jeder Staat sein Militär, um in seinen Bürgern die paranoiden Ängste zu erzeugen und zu pflegen, deren er zu seiner Absicherung gegen ein etwaiges Erwachen der politischen Vernunft bedarf?
    Auch wenn Tertullian selber nicht heilig gesprochen wurde: Ist er nicht gleichwohl die Verkörperung jenes Paradigmenwechsels, der dazu führte, daß an die Stelle des Märtyrers der Confessor getreten ist? Hat nicht Tertullian das Martyrium in die Confessio transformiert, und war das nicht der Grund der donatistischen „Häresie“? Dazu würde es passen, wenn es stimmt, daß Tertullian einmal gesagt hat, daß Frauen, wenn sie in den Himmel kommen, dort zu Männern (gleichsam „befördert“) werden. Hat er sich hierbei auf die Antwort bezogen, die Jesus den Sadduzäern gegeben hat, als sie ihn wegen der Frage der Auferstehung auf die eine Frau, die mit sieben Männern verheiratet war, ansprachen (und erinnert diese Geschichte nicht an zwei andere Geschichten: an die der Sara und des Dämon Asmodai im Buche Tobit, wie auch an die der Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde <überhaupt an die „sieben unreinen Geister“, die in das „leere, gereinigte und geschmückte Haus“ zurückkehren>; wie wurde übrigens die Sara von ihrem Dämon befreit)? Bei Mk wird an die Befreiung der Maria aus Magdala von den sieben Dämonen anläßlich des Gangs zum Grabe (am „ersten Tag“) und der Auferstehung erinnert (169), bei Lk im Zusammenhang mit der ersten Nennung der Frauen aus Galiläa, die Jesus begleiteten (82).

  • 29.7.96

    War Johannes nicht „der Jünger, den der Herr liebhat“, und auch der, von dem er sagte: „Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich wiederkomme, was geht das dich an“, nach einer Tradition, an die Karl Thieme erinnert hat, der Typos der Juden (Petrus hingegen der Typos der Kirche)? Hat nicht die Kirche mit der Rezeption des Hellenismus das gleiche Scheusal verinnerlicht, gegen das einmal der Aufstand der Makkabäer sich richtete?
    Man muß von der Vorstellung Abstand nehmen, daß in einer seit je bestehenden und immer sich gleichbleibenden Welt, die gleichsam nur als Bühne fungiert, die politischen Änderungen dann sich abspielten. Es waren politische Ereignisse, Prozesse und Veränderungen, die den Weltbegriff, die Spiegelung und Legitimierung der Herrschaftsstrukturen im Objekt, hervorgebracht und mit verändert haben. Die Kosmogonien, die mythischen Weltentstehungserzählungen, sind nicht nur unwahr: Sie reflektieren die mit der Entstehung der politischen Herrschaftsstrukturen verbundene Geschichte des Ursprungs des Weltbegriffs. Deshalb war der biblische Schöpfungsbericht ein Teil der Kritik der Idolatrie, der im Götzen-, Sternen- und Opferdienst sedimentierten Herrschaftsideologie. Hängt die Unfähigkeit, den Zusammenhang zwischen dem Reichtum der Metropole und der Armut in der Dritten Welt überhaupt wahrzunehmen, nicht mit dem Naturbegriff zusammen, mit dem die Herrschenden vor dem Erkanntwerden und schließlich vor der Selbstwahrnehmung sich schützen? Und beschreibt nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos genau diesen Prozeß (und damit auch den Prozeß der Konstituierung des Naturbegriffs)? Ton Veerkamps „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ wird widerlegt durch den anderen Satz: Das Vergangene (die Verhärtung des Herzens Pharaos, der Kreuzestod Jesu, der Faschismus und Auschwitz) ist nicht nur vergangen.
    Deshalb ist Theologie ohne Erinnerungsarbeit nicht möglich, aber diese Erinnerungsarbeit (und damit die Theologie) zielt aufs Begreifen der Gegenwart (nicht des Überzeitlichen).
    Wird nicht das Erzählen zum Mythos, wenn man die Halacha von Haggada trennt (durch den Rechtfertigungszwang, unter dem alles Erzählen steht: es entlastet)? Dieses Erzählen erzeugt aus sich selbst den Bann der Schicksals, dessen Logik es dann nicht mehr zu entrinnen vermag.
    Die Lehrerfrage, die Schülern die Literatur verekelt: „Was wollte der Autor damit sagen?“ findet sich heute auch bei Theologen, die unterstellen, ein biblischer Autor habe nicht das gesagt, was er gesagt hat, sondern etwas gemeint, was von dem, was er gesagt hat, noch unterschieden sei; die meinen, es käme darauf an zu erkennen, was er hat sagen wollen, als wäre das etwas anderes als das, was er gesagt hat. Es ist der allwissende Theologe, der die geheime Absicht des biblischen Autors besser zu kennen vorgibt als der Autor selber. Er erweckt den Eindruck, erst wir wüßten wirklich, was der biblische Autor mit den damaligen, noch unzulänglichen Mitteln noch nicht so deutlich habe ausdrücken können, wie wir es heute können. So heißt es an einer Stelle im neuen katholischen Weltkatechismus (ich zitiere sinngemäß), der Autor der Genesis habe den an sich klaren Sachverhalt, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat, nur undeutlich (in der „Sprache seiner Zeit“) mit dem Satz, daß Gott im Anfang den Himmel und die Erde erschuf, wiedergegeben, vielleicht weil ihn seine Zeitgenossen, die noch in im Bann eines mythischen Weltbildes lebten, sonst nicht verstanden hätten. Aber gibt es einen undeutlicheren Satz als den, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat? Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, und das „naturwissenschaftliche Weltbild“ die Finsternis über dem Abgrund der Geschichte. Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, weil es vom Hören abstrahiert. Das Credo spricht die Sprache des Bewußtseins. Wenn ich etwas „bewußt“ sage, sage ich etwas anderes als ich meine, verfolge ich mit dem, was ich sage, eine Absicht, die ich zugleich verberge, ist für mich die Sprache ein bloßes Instrument, aber unfähig, die Wahrheit auszudrücken. Kein Bewußtsein ohne „Hintergedanken“, ohne List, ohne Ziele, die im Dunkeln bleiben. Das Bewußtsein spricht durch die Blume. Erst seit es das Bewußtsein gibt, gibt es die Psychologie, die Frage nach dem, was sich „hinter“ den manifesten Äußerungen des Bewußtseins verbirgt. Wer von einem biblischen Text sagt, daß der Autor „bewußt“ etwas sage oder nicht sage, kreuzigt das Wort.

  • 28.7.96

    Ist nicht das Sektiererische an der Apokalypse ein Sprachproblem, eines, das in der Logik des Weltbegriffs gründet? Und ist nicht die Apokalypse der Schlüssel zur Lösung dieses Problems (des Problems des Fundamentalismus)?
    Man kann nicht magnificare mit Großmachen (Jankowski) und zugleich justificare (anstatt mit Gerechtmachen) mit Rechtfertigen übersetzen. Der Glaube, der gerecht macht, ist ein anderer als der, der rechtfertigt. Der eine steht vor der Tat, die er ändert, der andere folgt der Tat, die er nicht mehr nicht mehr rückgängig machen, sondern nur noch anders beurteilen kann. Der erste Glaube ändert die Praxis (und mit ihr die Welt), der andere nur das Urteil. Zwischen diesen beiden Gestalten des Glaubens liegt der Weltbegriff, der sie trennt. Der rechtfertigende Glaube gehört zur Anpassung an eine Welt, die sich doch nicht ändern läßt, während der gerechtmachende Glaube auf eine Welt sich bezieht, die ebenso änderungswürdig wie -fähig ist. Die Apokalypse, die für den rechtfertigenden Glauben ein Schreckensbild ist, deckt dem gerechtmachenden Glauben die Schwierigkeiten und Hindernisse auf, die sich ihm in den Weg stellen, auf deren Erkenntnis er um seines Ernstes und seiner Würde willen jedoch nicht verzichten kann.
    Das Wort vom „Zudecken der Sünde“ (Jak 520) fällt unter die Levinassche Asymmetrie (unter den Satz vom Rind und vom Esel); man darf es nicht auf sich selbst beziehen (auf die Verdrängung). Es ist die andere Seite des „Richtet nicht, …“. Hier läßt sich zeigen, daß Liebe (Gnade) etwas anderes ist als „Huld“, in der der „gnädige Herr“ nur sich selber spiegelt. Huld ist die abscheuliche Gnade von oben, die zugleich demütigt.
    Wer Religion als Kuschelecke sucht, tut der nicht dasselbe, was die Kirche seit je getan hat: in einer Welt, an deren Veränderung sie nicht mehr glaubt, sich komfortabel einzurichten? Auch das Dogma war einmal ein Teil dieses Komforts.
    Natur ist ein herrschaftsgeschichtlicher Begriff. Als Habermas seine Kant-Kenntnisse verdrängte und die Naturwissenschaften als nicht mehr hinterfragbar erklärte, hat er die Idee einer Kritik der Herrschaftslogik aus seiner Philosophie ausgeschlossen; so blieb ihm nur noch die Möglichkeit des „herrschaftsfreien Diskurses“, die es nicht gibt, auf der er gleichwohl seine Kommunikationstheorie aufzubauen versucht hat. Seitdem steht seine Philosophie unter Rechtfertigungszwang (aus dem sein Konzept des „Verfassungspatriotismus“, das die Idee einer richtigen Gesellschaft ersetzen sollte, allein sich erklären läßt).
    Beide, Natur und Welt, sind keine theologischen, sondern herrschaftsgeschichtliche Kategorien.
    Jede Blume und jedes Tier widerlegt das kopernikanische System.
    Zu den ägyptischen Plagen gehören:
    – das Wasser (auch das in „hölzernen und steinernen Gefäßen), das zu Blut wird (später wird Jesus Wasser in Wein und den Wein in sein Blut verwandeln?),
    – die Frösche, die u.a. in die Betten und in die Backtröge kriechen (vgl. die Geschichte mit Pharaos Weib und mit dem Oberbäcker; in der Apokalypse werden sie als „unreine Geister“ begriffen),
    – drei Insektenarten: die Mücken, das „Geziefer“ (Buber), und später die Heuschrecken,
    – die Pest, die der HERR über das Vieh der Ägypter (nicht über das der Israeliten) kommen läßt,
    – der Ofenruß, der zum Himmel geworfen zu Staub wird und an Mensch und Vieh (auch an den Zauberern) Beulen und Geschwüre hervorruft,
    – der Hagel, der zusammen mit Donner und Feuer alles erschlägt, was auf dem Felde ist, Mensch und Vieh, Gewächs und Bäume, auch Flachs und Gerste (nicht Weizen und Spelt, die später reifen),
    – dann die Heuschrecken, die alles fressen, was der Hagel übriggelassen hat (auch Weizen und Spelt),
    – dann die Finsternis und
    – am Ende der Tod aller Erstgeburt, vom Pharao bis zur Sklavin, auch beim Vieh.
    Paulus hat, außer an die Römer, u.a. auch Briefe an die Korinther, an die Thessalonicher und an die Galater geschrieben. Der Brief an die Römer ist wie die an die Korinther und Thessalonicher als Brief an die Bewohner Roms zu verstehen, und nicht, wie der an die Galater (oder an die Hebräer), an einen durch andere Kriterien definierten Adressaten. Aber kann es nicht sein, daß mit den Römern zunächst nur die Einwohner Roms, darüber hinaus aber auch die römischen Bürger insgesamt (zu denen auch Paulus gehörte) gemeint waren, eine politisch-rechtlich, nicht nur lokal definierte Gruppe? Hätte dieser Brief, so verstanden, dann nicht eine ganz andere, die Intention der paulinischen Völkermission („Heidenmission“) neu bestimmende Bedeutung? So wäre er ein Text der Selbstverständigung, eine Apologie, aber auch ein Programm.
    Wer sind die „Galater“, und weshalb schreibt Paulus einen Brief „an die Gemeinden <tais ekklesiais> in Galatien“ (während Johannes zum Eingang der Apokalypse die sieben Briefe an „die Engel der ekklesiai in Asien“ schreibt)? – Zu den „Galatern“ vgl. Der Kleine Pauly, Bd. 2, Sp. 666ff.
    Ist die Frage „Wer war Paulus“ eigentlich wirklich geklärt?
    – Hat Tarsus in Cilicien etwas mit Tarschisch zu tun (und Paulus mit Jonas, der nach Tarschisch floh, als er den prophetischen Auftrag an Ninive erhielt)?
    – Israelit, Benjaminit und Römer: Diese Identitätsnamen erinnern an
    . den „Schüler“ des Gamaliel,
    . den Eigennamen Saulus (und den Benjaminiten Saul, den königlichen Vorgänger und Gegenspieler Davids) und
    . den anderen Namen Paulus (mit dem er erstmals bei seinem Aufenthalt in Zypern, beim Statthalter Sergius Paulus, genannt wird; schließt das „Römer von Geburt“, das an „Römer von Natur“ anklingt, eigentlich eine Adoption aus? Natur selber, in deren Namen der der Geburt nachklingt, ist ein herrschaftsgeschichtlicher Begriff, ein Korrelat der patria potestas.)
    – Paulus war kein „Zelot“ (das aus der einen Stelle im Gal abzuleiten, ist ähnlich haltlos, wie der mittlerweile herrschenden, sachlich gleichwohl völlig unbegründeten Auffassung, die aus Rosenzweig aufgrund einer einzigen Erwähnung Heideggers zum Existentialisten gemacht hat); war Paulus nicht eher ein V-Mann der Herrschenden (der Hohenpriester, in deren Auftrag er die Gemeinde bis hin nach Damaskus verfolgte)?
    Hängt nicht der Satz aus dem Jakobus-Brief, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert, mit dem letzten Satz des Buches Jonas zusammen („wie sollte ich mich nicht erbarmen, …“)?
    In welcher Beziehung steht der Name des Petrus („Fels“) zum Staub, aus dem Adam geworden ist, und zu dem er wieder werden wird (der war und wieder sein wird), und die Befreiung Maria Magdalenas von den sieben unreinen Geistern zum Samen Evas, der der Schlange den Kopf zertreten wird?
    Wenn die Welt „das Objekt nicht halten kann“, wenn sie in einer gleichsam parasitären Beziehung zur Natur steht, die Hegel zufolge „den Begriff nicht halten kann“, ist das nicht ein genaues Abbild des Attributs des Tieres, das „war, nicht ist, und wieder sein wird“? Und war die Zukunft, die von der Vergangenheit aufgezehrt wird, nicht vorher schon die „zukünftige Vergangenheit“: das Futur II?

