August 1996

  • 31.08.1996

    Sprachlogik: Die griechische Sprache hat links und rechts vertauscht (und die Barmherzigkeit verdrängt), die lateinische oben und unten (den Namen gegenstanslos gemacht), die deutsche vorn und hinten (das Angesicht durchs Inertialsystem ersetzt). Die griechische Sprache begründet den Dogmatisierungsprozeß (die Politisierung der Religion), die lateinische die Instrumentalisierung des Dogmas (die Privatisierung der Religion), die deutsche die Bekenntnislogik als Rechtfertigungslogik (der verdorrte Feigenbaum).
    Die Orthogonalität (das Korrelat der Projektion in der Mathematik, das im Inertialsystem als Schuldverschubsystem sich konstituiert) neutralisiert die Qualitäten der Richtungen im Raum; sie begründet eine Logik, die die Zivilisation mit der gleichen Barbarei (und ihren modernen Ableitungen und Denominationen) verbindet, die sie mit dem Instrumentarium des Schuldverschubsystems (der Verurteilung, der Verdinglichung, der Feindbildlogik und des Rassismus) zugleich nach draußen projiziert.
    Die Orthogonalität (die Norm) begründet das Maß als Maß für andere: sie macht die Last zum Joch.
    Die griechische Sprache ist die Sprache des Nomens und der (Winkel-)Geometrie (wobei die orthos-begründende, den Namen in den Begriff transformierende Abstraktion projektiv abgeleitet wurde im Namen der Barbaren); die lateinische Sprache ist die des Rechts (und der Kreuzigung Jesu); die deutsche Sprache (die durchs Christentum nur „bekehrt“ wurde und auf ihre Umkehr noch wartet) ist die Substantivs: des Rechtfertigungszwangs, der Bekenntnislogik und des Inertialsystems (mit der dreifachen Abfuhr in den Namen der Fremden, der Wilden und der Juden). Die christliche Unterscheidung der Heiden von den Völkern ist biblisch nicht zu begründen.
    Der eliminatorische Antisemitismus ist ein Produkt der Bekenntnislogik.
    Wenn Buber die Namen der Armen, der Fremden und der Barmherzigkeit beschweigt und zugleich Mizrajim mit Ägypten übersetzt, waren das nicht Kompromißbildungen, die an eine herrschaftstheologische Tradition im Christentum erinnern, die die Theologie von ihrer prophetischen Wurzeln getrennt hat? In den gleichen Zusammenhang gehört die Bubersche Zuordnung der Bücher Josue und Richter, sowie Samuel und Könige zu den historischen anstatt zu den prophetischen Büchern.
    Ein beschnittenes Christentum (das sich dann gern auf Buber beruft) ist noch nicht jüdisch (allerdings auch nicht mehr christlich).
    Es geht nicht um die „Konservierung des Entsetzens“, sondern darum, den Schrecken an sich heranzulassen, es geht um die Fähigkeit, den Schrecken zu reflektieren anstatt sich dem Kollektiv derer anzuschließen, die, indem sie das Entsetzliche bloß verurteilen, den Schrecken verdrängen und damit den Boden für seine Wiederkehr bereiten.
    Ist das nicht auch ein Teil der Eucharistie-Tradition, daß in dem Brot sein Schmerz und in dem Wein sein Tod erinnert werden?
    Joseph und Moses (und vor ihnen auch Sara) waren am Hofe (im Hause) Pharaos, Daniel und seine Genossen am Hofe des babylonischen Herrschers, Esther am Hofe des Ahaschweros. Der Pharao bedrohte das Volk Israel, der Herrscher Babylons Daniel und seine Genossen, und Haman (am Hofe des Ahaschweros) das jüdische Volk.
    Ist nicht Hegels Weltgeist der ins Fleisch übersetzte Geist?
    Die RAF war ein schrecklicher Irrtum; aber war dieser Irrtum in einem Land, das seine eigene schreckliche Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet hat, nicht hoch determiniert?
    Hätte ein „Heide“ den Stern der Erlösung geschrieben, er wäre, weil er die Umkehr nicht kennt, in der Vorwelt stecken geblieben. Und hätte er nicht Heidegger geheißen? Wenn ein Christ den Stern der Erlösung schreiben würde, so würde es ein apokalyptisches Buch. Den Stern ins Christliche übersetzen: Das wäre der Hahnenschrei.