  • 27.7.96

    „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (Ton Veerkamp, TuK 70, S. 23): Heißt das, daß, wenn Primo Levi seine Erinnerungen nicht niedergeschrieben hätte, Auschwitz „nicht passiert“ wäre? Heißt das, daß, wenn der 5. Strafsenat des OLG in Frankfurt jede Nachfrage nach dem, was in Bad Kleinen wirklich geschehen ist, wenn das Erzählen unterdrückt wird, dann auch die Ereignisse ungeschehen zu machen sind? Begründet dieser Satz nicht die Logik des Namens: Nestbeschmutzer? Begründet er nicht die Hoffnung der Täter (die Hoffnung, deren Logik Lyotard in seinen an Auschwitz anschließenden Reflexionen über das „vollendete Verbrechen“, das die Tat ungeschehen zu machen hofft, indem es auch die Zeugen aus der Welt schafft, untersucht, eine Untersuchung, die auch Licht in die Logik der frühchristlichen Märtyrer-Geschichte <und in die Umkehrung dieser Logik in der Gestalt des Confessors, der den Märtyrer ablöst> bringt)?
    Zahl und Schein: Wie hängt der Begriff der Erzählung mit dem der Erscheinung zusammen? Ist nicht das Organisationsprinzip der ersten die Form der inneren Anschauung (die chronologische Einheit der Erzählung), das der zweiten hingegen die der äußeren Anschauung (die räumliche Einheit, in welche die Naturprozesse durch Verräumlichung der Zeit mit hereingezogen werden)? Erscheinungen sind Erscheinungen im Raum (ihre Gegenwart ist die der Präsenz des Objekts), während Erzählungen als Vergegenwärtigung von Vergangenem deren Gegenwart (nicht das Vergangene selber) als eine sprachliche, als erinnerte Gegenwart erst herstellt.
    Dem kontemplativen Erzählen des Vergangenen entspricht das Beschreiben des Gegenwärtigen: In welcher Beziehung steht das Zählen zum Schreiben?
    Das Erzählen, das heute notwendig wäre, hätte das Prinzip der chronologischen Einheit mit zu reflektieren.
    Kann es sein, daß die Vorstellung sich widerlegen läßt, daß dem Niederschreiben einer Erzählung (des homerischen Epos oder der biblischen Erzählungen) eine Phase der mündlichen Tradition vorausgeht? Ist nicht vielleicht doch das Erzählen ein Produkt der Schrift? Wie hängen Epos, Astronomie und Schrift mit einander zusammen? Ist die Hieroglyphen-Schrift (und ihre Beziehung zum Tempel, deren Wände sie ziert) der Grund dafür, daß Ägypten kein Epos hervorgebracht hat, statt dessen die Pyramiden?
    Zwischen der Himmelfahrt Jesu und Pfingsten liegt nur die Wahl des Zwölften, der stumm bleibt, und von dem dann nichts mehr erzählt wird. Der Zwölfte (sein Name war Matthias) füllt die Stelle aus, die durch den Verrat des Judas Iskariot freigeworden ist.
    Ist das Interesse zu erfahren, was denn wirklich passiert ist, so unerheblich? Gehört nicht die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Geschehenen, die nicht aufhebbar ist, zur Wahrheit des Erzählten (zur Wahrheit dessen, was geschehen ist)? Es geht nicht um die nackten Tatsachen, aber auch nicht nur um das Kleid, das die Nacktheit verdeckt (die Legende), sondern um das Unerlöste in der Beziehung beider: um die Erfüllung des Worts, mit der das Vergangene erlöst wird, sich vollendet.
    Hatte der Greuel, das Scheusal der Ägypter, das nach dem Wort des Moses an Pharao die Israeliten am dritten Tag nach dem Auszug aus Ägypten opfern wollten, etwas mit der „Sünde der Welt“ zu tun? Ist nicht der Weltbegriff der Inbegriff der Begriffe, Gesetze und Strukturen, in denen die Vergangenheit fortschreitend Macht über die Dinge gewinnt, der Inbegriff der die Dinge verschuldenden Gewalt; und ist das nicht der Feind, dem die Wahrheit immer erneut abgerungen werden muß? Die Erzählung ist nicht die Welt, aber sie lebt von der Spannung zur Welt.
    Karl Thieme hat einmal gegen das berühmte Wort Leopold von Rankes darauf hingewiesen, es komme nicht darauf an, zu erkennen, wie es eigentlich gewesen sei, sondern was eigentlich geschehen ist. (Biblische Religion heute, Heidelberg 1960, S. 181) Auf dieses Was zielt die Erinnerungsarbeit, aus der das Erzählen sich nährt, auch wenn sie nicht nur im Erzählen sich äußert. Ist nicht jede Theologie, die diesen Namen verdient, Erinnerungsarbeit, und die Schrift der Schlüssel, der die Pforten der Erinnerung öffnet?
    Haben das Wasser und das Trockene (des dritten Tages) etwas mit dem Was und dem Wer, die nach kabbalistischer Tradition im Namen des Himmels gründen, zu tun?
    „Persönlichkeit“: Hierzu wäre an Rosenzweigs Bemerkungen zu diesem „höchsten Glück der Erdenkinder“ zu erinnern, zugleich aber daran, daß nicht sie, sondern die „Kinder Gottes“ es sind, auf deren Freiheit dem Römerbrief zufolge die ganze Schöpfung wartet. Jesus mag der Sohn Gottes gewesen sein, aber er war gewiß keine Persönlichkeit. Sprachgeschichtlich dürfte der Begriff der Persönlichkeit auf den gemeinsamen Ursprung mit der Ausgliederung und der Verselbständigung der Personalpronomina in den modernen Sprachen zurückweisen. Er verdankt sich der gleichen logischen Bewegung, der auch die Herauslösung des „Ich“ aus seinem dialogischen Kontext und seine idealistische Hypostasierung sich verdankt. Im Begriff der Persönlichkeit enthüllt sich das idealistische Absolute als Gattungsbegriff (und der Begriff der Zeugung im christlichen Dogma als deren theologischer Reflex). Frage: Wer ist das Ich im kantischen Begriff des transzendentalen Subjekt, im „ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“? Ist es nicht ein männliches Subjekt, das gegen alle „seine“ Vorstellungen als selbständiges, „autonomes“ Subjekt sich muß behaupten können, und ist es nicht das bürgerliche Subjekt, das es sich leisten kann, Herr all seiner Handlungen (und nicht das Objekt seiner Begierden und Triebe) zu sein? Schließt dieses Ich (das Ich der Persönlichkeit), ähnlich wie der frühchristliche „Confessor“, aus dem es sich herleitet, nicht ebenso wie die Frauen auch die Juden (und natürlich die Häretiker) von sich aus?
    Das Sein, der Gegenstand der Ontologie, ist ein durch Neutralisierung unkenntlich gemachtes Maskulinum und zugleich ein von der Beziehung auf ein bestimmtes Subjekt abgelöstes (und so ebenfalls unkenntlich gemachtes) Possessivpronomen, und die Ontologie selber der Statthalter des Patriarchats in der Philosophie. Das Sein steht zwar völlig nackt da, aber es verbirgt sein Geschlecht durch das magische Verbot, es wahrzunehmen: durchs Verbot der Sprachreflexion, das zu den logischen Gründen des Rassismus gehört (der Wirkung dieses Verbots schienen Nazis nicht ganz zu trauen, die, wenn sie in Uniform fotografiert wurden, ihre Hände davor hielten).
    Die Gravitation und das Selbstgefühl gründen in der Oben-Unten-Beziehung, während das Sehen (in dem die Schwere nicht erscheint) auf den Horizont und die vier Himmelsrichtungen verweist. Zur Befreiung des Sehens („da gingen ihnen die Augen auf“) gehört der aufrechte Gang.
    Die Beziehung des Sehens zur Schwere reflektiert sich in der des Trägheitsprinzips zur Schwere (im Verhältnis der trägen zu schweren Masse, deren Identität der Einheit des Inertialsystems sich verdankt), auch in der des Tauschprinzips zur Schuldknechtschaft (die ihre Einheit außer sich, im Geld, erst finden).
    Ist es nicht der Hahn, der einen Sünder vom Irrweg bekehrt? Und wie hängt die Geschichte von der Maria Magdalena und den Frauen, die hinausgingen, um den Leichnam Jesu zu salben, mit der Geschichte der drei Leugnungen Petri zusammen?
    Wenn der Kreuzestod auf die Zerstörung Jerusalems verweist, verweist er dann nicht auch auf Auschwitz?
    „Allein den Betern kann es noch gelingen, …“: Kann es sein, daß das Wort „Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein“ sich auf die Heiligung des Gottesnamens bezieht?
    Die dritte Leugnung: Heute hält selbst sich die Theologie die Theologie vom Leibe, mit der Folge, daß sie unfähig geworden ist, in der Verhärtung des Herzens Pharaos die eigene wiederzuerkennen.
    Als Hegel aus dem transzendentalen Subjekt (dem Ich in Kants „ich denke, …“) die Idee des Absoluten entwickelte, stieß er zwangsläufig auf Strukturen, die identisch waren mit denen des Dogmas, der Orthodoxie.
    Hängt nicht Wittgensteins Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ mit der Schellingschen Formulierung, die Zukunft werde „geahndet“, zusammen, und erfüllen sich nicht beide aufs entsetzlichste in einer Welt, die die Zukunft verrät?
    Ist nicht dieses „Ahnden“ eine logische Folge der Schellingschen Naturphilosophie, die den Schuldzusammenhang universal gemacht hat?
    Natur und Moral: Die Urteilsmoral ist die Folge eines Selbstverständnisses, dem die eigenen Interessen und das eigene Handeln zur reinen, gegen jede moralische Reflexion immunen Natur geworden sind, zu „Sachzwängen“, deren Objekt es bloß ist. Es gehorcht nur den Gesetzen der Selbsterhaltung. Moral ist als Urteilsmoral (als „Wertethik“) Moral für andere: die Moral des steinernen Herzens, dem die Barmherzigkeit, die Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, gegenstandslos und zum flatus vocis geworden ist. Der ökonomische Grund dieser logischen Konstruktion läßt an den Argumenten sich ablesen, mit denen die Sprecher aus Wirtschaft und Politik die Notwendigkeit des Sparens aus den Taschen der anderen begründen. Ist nicht Natur, insbesondere auch die, die die Gesetze diktiert, nach denen ich vorgebe, zu handeln gezwungen zu sein, seit dem Ursprung ihres Begriffs das Korrelat des steinernen Herzens? Deshalb wird es eine Theologie, die diesen Namen verdient, ohne Kritik der „Naturwissenschaft“ nicht mehr geben.

  • 26.7.96

    Das Ende des Messianismus manifestiert sich im Werk des Paulus, nicht bei den Evangelisten (TuK 70).
    Ist die paulinische „Rechtfertigung durch Glauben“ nicht der Ausdruck einer tiefen Verzweiflung darüber, daß das Wort und das Handeln (die Thora, das Gesetz und das Tun) nicht mehr zusammenzubringen sind?
    Waren die Evangelien nicht u.a. deshalb notwendig, weil nach Paulus das Christentum – aufgrund der Abstraktion von der Lehre Jesu – zu einer magischen Religion (zu einer Opfer- oder Mysterienreligion) zu werden drohte?
    Ist nicht das Wort von dem einen Sünder, über dessen Bekehrung im Himmel mehr Freude herrscht als über 99 Gerechte, ein antipaulinisches Wort: Ist nicht dieser eine Sünder der, der über das Gesetz und die Thora, über das Bewußtsein der Sünde, zur Gottesfurcht gelangt ist, die Paulus, der einigemale auf sein „ruhiges Gewissen“ verweist, auch den Christen ersparen möchte?
    Das Fleisch, oder die Gewalt der Sünde über mich, ist nur durch Reflexion und Umkehr, nicht durch Verurteilung und durch Verdrängung, nicht durch Tabuisierung, zu brechen.
    Kommt der Name der Barmherzigkeit bei Paulus überhaupt vor, und verdeckt nicht die Rechtfertigungslehre genau diese Lücke? Gibt es eine Stelle, die der im Jakobusbrief, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert, entspricht?
    Hat Paulus nicht das Christentum zu einer Schutzhütte vor den Unbilden des Römischen Reiches gemacht? Hier ist der Messianismus gestorben und begraben worden, ist das Christentum zu einer magischen Religion geworden.
    Während die Synoptiker nur die leeren Stellen der paulinischen Theologie auffüllen, ist das Johannes-Evangelium antipaulinisch: der Kampf gegen die Komplizenschaft der Herrschenden (deren V-Mann Paulus war, als er noch Saulus hieß) mit den Römern. In der Konsequenz dieser johanneischen Intention liegt die Apokalypse (kann es sein, daß das „Tier vom Lande“, das „zwei Hörner (hat) wie ein Lamm“, aber „spricht wie ein Drache“, vielleicht doch an Paulus erinnert?). Dieser Johannes schreibt immerhin unter dem Namen des „Donnersohns“, des gleichen Jüngers, den „der Herr liebhat“.
    Wenn man im Römerbrief die „Beschneidung“ als Bekenntnis liest, kommt man der Wahrheit näher.
    Der Antisemitismus und vor ihm der kirchliche „Antijudaismus“ gründen in Vorurteilsstrukturen, die durchsichtig werden, wenn man auf das projektive Element in ihnen aufmerksam wird, auf die Mechanismen der Selbstentlastung durch Schuldverschiebung. Beide, der Antisemitismus und der Antijudaismus, sagen nichts über die Juden, aber sehr viel über die Antisemiten und die antjüdischen Christen. Der „eliminatorische Antisemitismus“, auf den Daniel Goldhagen verweist, dessen Buch bereits soviel Hühnerhof-Aufregung verursacht hat, bevor es in Deutschland überhaupt erschienen ist, gründet in genau diesem Mechanismus. Und, bei allen Mängeln, die das Buch haben mag, beweist nicht diese Reaktion, daß es einen Nerv getroffen hat?
    Zu den großen Partien bei Paulus gehört der Satz, daß die ganze Schöpfung auf die Freiheit der Kinder Gottes wartet; dazu gehören die Elementarmächte; dazu gehört nicht zuletzt sein Begriff des Glaubens, wenn man ihn als Asyl des Messianismus begreift. Unerträglich hingegen ist der apologetische Grundton fast aller paulinischen Briefe (sein „Theologisieren“).
    Ist nicht der Hierarchie-Begriff eine zwangsläufige Folge der Subsumtionslogik (in der der Begriff, der die Dinge unter sich begreift, selber in einer Subsumtionsbeziehung zu „höheren“ Begriffen sich wiederfindet)? Läßt er nicht aus der neuplatonischen Emanationslehre sich herleiten, in der Elemente der Licht- und der Herrschaftsmetaphysik trübe sich mischen, und die selber zu den kosmologischen Konsequenzen der Rezeption der Sündenfall-Theologie zu gehören scheint? Hierarchische Strukturen sind Konstrukte der Selbstreproduktion der Subsumtionslogik des Begriffs, die in der Moderne in den subjektiven Formen der Anschauung auf ihren Grund in der Subjektivität zurückgeführt werden; aufzulösen sind sie allein durch die logische Kraft des Namens.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind das logische Äquivalent der Finsternis über dem Abgrund: Unter ihrem Zwang erkenne ich nur noch, was ich in die Dinge hineinlege, nicht mehr, was sie an sich selbst sein mögen. Es hilft nichts, den kantischen Agnostizismus zu kritisieren; hier wird sehr präzise und konkret die vorletzte der ägyptischen Plagen, die allgemeine Finsternis, aufgedeckt.
    Am ersten Schöpfungstag hat Gott nicht die Finsternis durch das Licht vertrieben, sondern eine Hilfe geschaffen, einen realsymbolischen Hinweis darauf, daß die Finsternis nicht alles ist.
    Quoad nos ist die Finsternis das Erste. Aber sind die Christen nicht „das Licht der Welt“ (und zwar nicht durch Restauration irgendwelcher Vergangenheiten, sondern durch Errettung der vergangenen Hoffnung)?
    Verwechseln wir nicht die Heiligen mit den Helden? (Auf diese Verwechslung bin ich bei meiner Erstkommunion gestoßen worden, durch ein Buch, das ich geschenkt erhielt, und das mir durch die Enttäuschung, die es mir beim Lesen bereitete, die Augen geöffnet hat: „Helden und Heilige“. Ich hatte vorher Märtyrer-Geschichten gelesen, aus denen ich gelernt hatte, daß Christsein nicht am Triumph und Sieg der Helden, an ihrem Nachruhm, sondern allein an der Bereitschaft der Heiligen, Leiden und Niederlagen auf sich zu nehmen, auch wenn außer Gott keiner es sieht und anerkennt, sich messen läßt. Das hat mich vorbereitet auf den Vers von Reinhold Schneider.)
    Wer die Gewissenserforschung nur tief genug treibt, wird an einen Punkt kommen, an dem er zum Propheten wird.
    Kann es sein, daß ich an den „Kern der Sache“ nicht herankomme, weil ich ihn nur vor Augen, nicht im Ohr habe?
    Vor dem Gesetz: Hat nicht Kafkas Erzählung einen Mangel; sind es anstatt des einen nicht mindestens sieben Tore, die uns den Weg zum Gesetz verstellen?
    Was heute zur Verzweiflung treibt, ist genau das, was die Verzweiflung vertreiben soll: daß das Leben vor der Glotze endet.
    Ist nicht die chronologische Verwirrung und die Verwirrung der Namen (von Personen und Völkern), die beide zusammenhängen, eine zwangsläufige Folge des Positivismus im neunzehnten Jahrhundert, nach dem Zerfall der idealistischen Systeme? Sie wurde vorbereitet im kopernikanischen System, das, nach seiner dynamischen Begründung durch Newton, durchs Gravitationsgesetz, den Zusammenhang von Sprache und Erinnerung durch Verdinglichung der Erinnerung zum astronomischen Gesetz zerrissen, den Sprachgrund in den Sachen neutralisiert, das Ungleichnamige gleichnamig gemacht hat.
    Trägt nicht die Formulierung (Ton Veerkamp): „Kommt der Messias nicht (bald), hat Paulus ein Problem, ein unlösbares Problem“ (TuK 70, S. 24), die Züge einer Projektion? Nicht Paulus, sondern die gesamte christliche Theologie hat in der Geschichte der Moderne „ein Problem, ein unlösbares Problem“ bekommen. Und heißt dieser Paulus nicht eigentlich Luther?
    War es nicht Paulus, der den Sündenfall zum Absoluten gemacht (und das Christentum zweitausend Jahre vor die Wand gejagt) hat (und hat das nicht die paulinische Tradition begründet)? Als Paulus die Erlösung zur reinen Gnade machte, hat der den Satz vom Binden und Lösen geleugnet, eine Tradition begründet, in der die Kirche als hierarchische Verwaltungsorganisation und die Theologie als Theologie hinter dem Rücken Gottes nur noch binden, nicht mehr lösen konnten.
    War nicht Bubers Übersetzung von Gnade mit „Huld“ eine sehr schlimme christliche Übersetzung, die endgültige Verdrängung dessen, woran die scholastische Lehre von der „heiligmachenden Gnade“ letztmals erinnerte, Ausdruck der Regression der Gnadenlehre durch Einbindung in einen autoritären Kontext? Eine Gnade, die bloß rechtfertigt, nicht gerecht („heilig“) macht, ist ein Palliativ.
    Kommt es nicht im Ernst darauf an, den Begriff der Heiligkeit aus der Tabuzone der Eigentums- und Herrschaftssicherung, aus den Verstrickungen seines nationalen Mißbrauchs, zu befreien?
    Die Idee der Auferstehung lebt von dem ungeheuerlichen Gedanken, daß es ein Leben gibt, das vom Tod (von den Strukturen und Institutionen, die ihn verkörpern) im Kern nicht berührt wird. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen, während der Tod sein gegenständliches Korrelat im Staat hat. Der Staat ist in der Tat der Statthalter des Gerichts in der Welt; aber „die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ (Jak 213). Ist das nicht der zentrale Einspruch des Jakobus gegen die paulinische Theologie (und gehört dieser Einspruch nicht auch zur Kontroverse um die Beschneidung)?
    Vielleicht hätte es, wenn es Paulus nicht gegeben hätte, das Christentum nicht gegeben. Und vielleicht war nur über diesen „Irrweg“ (Jak 520) eine Tradition zu retten, die anders untergegangen wäre?
    Der Glaube ist die Gestalt, in der die Wahrheit den Weltlauf überlebt. Dieser Glaube aber hat unter dem Bann der Rechtfertigungslogik sich als Keim einer Logik entwickelt, die zur Logik des Vorurteils geworden ist (bezieht sich hierauf das Symbol des Tieres vom Lande, das zwei Hörner hat wie ein Lamm, aber spricht wie ein Drache?).
    Bezeichnen nicht alle antisemitischen Stereotype, vom Hostienfrevel über die Brunnenvergiftung zum Ritualmord (der Wiederholung des Gottesmords) Tatbestände, die den Antisemiten kennzeichnen:
    – der Hostienfrevel die Verdinglichung, die Logik des Fundamentalismus,
    – die Brunnenvergiftung die Bekenntnislogik als Wurzel des Nationalismus und
    – der Ritualmord (der Gottesmord) die Instrumentalisierung des Kreuzestodes in der Opfertheologie?
    Rührt Auschwitz nicht an die Idee der Auferstehung, stellt Auschwitz nicht Ostern in Frage?
    Muß nicht, wer heute noch glaubt, Christ sein zu können, entweder sehr viel verdrängen, oder aber die Kirchengeschichte und die Theologie gegen den Strich bürsten, auf jeden Fall endgültig Verzicht leisten auf jede Form der Apologetik? War es nicht immer schon leichter, aber auch verhängnisvoller, Ereignisse wie Kreuz und Auferstehung auf die eigene Seele zu beziehen anstatt auf den Zustand der Welt?
    Ist nicht Helmut Gollwitzer, als er glaubte, gegen Gerschom Scholems Bemerkungen über den christlichen „Messianismus“ sich verteidigen zu müssen, in eine offene Falle hineingelaufen? Und sind nicht auch die Reflexionen von F.W. Marquardt, denen ich den Hinweis verdanke, daß es Helmut Gollwitzer war, an den der Brief Gerschom Scholems gerichtet war, noch sehr hilflos; können wir uns, kann irgend ein Christ sich freisprechen von dem, was Scholem zu Recht so scharf anspricht? – Müßten nicht in jede Reflexion über den Messianismus dieser Text von Scholem, aber auch seine übrigen Untersuchungen zum Thema (insbesondere über die Geschichte des Sabbatai Zwi, die auch eine Untersuchung über Paulus und das Christentum ist), mit einbezogen werden? Gehorcht nicht auch noch das Verschweigen dieser (im Kern mit Auschwitz zusammenhängenden) Untersuchungen den Rechtfertigungszwängen, die Auschwitz hinterlassen hat, und aus denen Gollwitzer wie auch Marquardt nicht herausgekommen sind (und hat nicht Auschwitz vom Grunde her das Problem der Rechtfertigung in dem Sinne selber neu gestellt, daß der Holocaust dieses Problem theologisch gegenstandslos gemacht hat)?
    Wie kommt es, daß bis heute kein Theologe das Blasphemische, das z.B. an den Kriegsgräberstätten (die die Toten nochmals schänden) sich wahrnehmen läßt, beim Namen genannt hat? Sind nicht diese „Gedenkstätten“, die die Toten instrumentalisieren und mißbrauchen, Gedenkstätten eines Nationalismus, den die Toten, die er produziert hat, überhaupt nicht interessieren, außer als Mittel zur Reproduktion der Logik, der der Nationalismus sich vedankt. Nur die Lüge, sie seien „für die Nation“ (für Führer, Volk und Vaterland, so hieß es damals) gestorben, während sie in Wahrheit für ihnen fremde Zwecke verheizt worden und elend verreckt sind, soll erhalten bleiben: fürs nächste Mal? Aber sind diese Gedenkstätten nicht eigentlich Gedenkstätten einer Opfertheologie, deren säkularisiertes Ritual sie zelebrieren? Die Symbolik, die diesem Ritual zugrundeliegt, ist eine Blutsymbolik: danach heiligt das Blut, das hier verströmt ist, den Zweck, für den es vergossen ist: die Nation, das „heilige Vaterland“, das zwar keiner mehr so zu nennen wagt, das aber der Sache nach weiter besteht.
    Vor diesem Hintergrund kann ich mit der anderen Blutsymbolik, daß wir durch das Blut des am Kreuz geopferten Gottessohns von Sünden rein gewaschen werden, nichts mehr anfangen. Ich meine, die Reflexion dieser Symbolik dürfe nicht länger mehr verdrängt werden. Ich weiß nicht, welche Folgen es haben wird, wenn wir das Paradigma einer Versöhnung durch Blut weiterhin akzeptieren. Vielleicht hilft der Hinweis auf den Satz Jesu, daß er von diesem Weinstock erst im Reiche Gottes wieder trinken wird. Hat nicht die Blutsymbolik etwas mit dem schrecklichen Verdrängungsakt, den das Kriegsende für die Deutschen bedeutete, die danach im Ernst überzeugt waren, nichts gewußt zu haben, zu tun? (Und was passiert, wenn an diese Verdrängung gerührt wird?)
    Schweigen die Götter wirklich in einer Welt, in der, soweit ich sehe, bis heute kein Theologe Anstoß daran genommen hat, daß die „Kriegsgräberfürsorge“ auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur nicht beendet wurde, sondern zu einer endlosen Geschichte zu werden droht? (Welche Rolle spielt eigentlich der Israel-Nationalismus einiger Theologen bei der Restauration des deutschen Nationalismus?)
    Ideologie ist Rechtfertigung: Beide stehen unter dem Bann der Schuld, den sie nicht zu sprengen vermögen. Die Rechtfertigung reagiert ex post, während die Gotteserkenntnis an das ante, an den Geist der Weissagung heranzukommen trachtet.
    Gehört nicht die Identifizierung des Fleisches mit der Beschneidung in den Scholem-/Gollwitzer-/Marquardt-Komplex?
    Vor einem Schaufenster, in dem u.a. Objekte archaischer „Kunst“ angeboten werden, überfällt mich der Gedanke: „Da halte ich mich lieber ans Original“, und denke an Klee. – Ist der Gedanke nicht ungeheuerlich, daß ein Bild von Klee das Orginal und die archaischen Objekte bloße Nachahmungen sind?