    Levinas‘ Satz, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, trennt die Theologie vom Fundamentalismus, ohne sie zu verraten.
    Vor der ersten Brotvermehrung hatte Jesus Mitleid mit dem Volk, bei der zweiten erbarmte er sich des Volkes (Mt 1414 und 1532). Beim Tod des Lazarus war er erschüttert (Joh 133ff).
    Im Körper der Sprache ist die Barmherzigkeit die Gebärmutter, sind die Juden der Augapfel.
    Das Lamm löst die Erstgeburt des Esels aus, die Taube die der Armen. Das Lamm ist das Symbol des Gottesknechts, die Taube das des Heiligen Geistes.
    Die Betriebswirtschaftslehre frißt die Nationalökonomie (und den Staat, ohne dessen Ordnung es keine rentabilitätsorientierte Ökonomie gäbe). Das hat die Bahn freigemacht für den Globalisierungsprozeß, der eigentlich ein Prozeß der Verwüstung ist. Ist der real existierende Sozialismus nicht an der Übermacht der betriebswirtschaftlichen Gesetze (der Rentabilitätsgesetze) gescheitert? Der Neoliberalismus ist der genaueste Ausdruck für die wachsende Ohnmacht der Nationalökonomie und für die fortschreitende Verrottung des Staates.

  • 24.08.1996

    Der postdogmatische Charakter der lateinischen Sprache gründet in ihrer instrumentalisierenden Sprachlogik. Die lateinische Sprache ist die Sprache des Römischen Imperiums, dessen Herrschaftslogik sie widerspiegelt. Hegel hat schon die römische Religion als Religion der Zweckmäßigkeit bezeichnet (vgl. Philosophie der Weltgeschichte, Dritter Band: Die griechische und die römische Welt, Meiner 1944, S. 677); dieser Charakter hat sich im lateinischen Christentum erhalten. Ist das Futur II eine lateinische Erfindung, oder findet es sich schon im Griechischen (mit Hilfsverb-Konstruktion, in Anlehnung an den Perfekt Konjunktiv/Optativ)? Perpetuum mobile: Der eliminatorische Charakter des deutschen Antisemitismus gründet in einem Mechanismus, der darauf hinausläuft, daß man die Opfer für das bestraft, was sie den Tätern antun, wenn sie sie zwingen, sie zu verfolgen und zu töten. Und strafen kann sie man nur, wenn man sie, bevor man sie tötet, quält und demütigt. Dieser Mechanismus, dessen naturwüchsige Form der Antisemitismus ist, wurde in der Folter zu einem technischen Verfahren, zu dem eine spezielle Ausbildung und Konditionierung der Folterer gehört, instrumentalisiert. Steht nicht die Frage Heideggers: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts, unter dem Bann des theologischen Konstrukts der creatio mundi ex nihilo? Hat Heidegger damit nicht den Abgrund eröffnet, der hinter diesem Konstrukt sich auftut, den Abgrund nicht zuletzt einer Politik, die den Problemen, die sich ihr stellen, nicht mehr gewachsen ist, und deshalb den Verdrängungsraum des nihil eröffnet? Einer Wirtschaftspolitik, für die Arbeit nur ein Kostenfaktor ist, werden die Arbeitenden zum nihil. Steckt nicht in der Diskriminierung der Slawen, die Erinnerung an die Sklaven, die in ihrem Namen mit enthalten ist? Und sind die Sklaven nicht das logische Verbindungsstück zwischen Arbeitern und den unterworfenen, zur Sklaverei gezwungenen Fremden? Für die (antisemitische) Logik des Es waren die Slawen, der Bolschewismus und das Judentum eine einzige graue Masse, in der sich nichts mehr unterscheiden ließ. Ist es wirklich reiner Zufall, daß gleichzeitig im naturwissenschaftlichen Begriff der Masse die Akzente sich verschoben haben, in Richtung der Zerstörungskräfte, die der Masse innewohnen (und deren Beherrschung zum Testfall der gesellschaftlichen Naturbeherrschung geworden ist)? Sklaven und Arbeiter: Fremdarbeiter und Gastarbeiter erinnern an den Ursprung der Arbeit in der Sklaverei; Kriegsgefangene und Angehörige unterworfener Völker waren (als Sklaven) die ersten Arbeiter, die durch ihre Tätigkeit im Dienst fremder Herren sich definierten. Nur die Herren verstanden sich als Menschen, während die Sklaven, die nicht über sich selbst verfügen konnten, der Natur