  • 25.7.96

    Eine Theologie der Schöpfung, die nicht auch Raum und Zeit als erschaffen begreift (die subjektiven Formen der Anschauung zum Gegenstand der Reflexion macht), gehorcht der Logik des Nationalismus, einer Logik, die den Staat zum Gott macht. Das ex nihilo, das auch auf den leeren Raum und die leere Zeit, auf das Nichtsein der Dinge in Raum und Zeit (auf ihre Vernichtung durch die von den subjektiven Formen der Anschauung beherrschte Einbildungskraft), sich beziehen läßt, ist ambivalent. Der Urknall ist keine Alternative zur Schöpfung, er setzt nur die atomare Katastrophe an den Anfang. Das Nichts, aus dem die Welt erschaffen wird, ist die zuvor zu vernichtende Welt.
    Ist nicht der katholische Mythos, die Lehre von Himmel, Hölle und Fegfeuer, eine logische Entfaltung der aristotelischen Theorie vom „natürlichen Ort“? Dem hat Newton, durch die Relativierung des Falls durchs Gravitationsgesetz, den Boden entzogen – allerdings um den Preis, daß das Ganze zur Hölle (die Welt zu allem, was der Fall ist) geworden ist, und die Erlösung zur Fähigkeit, das nicht wahrzunehmen, davor die Augen zu verschließen (das ist der Grund der Rechtfertigungslehre, die den Glauben zum Organ des Wegsehens, damit aber auch gleichgültig gegen seinen Inhalt, gemacht hat). Newton hat die Welt so verändert, daß seitdem überall unten ist; seitdem gibt es zur Niedertracht keine Alternative mehr. Heute ist aus dieser Niedertracht die ganz gewöhnliche Gemeinheit geworden, der Faschismus, der alles durchdringt.
    Für Aristoteles war das Feuer das absolut Leichte, sein natürlicher Ort war oben. Die christliche Kosmologie hat dann, um die obere Welt als reine Lichtwelt zu konstituieren, das Feuer nach unten verbannt und als Hölle unauslöschlich gemacht.
    In der Apokalypse gibt es nicht nur die sieben Siegel, die das Buch verschließen, sondern auch den Schlüssel zum Abgrund.
    Ist nicht das Chronologie-Problem, das Problem der „Tiefenzeit“, ein Abgrund-Problem (mit der subjektiven Form der inneren Anschauung als Finsternis über dem Abgrund)?
    Ton Veerkamp bemerkt in seinem letzten Beitrag in TuK, daß das am ersten Tag erschaffene Licht „die Finsternis vertrieben“ habe. Die Finsternis wurde jedoch nicht vertrieben, sondern sie besteht weiter, und damit die Aufgabe, Licht in die Finsternis zu bringen: „Ihr seid das Licht der Welt“ (nach Jes 457 ist die Finsternis erschaffen, das Licht gebildet).
    Sind die Planeten die „Enden der Welt“ (die Siegel auf den sechs Richtungen des Raumes und auf der Vergangenheit)?
    Beleidigung, Betrug, Vergewaltigung: Die bloße Verurteilung der Beleidigung, des Betrugs und der Vergewaltigung täuscht sich und andere darüber hinweg, daß der Zustand der Welt selber beleidigend, betrügend und vergewaltigend ist. Die Verurteilung folgt immer nur der Tat, während allein die Reflexion dieses Weltzustandes, das Licht, das sie in die Finsternis zu bringen vermag, vielleicht einmal vor der Tat stehen wird.
    Die Bibel unterscheidet die „Vögel des Himmels“, die „Fische des Meeres“ und die „Tiere des Feldes“.
    „Bevor ich es vergesse …“: Wäre das nicht ein schöner Titel? – Ist nicht das Schreiben insgesamt ein Kampf gegen das Vergessen, das die Welt erzwingt, und verweist darauf nicht Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“? Aber gibt es nicht auch Bücher – und spricht davon nicht Kohelet, wenn er schreibt: Des Büchermachens ist kein Ende -, die Instrumente des Vergessens sind?
    Wenn Physik und Ökonomie als Instrumente des Vergessens und der Verdrängung sich begreifen lassen, in der Physik gibt es einen Punkt, der vom Kampf gegen das Vergessen zeugt: Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit.
    Das Vergessen der Physik ist eine Potenzierung des Vergessens, das (über die Ökonomie und in ihrem Auftrag) schon in der Philosophie sich entfaltete. Hat nicht C.F.von Weizsäcker dieses potenzierte Vergessen in die Philosophie eingeführt, und ist nicht Habermas ein Beleg für das Gelingen dieses Versuchs?
    Reflektiert nicht Nietzsches Bemerkung über das Mitleiden (in Jenseits von Gut und Böse, Werke Bd. 2, S. 627) aufs genaueste die Logik, die Schopenhauer zum Menschenfeind hat werden lassen? Nietzsches Bemerkung ist wahr, aber verweist sie nicht auf das logische Problem, das in der Wahrnehmung steckt, daß auch die „Nachbarn“ noch Opfer sind?
    Verdrängung ist kein eindimensionaler Vorgang, es gibt eine dreifache Verdrängung (jede Verdrängung ist Produkt einer dreifachen Leugnung).
    Der Kampf der Kirche gegen die Aufklärung war begründet, aber er blieb abstrakt, weil die Kirche nicht in der Lage war, in der Aufklärung eine Folge ihres eigenen Prinzips wiederzuerkennen.
    Auch Theorien veralten durch den einfachen Zeitablauf (nur mathematische Erkenntnis enthalten in sich eine Automatik, die sie gegen dieses Veralten schützt, indem sie es instrumentalisiert). Eine Einsicht ist nur für den eine, der sie hat: Ex post, aufgrund der objektivierenden Gewalt, der sie durch den reinen Zeitablauf unterworfen ist, wird sie zur Meinung, die der Logik der Instrumentalisierung verfällt: sie verliert ihr Objekt und wird zum Ausdruck der Subjektivität: einer subjektiven Anschauung, eines subjektiven Interesses. Der Objektivationsprozeß (der Prozeß der fortschreitenden Naturerkenntnis und -beherrschung) ist nicht nur ein von der Menschheit angezettelter, gegen die Natur angestrengter Prozeß, sondern zugleich ein Prozeß der Natur gegen sich selber, in dem sie sich der Menschheit nur bedient.
    Hieß nicht das Tier mit den neun Köpfen, dem, wenn man einen abschlug, zwei zwei neue nachwuchsen, Hydra („Wasserschlange“), und hat dieses mythische Tier (das Herakles besiegte) etwas mit dem apokalyptischen Tier aus dem Meere zu tun?
    Das Rätsel der spätantiken, frühmittelalterlichen Theologie wäre gelöst, wenn begriffen wäre, wie die paulinischen Elementarmächte, die „Herrschaften und Gewalten“, zu Engelsmächten geworden und in die Präfation hineingeraten sind.
    Der faschistische Slogan „Blut und Boden“ zog seine symbolische Kraft aus der dunklen (durch keine Reflexion aufgehellten) Erinnerung an den durch das Blut der bei der Eroberung gefallenen Helden „geheiligten“ Boden, den Eigentumsgrund des Staates. Diese Blutsymbolik hat zugleich die Eigentumswirtschaft, der Staat und das Geld geheiligt. Hat sie nicht der Opfertheologie (der Vorstellung einer „Erlösung durch das Blut“ des am Kreuz geopferten Gottessohns) endgültig den Grund entzogen?
    Dieser Begriff der Heiligkeit, der die Herrschaftssymbolik begründet, ist dem, der der Gottesoffenbarung beim brennenden Dornbusch zugrundeliegt („Ziehe die Schuhe von den Füßen; denn die Stätte, darauf du stehst ist heiliges Land“, Ex 35) durch die gemeinsame Beziehung zum Eigentumsbegriff zwar verbunden, in der Sache aber aufs genaueste entgegengesetzt. Während der biblische Begriff der Heiligkeit das Heilige jedem staatlichen Zugriff entzieht, zielt der faschistische, der mit dem Eigentum den eigenen Staat und die Gewalt, die beide aneinander bindet, vergöttlicht, darauf ab, es dem Zugriff anderer zu entziehen.
    Hat der Satz des Täufers: „Nach mir kommt der, welcher stärker ist als ich, und ich bin nicht würdig, mich zu bücken und ihm den Riemen seiner Schuhe zu lösen“ (Mk 17) etwas mit Ex 35 zu tun?
    Die Theologie hat die Kraft der Selbstreinigung von der Logik des Fundamentalismus; sie gründet in der einfachen Überlegung, daß die Vergegenwärtigung des Vergangenen etwas anderes ist als die Subsumtion der Gegenwart unter die Vergangenheit. Ist nicht die Idee des Messianismus etwas anderes als die isrealische Siedlungspolitik?
    Hegels Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, wäre durch den anderen zu ergänzen: Die Geschichte und der Weltbegriff (die durch eine logische Symbiose verbunden sind) können das Objekt nicht halten. Die Trennung von Natur und Geschichte ist unvermeidbar, aber gleichwohl falsch; sie ist ein Teil der logischen Verblendung, die theologisch allein durch die Idee der Auferstehung der Toten sich auflösen läßt.
    Ist die Sintflut nicht das Symbol des Ursprungs des Weltbegriffs (vgl. hierzu die Reflexionen zur Sintflut im Sohar)? Dann wäre Hegels Logik die Beschreibung der Sintflut von innen.
    Gibt es eine Beziehung der Praxis des „Banns“ bei der Landnahme zu den Geschichten von Sodom, Jericho und Gibea?

  • 24.7.96

    Hängen die paulinischen Reflexionen über die Thora, das Gesetz, mit der Bräutigam-Braut-Symbolik zusammen, mit der Beziehung Jesu zum „himmlischen Jerusalem“ der Apokalypse (Jankowski, TuK 70, S. 8ff)?
    Erinnert nicht die Auslegung des paulinischen Fleischbegriffs, den Jankowski auf die Juden bezieht (ebd. S. 12ff, vgl. auch Ton Veerkamp im gleichen Heft), an den der „fleischlich gesinnten Juden“, den ich zuletzt bei Karl Thieme vorgefunden habe? Und zieht er nicht die ganze Vorstellungswelt des kirchlichen Antijudaismus nach sich, die über die Beziehung von Fleisch und concupiscencia, Sexualität, dann auch in die antisemitische Vorstellungswelt mit eingegangen ist? In der Sache, so scheint mir, scheitert diese Auslegung an der sachlich nicht begründbaren Gleichsetzung von Beschneidung und Fleisch: Die Beschneidung ist nicht Fleisch, sondern wird am Fleisch vollzogen. Hier wird das Objekt einer Handlung mit dieser Handlung verwechselt. Ist dieses „Fleisch“ – auch vor dem Hintergrund des Weltbegriffs, auf die ganze Ursprungsgeschichte des Christentums sich beziehen läßt – nicht eher das Fleisch der apokalyptischen Tiere, das am Ende die Vögel fressen? Hegel hat einmal seinen Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, mit dem Hinweis begründet, daß es dann keine unterschiedlichen Gattungen und Arten von Tieren, sondern nur eine Art bzw. Gattung geben dürfe; diese Begründung spiegelt den unbestreitbaren Sachverhalt wider, daß Tier und Welt in einer eindeutigen Wechselbeziehung stehen: Jedes Tier (jede Gattung) hat seine Welt, und zur Idee der „einen Welt“ (zum universalen Weltbegriff) gehört dann das eine Tier (als das dieser Welt eindeutig zuzuordnende Subjekt). In dieser Beziehung drückt sich übrigens ein logischer Sachverhalt aus: die Logik der Welt ist die Logik der Instrumentalisierung, und der Begriff des Tieres (des Organismus) drückt genau diese als Subjekt sich konstituierende Einheit der Instrumentalisierung aus, die über das Selbsterhaltungsprinzip, über ein System subjektiver Ziele, sich definiert. Deshalb unterliegen alle subjekthaften (dem Selbsterhaltungsprinzip unterworfenen) Systeme und Institutionen dem Gesetz der „organischen Entwicklung“. Und die kantischen „subjektiven Formen der Anschauung“ erfüllen genau diese Funktion: alle Erfahrung nach dem Prinzip der Selbsterhaltung zu organisieren, in deren Licht die Dinge nur noch als Mittel subjektiver, ihnen von außen auferlegter Ziele erscheinen. Dieses Prinzip liegt dem kantischen Begriff der Erscheinungen zugrunde, die die Erfahrung insgesamt nach Maßgabe der Totalitätsbegriffe Welt und Natur aufteilt und organisiert. Unter diesem Gesetz ist, was die Dinge an sich sind, in der Tat nicht mehr erkennbar.
    Macht nicht Jankowski, wenn er Fleisch als Synonym für Beschneidung setzt (S. 14), den Gegensatz Fleisch/Geist zu einem antijudaistischen Gegensatz?
    Daß die Natur den Begriff nicht halten kann, ist ein Grund der Hoffnung.
    Wenn Paulus ein Zelot war, dann war Hitler ein Sozialist.
    Barmherzigkeit, nicht Opfer: Wäre das nicht das Motto einer Theologie-Kritik, einer Kritik der Verdinglichung?
    Die einfachste Definition der Barmherzigkeit ist die, daß vor dem Urteil die Frage steht, ob du anders hättest handeln können, wenn du an der Stelle des Objekt gestanden hättest.
    Rosenzweigs Stern der Erlösung oder die Vergegenwärtigung der Tradition: Die Transformation der Schrift ins Wort setzt die Reflexion auf das fundamentalistische Schriftverständnis, auf die Bindung des Textes an die intentio recta, voraus. Lesen, wie es heute nötig wäre, ist interlineares Lesen, Lesen zwischen den Zeilen, bei genauester Wahrung des Worts.
    Ist nicht genau das der Unterschied zwischen Buber und der jüdischen Tradition, daß Buber die Bücher Josue bis Könige als historische und nicht als prophetische Bücher begreift (zum Buch der Richter vgl. Lillian Klein: Triumph Of Irony In The Book Of Judges)? Vergegenwärtigung ist heute nicht leichter mehr zu haben als über die Auflösung des Banns der subjektiven Formen der Anschauung, und d.h. über die Kritik der Naturwissenschaften.
    Wer die Prophetie historisiert, braucht sie nicht mehr auf die Gegenwart und auf sich zu beziehen: Als Heilsprophetie hat sie sich in Jesus erfüllt, als Unheilsprophetie gilt sie nur noch für die Juden (und dient so als Schriftbeweis des Antisemitismus: schon damals waren sie so).
    Jüngstes Gericht: Aufhebung der Trennung von Natur und Geschichte im Geiste der Utopie, oder die Idee der Auferstehung als erkenntnisleitendes Prinzip. Eine Distanz zu dem, was die Idee der Auferstehung von sich aus meint, bleibt; diese Distanz darf durch Symbolisierung der Idee (die die Toten instrumentalisiert und vergißt) nicht aufgehoben werden.
    Die Geschichte aus dem Gefängnis befreien, in das wir sie durch Subsumtion unter unsere subjektive Form der inneren Anschauung (durch Subsumtion unters Zeitkontinuum) eingesperrt haben.
    Die subjektiven Formen der Anschauung (Raum und Zeit) sind keine Naturprodukte, sondern in einem gesellschaftlichen Prozeß entsprungen; sie sind selbst Produkt einer Vergesellschaftung („das stumme Innere der Gattung“).
    Unterscheidet sich nicht die mittelalterliche von der antiken Kosmologie durch eine geringfügige, kaum wahrnehmbare, darum aber nicht weniger folgenreiche Veränderung: durch die Lehre vom Sündenfall, als deren instrumentalisierte Gestalt die Naturwissenschaften sich begreifen lassen? Wittgensteins Satz: Die Welt ist alles, was der Fall ist, wäre in antikem Kontext nicht denkbar.
    Läßt sich nicht der Haß auf die Zukunft als das Produkt eines logischen Zwangs begreifen, den die Beschaffenheit der Welt in Verbindung mit dem alles durchdringende Selbsterhaltungsprinzip auf unser Bewußtsein heute ausübt, ist er nicht schon überdeterminiert? (Ich habe Benjamins anderslautende Bemerkung schon beim ersten Lesen nicht begriffen, bis mir bewußt wurde, daß sie in der Tat aus Gründen, die es endlich zu begreifen gilt, heute nicht mehr gilt. Daß sie nicht mehr gilt, affiziert die Idee des Glücks, die damit ihre raison d’etre verloren hat. Dafür rächt sich der Faschismus und macht so den Verlust irreversibel.)
    Adornos Philosophie ist die Entfaltung des apokalyptischen Satzes: Das Erste ist vergangen.
    Klingt nicht in Rosenzweigs Kritik des Allbegriffs die Kritik der Universalität des Hegelschen Weltgerichts mit an, die eigentlich die Universalität des Opfers meint.
    Ist nicht das Opfer der Zukunft, auf das die Kirche heute bewußtlos und selbstzerstörerisch sich zubewegt, die Selbstverfluchung Petri in der dritten Leugnung?
    Nicht nur der römische Hauptmann unterm Kreuz sagt: Das war Gottes Sohn, auch die Dämonen sagen es („und zittern“, nach Jakobus), auch Petrus (nach Karl Thieme ein Typos der Kirche) sagt es, bevor er ihn dreimal verleugnet.
    Ton Veerkamps Satz „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (TuK 70, S. 23) erinnert an Hegels Bemerkung (in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte), daß das Wort Geschichte sowohl die historia rerum gestarum als auch die res gestas bezeichnet.
    Hat die Vorstellung des Zeitkontinuums (die subjektive Form der inneren Anschauung) sich in der Auseinandersetzung mit der Sternenwelt gebildet? Das würde die Beziehung begründen, in die Kant das moralische Gesetz in uns und den Sternenhimmel über uns rückt. Und der altorientalische Sternendienst war in der Tat ein Instrument der Legitimation der altorientalischen Reiche.
    Steckt nicht eine ungeheure Logik in den Problemen, die Goethe und Hegel mit Newton hatten? War es nicht bei beiden das griechische, das „heidnische“ Erbe, das sie aufs Anschauen verwies, auf eine Distanz zu den Dingen, deren Preis die Leugnung und Verdrängung eines Innen war, das bei Newton als das barbarische der allgemeinen Gravitation sich enthüllte (Christentum und Gravitation)? Ist nicht die Anthroposophie eine der letzten Manifestationen dieser Logik? Und gehört nicht die Marxsche Bindung seiner Kapitalismus-Kritik ans Tauschparadigma (und die Ausblendung des Schuldknechtschafts-Paradigma) in diesen Zusammenhang, mit der welthistorischen Folge, daß der Versuch der Realisierung im real existierenden Sozialismus direkt ins Sklavenhaus führte (deshalb gab es im gesamten Ostblock keine Banken)?