zugerechnet wurden, die sie bearbeiteten; Menschsein war (ebenso wie eine ökonomische) auch eine nationale Kategorie. Die wirre Ausländer-Diskussion (das „Das kann doch nicht wahr sein“, mit dem einer seine Wahrnehmung kommentierte, daß man „fast keine Deutschen mehr“ sieht) gründet in dieser Unterscheidung von Mensch und Sklave, die der Unterscheidung von Deutschen und Ausländern zugrunde liegt. Der Wahrheitsbegriff, der in dem „Das kann doch nicht wahr sein“ zitiert wird, ist der der „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“; in seinen identitätstiftenden logischen Grundlagen steckt real ein nationalistisches Element (deshalb war die Logik so wirksam, wonach nur Deutsche Menschen und zur Weltherrschaft berufen waren; Juden waren keine Menschen). Der Satz aus der Dialektik der Aufklärung, daß die Distanz zum Objekt vermittelt sei durch die Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt, entfaltet heute seine unheilvolle Logik: In der positivistischen Beharrung auf der intentio recta steckt die ganze Herrschaftsmaschinerie, die Ausblendung der Arbeiter, der Haß auf die Fremden und die Verachtung der Ausländer. Im Kern dieser Logik, sie gleichsam stabilisierend, steckt ihr ästhetischer Grund, stecken die subjektiven Formen der Anschauung, insbesondere die Raumvorstellung. Ist nicht der Name des Gottesknechts der Kern der Nachfolgelogik? Und müßte die Xenophobie nicht eigentlich Gastfeindschaft heißen (die Bekenntnislogik hat der Gastfreundschaft den Boden entzogen)? Habermas braucht die Theologie nicht mehr: die Naturwissenschaften liefern ihm einen entsühnten Weltbegriff ohne den Umweg der Opfertheologie. Gehört nicht zur Kritik der Moderne die Reflexion der Geschichte ihres Begriffs? Ist er nicht zuerst im Namen der devotio moderna aufgetreten, und gehort zur devotio moderna nicht die Ersetzung der Nachfolge durch die imitatio (Thomas a Kempis)? Die Vernichtungsphantasien, die die Bilder der Masse auslösen, sind das Produkt einer projektiven Verschiebung des Bewußtseins der Ich-Vernichtung, der Selbst-Aufgabe, die das „Aufgehen in der Masse“ impliziert. Darin gründet die Brisanz, das – weiß Gott – nicht Ungefährliche des Slogans „Wir sind das Volk“. Wer sich selbst als Volk, und d.h. als Teil einer Schicksalsgemeinschaft begreift, ist auf dem Sprunge, zum Schicksal für andere zu werden. Die Nazis haben den Judenmord als präventive Notwehr verstanden. Die Katstrophe wird absehbar, wenn es zu der Logik, die den Faschismus beherrschte, keine Alternative mehr geben wird: wenn die Theologie aufgibt. Wenn der Atheismus siegt, und es gibt auch einen Atheismus in der Theologie, hat Hitler gesiegt. Es gibt eine Situation, in der die Theologie auf den einfachen Satz sich reduziert, daß nur Gott ins Herz der Menschen sieht. Dem selbstreferentiellen, projektiven und paranoiden Blick der Welt ist dieses Herz verschlossen. In den gleichen Zusammenhang gehört der Satz, daß das Jüngste Gericht nicht das Hegelsche Weltgericht ist, sondern das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht. Hegels Satz: „Das Eine ist das Andere des Anderen“, ist der Schlüssel für diesen ganzen Bereich. Das Andere ist das Andere für mich (und für alle Anderen); die Logik des Andersseins ist die Logik des Reichs der Erscheinungen, das beherrscht wird von den Totalitätsbegriffen Natur und Welt. Die Differenz zwischen den Kosmogonien und den Kosmologien, die die Grenzscheide markiert zwischen Mythos und Philosophie, kehrt in den Kosmologien, im Bereich der Philosophie, wieder als Differenz von Natur und Welt. Alle Naturbegriffe sind durch den Weltbegriff domestizierte kosmogonische Begriffe, während alle Weltbegriffe im Naturbegriff reflektierte kosmologische Begriffe sind. Alle Weltentstehungslehren sind Mythologien, nicht zuletzt auch die Theorie vom Urknall, die die aus dem Entropiebegriff entwickelten Endtheorien in eine Anfangstheorie umgekehrt hat.

  • 23.08.1996

    Das Urteil, indem es „über“ das Objekt ergeht, konstituiert das Objekt (so wie das Urteil des Gerichts durch die Macht zu strafen Realität gewinnt).
    Der Wunsch, es möge mit dem Schicksal ein Ende haben, schließt das Ende der Schicksalsgemeinschaft mit ein: der Name des Volks verliert seine raison d’etre.
    Die ägyptischen Plagen treffen auch Tiere; gilt das auch für die Plagen der Apokalypse?
    Sind nicht die Evangelien der strikte Gegensatz der als „Rede von Gott“ sich verstehenden Theologie (der monologischen Verkündigung)? Schließt das Evangelium nicht in allen seinen Teilen ein dialogisches Element mit ein?
    Unser Lehrer in der Grundschule hat uns – nach einem Besuch Hitlers und seiner Teilnahme an einem Vorbeimarsch vor Hitler -am folgenden Morgen erzählt, jeder, der an diesem Vorbeimarsch teilgenommen hat, habe das Gefühl gehabt, daß Hitler ihn persönlich angeschaut habe. Als Kind habe ich diese Geschichte nicht begriffen, sie ist mir als Rätsel in Erinnerung geblieben. Ist diese merkwürdige Erfahrung nicht in der transzendentallogischen Struktur des Vorgangs vorgebildet, durch diese Struktur determiniert? Jeder fühlte sich als Objekt der Anschauung; und Hitler war das Subjekt dieser Anschauung.
    Ließe sich der Faschismus nicht insgesamt so definieren, nämlich als Versuch, die subjektive Form der Anschauung, die Abstraktion, die darin sich verkörpert, zur Norm der Politik zu machen? Dieser Versuch war apriori antisemitisch; die „Endlösung“ sollte die Abstraktion, die in den Formen der Anschauung sich verkörpert, in die Realität überführen. Die Juden waren das stellvertretende Opfer für das, was die Nazis sich selbst antun mußten.
    Hat nicht dieses Novum, daß Politik die subjektiven Formen der Anschauung zur Norm macht, den Faschismus überlebt, nur daß es zu dieser subjektiven Form der Anschauung kein Subjekt mehr gibt, die Welt zum Objekt der Sachzwänge geworden ist, die sie beherrschen? Erfüllt dieser Zustand nicht präzise die Definition der Finsternis?
    Dieser Vorgang wäre anhand der Geschichte der Rezeption Einsteins, der Rezeption der speziellen Relativitätstheorie, an der er sich demonstrieren läßt, zu begreifen.
    Zu den inneren Folgen der speziellen Relativitätstheorie gehört es, daß sie – ähnlich wie zuvor die kantische Antinomienlehre -die Vorstellung des Raumes in einer Weise verrätselt hat, die das Problem einer Lösung näher bringt.
    Unterscheidet sich nicht Sabbatai Zwi von Jesus durch die unterschiedliche Gestalt, in der sie den Tikkun vollzogen haben: Sabbatai Zwi ist zum Islam übergetreten, Jesus hat den Tod am Kreuz erlitten (und ist „zur Hölle abgestiegen“)?
    Hat der „Abstieg zur Hölle“ etwas mit der Einsicht zu tun, daß die Verurteilung den Schrecken nicht löst? In den Schrecken hinabsteigen, heißt das nicht auch, den Bann des Inertialsystems lösen, das ein Reich der Erscheinungen begründet, zu dessen Konstituentien die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, der Gebrauch der Todesgewalt als Erkenntnismittel, gehört?
    Habermas‘ Kapitulation vor dem für ihn nicht mehr reflexionsfähigen Naturbegriff war der Anfang einer Kommunikationstheorie, die die Herrschaftskritik durch das Konstrukt des „herrschaftsfreien Dialogs“, den es nicht gibt, ersetzte.