    Blüm wäre zu korrigieren: Nicht Jesus lebt, wohl aber die tief in der Geschichte des Christentums verwurzelten Banken, deren Zentralen in der Bankenstadt Frankfurt den Triumph über den Sozialismus und das Christentum zugleich ausdrücken.
    Ist nicht die Vertreibung der Geldwechsler und der Taubenhändler aus dem Tempel das zentrale Symbol der heute anstehenden Kirchenkritik? (Gibt es einen Zusammenhang dieser Vertreibung der Taubenhändler mit der Geschichte vom Scherflein, das die arme Witwe in den Opferstock gab; ist nicht die Taube das Opfer der Armen und das Symbol des Heiligen Geistes zugleich? Hat nicht die Kirche die Armen und den Heiligen Geist zugleich verraten, als sie sich selbst an die Stelle der Armen setzte und den Geist zum Instrument der Selbstlegitimation machte?)
    Wie unterscheidet sich die typologische und realsymbolische Schriftinterpretation von der historisch-kritischen (auf die sie gleichwohl sich beziehen muß)? Ist nicht vor allem der Versuch einer Vergegenwärtigung, die nicht dem Bann des Erbaulichen verfällt? Die typologische und realsymbolische Interpretation gewinnt ihr Leben aus dem des Namens, das in ihnen sich entfaltet.
    Sprachastrologie: Ist der Jupiter der Nominativ und der Mars der Akkusativ, und haben Venus und Merkur mit Genitiv und Dativ zu tun?
    Unschuldige Dingwelt, oder das Prinzip der Verdinglichung: Der Verurteilungsmechanismus ist ein Exkulpationsmechanismus. Es ist der Mechanismus der Verhärtung des Herzens.
    Wer durch die Blume spricht, greift den Adressaten auf eine Weise an, daß er sich nicht wehren kann; er nimmt ihm die Möglichkeit der Verteidigung.

  • 23.7.96

    Ist nicht das Gleichnis vom Unkraut im Weizen auch eine prophylaktische Warnung von der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung? Zwei biblische Themen sind z.Zt. zentral: – Das eine geht aus vom letzten Satz des Jakobus-Briefes; es bezieht mit ein das Wort von dem einen Sünder, dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel hervorruft als 99 Gerechte; und es bezieht mit ein Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde (sowie die andere Geschichte von den sieben unreinen Geistern). – Zum anderen gehören der Kelch-Begriff, der Schlaf der Apostel in Getsemane sowie das „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, als Grundlage aber die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos. Was den Stern der Erlösung von der gesamten christlichen Theologie damals (und heute noch) unterscheidet, ist die Vergegenwärtigung der Offenbarung, ihre Errettung vorm Vergangensein, die durchgeführte Kritik der ihr Objekt zum Objekt (oder Gott zum stummen und blinden Autisten) vergegenständlichenden Theologie, während Martin Buber dem eigenen dialogischen Prinzip zum Trotz hilflos am Prinzip der Vergegenständlichung festhält, deshalb nur eine angepaßtere Version des Erbaulichen liefert.
    Innen- und Außen-Kommunikation, oder Gericht und Barmherzigkeit: Jeder Autor hat seine Zensoren im Kopf, die seine ersten Adressaten sind, vor denen er bestehen möchte. Dazu mögen u.a. sein „Partner“, seine Eltern, seine Lehrer, seine Freunde, insbesondere auch seine Kinder gehören. Wenn er schreibt, sind sie anwesend, hören zu, machen Einwände; wenn etwas gelungen ist, scheinen sie sich sogar zu freuen. Aber sind nicht auch, und zwar auf eine sehr viel beunruhigendere Weise, die andern anwesend, die er nicht kennt, deren Einwände wie auch deren Zustimmung er nicht kennt, die er gleichwohl antizipieren muß: das namenlose Kollektiv seiner Leser, seine wirklichen Adressaten, für die er schreibt? Ist nicht der Abgrund, der ihn von diesem Adressaten trennt, und den er durch sein Schreiben überbrücken möchte, der Abgrund der Sprache, des Namens? Hat Levinas‘ Satz, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, den er mit dem Hinweis auf die Barmherzigkeit begründete, etwas mit diesem Abgrund zu tun? Gehört nicht Adornos Wort vom „Licht der Erlösung“ in den gleichen Zusammenhang? Hat nicht das real existierende Christentum mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele den Impuls der Gotteserkenntnis, der in allen steckt, durchs Selbsterhaltungsprinzip verwirrt und vergiftet? Hat es nicht zugleich den Blick auf die Welt versperrt und verdunkelt?
    Es gibt keine Kollektivschuld (so wie es kein kollektives Objekt des moralischen Urteils gibt), wohl aber eine kollektive Schuldverdrängung: die Verweigerung der Erinnerung durch das Instrument der Verurteilung. Die Schuldverdrängung führt in das, was Ralph Giordano die „zweite Schuld“ genannt hat, die dann allerdings in der Tat zur Kollektivschuld wird. Gleicht die Beziehung der zweiten zur ersten Schuld nicht der der zweiten zur ersten Natur? Wird nicht die erste Natur (als „Erscheinung“) erst im Lichte der zweiten sichtbar? Hat nicht das Christentum im dogmatischen Prozeß den Verurteilungsmechanismus ausgebildet und eingeübt (im „Kampf gegen die Häresien“), zusammen mit der Ausbildung und Einübung der Bekenntnislogik? Wer einen Schuldigen verurteilt, bekennt sich zu den „Werten“, die der Schuldige verletzt hat: Er entzieht sich damit dem Urteil, ändert aber nichts. War es nicht dieser Verurteilungsmechanismus, mit dem die Philosophie aus dem Bann des Mythos sich befreit hat, aber um den Preis der Logik des Begriffs? Die Erfindung der Philosophie war begleitet von der Erfindung der Barbaren. Das Christentum hat diese Erfindung differenziert, ebntfaltet und verfeinert, und zwar in dem Prozeß, auf den Geschichte der drei Leugnungen verweist: durch die weiteren Erfindungen der Juden, der Heiden und der Wilden. Schuldverdrängung und Schuldverschiebung funktionieren nur als kollektive Mechanismen; sind diese Mechanismen nicht der Kern der Bekenntnislogik und der Massenbildung zugleich? Autonome, spontane Solidarität wäre Solidarität ohne Komplizenschaft (ohne das Wechselspiel der kollektiven Absicherung). Bezeichnet nicht die Opfertheologie genau dieses Moment der Komplizenschaft in der Bekenntnislogik (die Bindung, den gesellschaftlichen Kitt der Religion)? Im Anfang wurden die Tiere in Horden, nicht durch Einzelne erlegt, die dann zur Versöhnung des Opfers bedurften. Der erste einzelne Jäger („Held der Jagd“, so Buber) war Nimrod? Gründet nicht der Totemismus im Raub der jungen Tiere, die – über die symbiotische Beziehung zu diesen Tieren – den Anfang der Domestikation bildete? War die christliche Opfertheologie das Instrument der Domestikation des Messianismus? Es war in Antiochien, wo die Christen erstmals sich Christen nannten. Die Sekten nutzen die Apokalypse als Angsterzeugungs-Instrument, um die Schafe in die eigenen Hürden zu treiben. Aber ist nicht umgekehrt die Apokalypse, als Mittel der Angstbearbeitung, auch eine Erkenntnishilfe? Es gibt drei subjektive Formen der Anschauung, den Raum, das Geld und die Bekenntnislogik, die sich durch wachsende Distanz von der Natur unterscheiden. Der Raum ist noch ein „Naturprodukt“, während das Geld auf den Selbsterhaltungs- und Eigentumstrieb der Menschen verweist, die Bekenntnislogik hingegen aufs Schuldverschubsystem und seine objektkonstituierende Kraft. „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“: Ist der Plural („ihnen“, „sie“) nicht wesentlich? Ist das Augen-Aufgehen und die Erkenntnis der Nacktheit nicht ein kollektiver Akt (und sind die „subjektiven Formen der Anschauung“ nicht das Produkt dieses kollektiven Akts)? Steckt nicht in jedem gegenständlichen Sehen das Bewußtsein und der Anspruch eines gemeinsamen Tuns (das dann im Fernsehen sich erfüllt)? Und bedarf es nicht einer zusätzlichen Reflexion, um zu bemerken, daß es keine Garantie gibt, daß das, was ich sehe, von den anderen genau so gesehen wird, wie ich es sehe?