    Rechtfertigt nicht der „herrschaftsfreie Diskurs“ auch die RAF-Prozesse, die nur noch auf Herrschaftssicherung abzielen und alles, was zur Erkenntnis der Ursprünge der RAF beitragen könnte, jeden Versuch, auch im Falle der RAF in die Angeklagten sich hineinzuversetzen, apriori abblocken? Gibt es einen „herrschaftsfreien Diskurs“ ohne den Zwang, ihn zugleich durch Feindbild- und Frontdenken abzusichern?
    Die bloße Verurteilung des Faschismus ist post festum leicht und billig zu haben; aber rückt sie nicht zugleich alle Formen der Herrschaftskritik, die in diesem Kontext sich verwirren, ins Irrationale? Auch die RAF, die Herrschaftskritik glaubte durch terroristische Gewalt ersetzen zu können, war eine Gestalt dieser nun wirklich entsetzlichen Verwirrung.
    Hat nicht der Historikerstreit nur scheinbar die Fronten geklärt, oder hat er sie nicht auf eine Weise geklärt, die sie vielmehr endgültig verwirrt haben? Hat er nicht alle, die versuchen, in den Faschismus sich hineinzuversetzen, zu Häretikern erklärt, die das Dogma der Verurteilung nicht teilen?
    Wer heute das Gefühl hat, die möglichen Gesprächspartner sind tot und nur als Autoren von Büchern noch präsent, macht der nicht die Erfahrung, was es mit dem „Abstieg zur Hölle“ auf sich hat?
    Ist nicht das Fernsehen ein Hinweis darauf, welche universalen Formen der Gewalt zitiert werden müssen, um das Gedächtnis der Toten zu verdrängen?
    Waren es nicht die Theologen, die, als sie Hegels „Weltgericht“ als eine Bestätigung der theologischen Idee des Jüngsten Gerichts ansahen, rechts und links nicht mehr unterscheiden konnten? Das Jüngste Gericht, wenn es das einmal geben wird, wird das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht sein. Und steckt nicht genau hierin die Lösung der Frage der Unterscheidung von Rechts und Links?
    Kann es sein, daß, wer Gräber schmückt und Blumen auf ein Grab pflanzt, sicherstellen will, daß der Ruf der Auferweckung bei den Toten nicht mehr ankommen wird? Geht er nicht davon aus, daß dieser Ruf, durch die Blume gesprochen, die Toten nicht mehr erreicht?
    Sind die Evangelien (was sie offensichtlich sogar für Theodor Haecker waren) eigentlich wirklich antisemitisch? Ist es nicht vielmehr so, daß man die scheinbar „antisemitischen Stellen“ erst dann wirklich begreift, wenn man den historischen Kontext (und die Ereignisse, die Flavius Josephus beschreibt) hinzunimmt? Und haben wir dann nicht viel mehr Grund, in diesem historischen Kontext die Gegenwart und in diesen „Juden“ uns selbst wiederzuerkennen: die christlichen Politiker in den Sadduzäern, die Kirchen und die Theologen in den Pharisäern, die gesamte Linke, bis hin zur RAF, in den Zeloten? Ist nicht vielmehr die Frage des Historismus: „wie es denn wirklich gewesen ist“, die das „Was“ von den eigenen Rechtfertigungszwängen sich vorgeben läßt, damit aber die Erinnerung an die Gegenwart ausblendet, antisemitisch?
    Werden die Evangelien nicht in der Tat durchsichtiger, verständlicher, wenn man auf den Hintergrund, in dessen Anblick sie geschrieben worden sind, bezieht: auf den Jüdischen Krieg und die Zerstörung Jerusalems? Verweisen nicht schon die apokalyptischen Reden und die Getsemane-Geschichte hierauf, und wird das nicht direkt benannt, als Jesus bei Lukas auf dem Weg zur Kreuzigung die Frauen aus Jerusalem anspricht: „Ihr Töchter Jerusalems, weint nicht über mich, weint vielmehr über euch und eure Kinder“ (2328)?