  • 22.7.96

    Jak 520: Gerettet ist nicht, wer frei von Schuld ist, sondern wer einen Sünder von seinem Weg des Irrtums bekehrt. Mission, Propaganda, Reklame sind die Irrwege der Bekehrung. Bekehrung ist nicht Umkehr: Bekehren kann ich auch mit Gewalt, aber Umkehr kann ich nicht erzwingen.
    Ist nicht das Scheitern des real existierenden Sozialismus der Beweis dafür, daß die richtige Gesellschaft sich nicht über die Köpfe der Menschen hinweg (nicht durch „Bekehrung“) errichten läßt? Die wirkliche Umkehr korrespondiert mit der Auferstehung aller.
    „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (Ton Veerkamp in TuK Nr. 20, S. 23): Dieser Satz ist schrecklich. Der Kreuzestod Jesu oder Auschwitz wären demnach nicht „passiert“, wenn nicht davon erzählt worden wäre? Und das namenlose, nie erzählte Grauen in der Geschichte ist nicht gewesen, wenn niemand es erzählt? Ist es nicht vielmehr das Leiden, an dem, was Rosenzweig wie auch Adorno einmal den Vorrang des Objekts genannt haben, sich demonstrieren läßt? Ist es nicht der Sinn des Eingedenkens, des Erinnerns, auch das Nicht-Erzählte, das, was im Dunkeln liegt, noch ans Licht zu bringen? Und korrespondiert nicht das Dunkel der Vergangenheit mit den heutigen Objekten der Verdrängung (liegt hier nicht die geheime Korrespondenz der Gegenwart mit der Vergangenheit, an die Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen erinnert)?
    Was nicht erzählt wird, ist so, als wäre es nicht passiert; aber dieses „als“ ist ein Äquivalent der Verdrängung. Denn die Spuren auch des nicht erzählten Leidens sind unauslöschbar. Das Erzählen ist wichtig als eine Hilfe des Nicht-Vergessens; nur im Mythos hat es objektkonstituierende Macht. Martin Buber hat die Bücher Josua bis Könige zu den Geschichtsbüchern gezählt und für Mizrajim den Namen Ägypten gewählt. Hängt nicht beides zusammen, hat er hier nicht das hellenistische Erbe (das auch das Christentum verhext) übernommen? Ist nicht die Historisierung dieser Bücher ein Symptom der Historisierung der Prophetie, eigentlich ihrer Leugnung durch Remythisierung?
    Ist es nicht ein Unterschied, ob man die drei Geschichten von Sodom, Jericho und Gibea historisch, oder ob man sie prophetisch begreift (z.B. als Hilfe zum Verständnis von Rostock, Mölln, auch von Auschwitz)?
    Paulus war kein Zelot (gegen Jankowski), eher ein Skinhead.
    Ist nicht heute die Freudsche Psychosenlehre wichtiger geworden als seine Neurosenlehre (liegen nicht die Fortschritte der Psychoanalyse heute im Bereich der Erforschung der Schizophrenie und des Autismus, auch der Antipsychiatrie)? Und werden hier nicht biblische Motive wie das Gebot, die Eltern zu ehren, oder das der Bekehrung der Herzen der Väter zu ihren Kinder, auch das, daß nur der seine Seele rettet, der einen Sünder von seinem Irrweg bekehrt, auf ein ganz neue Weise aktuell? Rühren diese Motive nicht genau an diesen Punkt? Nur: das Problem der Psychose ist im Gegensatz zu dem der Neurose psychologisch (subjektintern) nicht mehr darstellbar, es rührt an den Grund des Zustands der Welt (wie in der Theologie der Name Israel oder der corpus Christi mysticum). Ist die Jesus-Geschichte nicht die Innenseite (die Feuerseite) der gleichen Geschichte, deren Außenseite (Wasserseite) im Römischen Imperium und im Caesarismus sich manifestiert? Gründet nicht Adornos Ästhetik (der Begriff wie auch das Werk, das diesen Titel trägt) in Hegels Logik des Scheins?
    Die Welt ist alles, was der Fall ist: Bezeichnet nicht dieser Begriff des Falls einen physikalischen, einen gesellschaftlichen und sprachlogischen Sachverhalt? Dieser eine Begriff bezieht sich nicht zufällig (nicht durch bloße Äquivokation) gleichzeitig auf – die Erscheinungen der Gravitation, – die Objekte der Verwaltung: die Fälle, die die Verwaltung bearbeitet, und nicht zuletzt – die casus der Grammatik. Gehören nicht zu dem sprachtheoretischen Konstrukt einer „indoeuropäischen Ursprache“ acht casus (neben den vier kanonischen: Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ, der Ablativ, der Lokativ, der Instrumentalis und der Vokativ)? Sind nicht die casus, die dann (in den modernen europäischen Sprachen, nach dem griechischen Vorbild, das zusätzlich allerdings noch den Vokativ enthielt) kanonisch geworden sind, die Reflexionsformen des Begriffs im Objekt? War nicht die Einführung des unbestimmten Artikels, die sprachlogisch mit dem Ursprung der Hilfsverben zusammenzuhängen scheint, der entscheidende Schritt zur Kanonbildung der casus? Ist es nicht eine gemeinsame (ihren empirischen Objektbezug begründende) Sprachlogik, die das englische to be mit der Tatsache verknüpft, daß gleichzeitig die Artikel im Englischen geschlechtsneutral sind und nicht dekliniert werden? Sprachlogisch lassen männlich und weiblich nicht mehr sich unterscheiden, Akkusativ und Nominativ nur noch durch ihre Stellung im Satz, während Dativ und Genitiv von außen, durch vorangestellte Präpositionen, bestimmt werden. Wann und in welchem herrschaftsgeschichtlichen (gesamtgesellschaftlichen) Kontext sind die Hilfsverben entstanden? Ist das englische to be ein sprachlogisches Denkmal des Übergangs von der Stammesgesellschaft zur Monarchie (und das deutsche Sein eines des Ursprungs der Reichsgeschichte und des Kaisertums)? Ist das to be (wie auf andere Weise auch das Sein) nicht ein Exorzismus (einer, der die Geister leben läßt, sich aber nicht mehr vor ihnen fürchtet)? Sind die Hilfsverben Beleg einer Entwicklung, die (wie das mittelalterliche Christentum insgesamt) den Mythos übersprungen hat, ihn aber eben deshalb (in Gestalt der Hilfsverben, mit Hilfe der Logik, die sie repräsentieren) in sich reproduziert?
    Die kantischen Prolegomena verhalten sich zur Kritik der reinen Vernunft wie Engels zu Marx. Der Nationalsozialismus, der seine „Weltanschauungs“-Kriege im Rußland-Feldzug wie in Auschwitz als Vernichtungs-Kriege geführt hat, hat damit den Begriff der Weltanschauung selber aufgedeckt und unbrauchbar gemacht.
    Der Begriff der Weltanschauung ist aus zwei Komponenten zusammengesetzt, die jede für sich auf die Ursprungsgeschichte der gleichen Zivilisation verweisen, die sie in dieser Komposition von innen sprengen. Der Begriff der Weltanschauung macht den apokalyptischen Vorgang unkenntlich, den er bezeichnet.
    Die Auseinandersetzung mit dem Staat ist die Auseinandersetzung mit der Quelle der Logik, die auch das eigene Bewußtsein beherrscht. Das Feindbild Staat gewinnt seine Verführungsgewalt aus der Vorstellung, dieser Auseinandersetzung (der Selbstreflexion des falschen Bewußtseins, dessen Quelle in der Tat der Staat ist) sich entziehen zu können. Zugrunde liegt das Versäumnis der Reflexion des Faschismus (der deshalb das „wahre Gesicht des Staates“ ist, weil der Staat keins hat).

  • 21.7.96

    Die Welt ist alles, was der Fall ist. Sind die Wege des Irrtums die Wege des Falls? Hat die Entdeckung der Gravitation (der Schwere) deshalb die christliche Theologie (die Kritik und Auflösung der Vorstellung vom „natürlichen Ort“, ihre Ersetzung durch die Vorstellung einer absoluten, Himmel und Hölle aufeinander beziehenden und zugleich sie trennenden Richtung) zur Voraussetzung?
    Wer sagt, daß das Foucaultsche Pendel ein Beweis für die Bewegungen der Erde ist, hat Einstein nicht begriffen und glaubt immer noch an ein absolutes, an den Fixsternen haftendes Inertialsystem.
    Es ist die selbstverschuldete Unfähigkeit, die politische Ökonomie zu reflektieren, die die Naturwissenschaften gegen Kritik immunisiert.
    Hat das Christentum nicht das mosaische Gesetz auf die Sexualmoral reduziert, und das verkürzte Gesetz (zu dem neben der Unzucht noch das Nahrungsgebot: die Enthaltung von Speisen, die aus Götzenopfern stammt, vom Blute und von Ersticktem gehörte), an dem Jakobus (für die „Heiden“, die Völker) noch festgehalten hat, mittlerweile vergessen? Bei Paulus (1 Kor 8ff) wird das Verbot, Götzenopferfleisch zu verzehren, schon reduziert auf die gleichsam private Empfehlung, kein Götzenopferfleisch zu essen, wenn man dadurch bei den Schwachen Anstoß erregt, während 2 Petr 215, Jud 111 und Off 214.20 unter Hinweis auf Verführung durch Bileam (und durch Isebel) das Verbot bekräftigen. Rücken Petrus, Judas und Johannes mit dem Hinweis auf Bileam und Isebel das Verbot nicht in einen politisch-messianischen (und apokalyptischen) Zusammenhang, der bei Paulus aus dem Blickfeld verschwindet? Drückt in dieser Differenz nicht die Differenz im Verhältnis zu Rom (zum Reich, zu „Babylon“, zur Welt) sich aus (oder auch die Differenz zwischen der messianischen Bewegung und einem Mysterienkult, der mit Rom seinen Frieden geschlossen hat)?
    Zwischen Grundbesitz, Handel und kapitalistischer Produktion stehen die Banken.
    Es gibt zwei Begründungen des Gewaltmonopols des Staates:
    – es nimmt den Bürgern das Recht auf Selbstjustiz, es ist ein Instrument der Zivilisierung: der Hemmung des Rachetriebs;
    – zugleich dient es der Absicherung der „sozialen“ Aufgaben des Staates: es ist ein Instrument zur Verteidigung der Rechte der Armen und Schwachen gegen die ökonomisch Mächtigen. (Wenn der Staat aufhört, seine soziale Aufgaben wahrzunehmen, verliert das Gewaltmonopol seine Legitimation. In diesem Kontext wäre Benjamins Begriff der „göttlichen Gewalt“ und Derridas Kritik dieses Begriff neu zu prüfen: Er läßt sich sehr wohl von der faschistischen Gewalt unterscheiden.)
    Drückt sich das nicht u.a. darin aus, daß im Strafrecht der zivilisierten Staaten der Mord kein Tat-, sondern ein Täterdelikt ist: Bestraft wird der Mörder, nicht der Mord? Zum Mord gehört die „niedrige Gesinnung“, ein strafrechtlich schwer zu fassender Tatbestand, der nicht zufällig immer wieder als Einfallstor subjektiver Vorurteile in das Verfahren der Urteilsfindung sich erweist. Zu den Indikatoren „niedriger Gesinnung“ gehören insbesondere
    – der „Bereicherungstrieb“, der zwar die Grundlage und der Motor des kapitalistischen Wirtschaftens ist, in strafrechtlich relevanten Bereichen aber vorwiegend Arme zu befallen scheint (der Arme, der einen Reichen erschlägt, ist ein Mörder; die Bank, die einen Schuldner in den Selbstmord treibt, handelt in Wahrnehmung legitimer Interessen); oder auch
    – der „Geschlechtstrieb“, der vor allem bei Frauen zu finden ist, die es in ihrer Beziehung zu einem Mann, auch in ihrer Ehe, nachdem sie zu einem Gewaltverhältnis geworden war, nicht mehr aushielten.
    Niedrige Gesinnung war hingegen nicht feststellbar bei Richtern, die durch Terror-Urteile im letzten Krieg dazu beigetragen haben, den mörderischen Krieg zu verlängern und den Betrieb der industriellen Massenmord-Maschine der Nazis abzusichern, oder auch bei Polizeibeamten, bei denen in Ausübung ihres Dienstes aus der Dienstwaffe „ein Schuß sich löste“.
    Gibt es nicht dazu noch weitere Hinweise, daß der Mord nicht zuletzt auch deshalb kein Tatdelikt ist, weil es im Ernst um die Tat nicht geht, sondern darum, daß hier eine(r) ein Recht sich herausnimmt und anmaßt, das eigentlich nur dem Staat zusteht? Der Eingriff in die Rechte des Staates, der die Regeln festlegt, wann und unter welchen Bedingungen die Tötung eines Menschen, die individuelle Bereicherung oder auch die Ausübung des Geschlechtstriebs erlaubt sind, dieser Eingriff und nicht die Schädigung oder der Tod des Opfers ist es, der den Täter zum Verbrecher macht.
    – So fand der damalige Innenminister, daß an den Ausschreitungen gegen Ausländer und Asylanten in Rostock nicht die Tat, sondern der Eindruck, den sie im Ausland machte, verurteilenswert war.
    – Oder als der Regierungssprecher nach den Morden in Mölln gefragt wurde, ob nicht der Bundeskanzler an den Trauerfeierlichkeiten hätte teilnehmen sollen, konnte er es, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, sich erlauben, eine solche Teilnahme als „Beileids-Tourismus“ abzuqualifizieren.
    – Weisen nicht die Reaktionen auf den Brief der Brüder von Braunmühl an die raf, in dem sie ihr Erschrecken über die Tat zum Ausdruck brachten, auf den gleichen Sachverhalt?
    Hat nicht die deutsche Justiz, als sie ihre am Volksgerichtshof und an den Nazi-Sondergerichten tätig gewesenen Kollegen freisprach, dem raf-Terrorismus den Weg freigemacht und die Zweifel mit begründet, die nach Stammheim und Bad Kleinen bis heute nicht ausgeräumt worden sind?
    Immer noch wird bei Anschlägen auf Ausländer-Wohnungen betont, daß „ausländerfeindliche Motive nicht erkennbar“ seien, wird bei Flugzeugunglücken mitgeteilt, ob (und wieviel) Deutsche betroffen sind. Im Golfkrieg war die Hauptsache, daß „unsere Jungs“ heil herausgekommen sind, wieviel Tote (auch unter der Zivilbevölkerung) es auf der anderen Seite gegeben hat, hat niemand ernsthaft interessiert. In der „UNO-Schutzzone“ Srebrenica haben die UNO-Truppen nur sich selbst geschützt, die Massaker an der bosnischen Bevölkerung haben sie nicht interessiert. Aber Soldaten genießen Ehrenschutz: Sie dürfen nicht Mörder genannt werden.
    Gibt es nicht heute Siege in Kriegen, die eigentlich Niederlagen sind (Vietnam)?
    Ist nicht der Nationalismus das Grundmodell der symbiotischen Beziehung?

  • 20.7.96

    Ist der biblische Schöpfungsbericht eine Kampfschrift gegen die Herrschaft Babylons? Der Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, ist ein Bollwerk gegen den Weltbegriff, gegen den universalen Eigentumsbegriff, der mit dem Ursprung des Staates, mit der Begründung einer Gesellschaft von Privateigentümern, mit gesetzt ist. „Der Himmel ist sein Thron, die Erde der Schemel seiner Füße“: Dieser Satz begründet die andere Eigentumsordnung, die die Thora entfaltet, insbesondere den Einspruch gegen ein unbeschränktes Eigentumsrecht an Grund und Boden und an einem Glied des Volkes Israel. Der biblische Begriff der Heiligkeit drückt genau diese Einschränkung des Eigentumsbegriffs aus (am Dornbusch: „ziehe die Schuhe von deinen Füßen; denn die Stätte, worauf du stehst, ist heiliges Land“ <Ex 35>, dagegen bei der Landnahme: „jeden Ort, darauf eure Fußsohle treten wird, gebe ich euch“ <Jos 13>).
    Wer die Schöpfung (die auch auf Raum und Zeit sich erstreckt) als einen Vorgang in Raum und Zeit sich vorstellt, schließt die Möglichkeit der Herrschaftskritik vom Grunde her aus.
    Hegel begreift nur, wer begreift, daß der Weltbegriff vom Grunde her mit dem des Staates verbunden ist und den Staat nicht überlebt. Hegels Weltgericht beschreibt präzise das Lebensprinzip des Staates, nicht aber das, was die Theologie das Jüngste Gericht nennt. Das Weltgericht ist das Gericht der Sieger über die Besiegten. Dagegen steht der Satz im Jakobusbrief: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Das rührt an den zentralen Einwand gegen Hegel: Das Jüngste Gericht ist das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht.
    Hegels Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, ist ein analytisches Urteil: Wenn die Natur der Inbegriff aller Objekte ist, so ist sie das Substrat des Begriffs, vermag ihn aber nicht zu halten, da sie ihn außer sich hat.
    Wer den Messianismus leugnet, leugnet auch noch die Hoffnung, die uns nur um der Hoffnungslosen willen gegeben ist. Ist der Benjaminsche Satz, der hier zitiert wird, nicht eine Erläuterung (oder eine Verschärfung) des letzten Satzes des Jakobusbriefs?
    Wenn das Bestehende die Kraft der Selbstlegitimation hat, so gründet das in der Logik des Weltbegriffs.
    Beginnt nicht der nationalistische Grund der Logik des Bestehenden heute zu einer Logik der Selbstzerstörung zu werden (Jugoslawien, Nordirland)? Verweist dieser nationalistische Grund der Logik des Bestehenden nicht auf die Bekenntnislogik, aus der sie hervorgegangen ist? Deshalb ist die Entkonfessionalisierung der Kirchen wichtiger als die Ökumene, die vergeblich versucht, die ungleichnamigen Hierarchiebegriffe der christlichen Kirchen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
    Zur Herrschaftslogik gehört das Prinzip der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit. Dieses Prinzip droht heute aus einem theoretischen (wissensbegründenden) zu einem praktischen Prinzip zu werden: Als theoretische hat sie die Kraft der Erinnerung zerstört, als praktische zerstört sie die Vorstellungskraft für das, was wir anrichten.
    Ist nicht der aktuellste Satz in den Evangelien der aus Matthäus: Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein?
    Fällt nicht das Konstrukt der „Entsühnung der Welt“ unter das Marxsche Verdikt: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern. Das Fatale dieses Konstrukts liegt darin, daß es die „andere Interpretation“ der Welt schon für eine Änderung der Welt hält, während die „Änderung“ nur im Subjekt stattfindet, in einer Exkulpation, die es vom Bewußtsein der Schuld (nicht von der Schuld, die es nur aus dem Blickfeld verbannt) „befreit“: Hegels „Bewußtsein der Freiheit“ verweist auf diesen Zusammenhang. Der Weltbegriff selber birgt in sich eine Exkulpationsautomatik, die darin gründet, daß sie von der Last der Reflexion befreit. Exkulpiert wird der „Urheber“ der Welt, der Staat, der von der Kraft der Selbstlegitimation des Bestehenden in erster Linie profitiert.
    Die Bekenntnislogik macht das Subjekt zum Objekt von Herrschaft, indem sie Herrschaft ins Innere des Subjekts mit hereinnimmt, sie so aus dem Blickfeld rückt.
    Die Bekenntnislogik ist postdogmatisch, ihre Sprachlogik ist die der lateinischen Sprache und Grammatik.
    Läßt die Geschichte der drei Leugnungen an den geschichtlichen Brechungen der kirchlichen Theologie sich demonstrieren: an den theologischen Revolutionen, für die die geographischen Namen der jeweiligen „Grenzen der Welt“: Nordafrika, Irland und Südamerika stehen (Tertullian und Augustinus, die irischen Mönche und Johannes Scottus Eriugena, die Befreiungstheologie)?

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