  • 22.08.1996

    Enthält der Ausdruck „durch die Blume sprechen“ nicht einen Hinweis auf die Sprache der Pflanzen (und des Unbewußten, des Es)? In welcher Beziehung stehen Gärten (der Garten des Paradieses eingeschlossen) zum Unbewußten? Ist nicht der Garten eine Verkörperung des Metaphorischen (während Tiere das Symbolische verkörpern), und ist der Islam, der das Paradies, mit Quellen, Bäumen und Blumen, ans Ende setzt, ein Opfer der Metaphorik? Sind Metaphern objekt- und naturbezogen, Symbole begriffs- und weltbezogen (und wurde das Opfer Kains deshalb nicht angenommen, das Opfer Abels dagegen doch)? Der Vorwurf des Selbstmitleids, der auf andere grundsätzlich nicht anwendbar ist, dient vor allem dazu, den Blick des Mitleids zu unterdrücken, dem andern die Schuld zuzuschieben. Der Vorwurf des Selbstmitleids ist ein Instrument der Schuldverschiebung. Er macht den andern zum stellvertretenden Opfer, das das verdrängte eigene Mitleid sühnen soll. Er verstopft die Quelle der Barmherzigkeit. Der an andere adressierte Vorwurf des Selbstmitleids gehört zur Logik der Vergewaltigung wie auch der Folter. Der Schuldvorwurf ist prophylaktisch, er rechtfertigt schon im Voraus die Gewalt, die dem Andern dann angetan wird. Indikativ und Imperativ: Auch das imperativische Gesetz steht im Indikativ, als Ausdruck des Seins, dem jeder gehorchen muß, und zwar unabhängig davon, ob es einsichtig und vernünftig ist oder nicht. Zur Legitimation des Gesetzes genügt der Hinweis auf die Macht, die in ihm sich ausdrückt. Der Imperativ der Lehre dagegen gründet in ihrer vollständigen Durchsichtigkeit, der Indikativ der Lehre ist der Ausdruck dieser Durchsichtigkeit, in der ich mich selbst wiedererkenne. Das Dogma verschiebt den imperativen Charakter der Theologie vom Inhalt auf die Form; es trennt den Gehorsam als Glaubensgehorsam vom Hören und vom Tun. Das Dogma war das Instrument der Rehabilitierung der Väter. Wenn die Fähigkeit, sich in den Angeklagten hineinzuversetzen, verdrängt wird und schwindet, wird das Recht zum organisierten Rachetrieb. Das Institut der Strafe verweist darauf, daß es im Recht nicht um die Opfer geht, sondern um die Legitimierung des Rachetriebs. Das „gesunde Rechtsempfinden“ der Nazis hat aus der Abfuhr des Rachetriebs einen hygienischen Akt gemacht (und wie es scheint, ist er das im Verständnis der Deutschen geblieben). Der Staat befriedigt gleichsam stellvertretend den Rachetrieb und die Mordlust seiner Bürger (deshalb waren Hinrichtungen im Mittelalter öffentlich), und er entsühnt ihn zugleich, indem er die Schuld daran auf sich nimmt. Vor diesem Hintergrund wird der deutsche Titel für denm öffentlichen Ankläger, der Titel des Staatsanwalts (der in der Anklage den Staat verteidigt) verständlich. Die Strafe, die an anderen verfolgt, was der zivilisierte Mensch sich selbst verbieten muß, hat ihr Maß an der Gewalt, die diese Verdrängungsleistung erfordert. Was in den Knästen sich zuträgt, nimmt man ebenso nicht wahr, wie man den Blick ins eigene Unbewußtsein sich verbietet. Auch die Gefangenen in den Knästen leiden stellvertretend, und ihr Leiden wird durchaus als entsühnend (allerdings nicht als befreiend) erfahren: Draußen sind die 99 Gerechten, die den Gefangenen, wenn sie sich herausnehmen, ihr Leiden auch zu äußern, Selbstmitleid vorwerfen. Das theologische Konstrukt des stellvertretenden Sühneleidens hat die Erlösten zu Komplizen der Täter (und das Christentum zu einer Religion des Herrendenkens) gemacht. Deshalb wurden die Juden als „Gottesmörder“ verfolgt: Es gibt kein stellvertretendes Sühneleiden ohne Wiederholungszwang.

  • 21.08.1996

    Recht und Moral lassen sich eindeutig anhand ihrer Beziehung zur Gemeinheit unterscheiden: Gemeinheit zerstört die Moral, aber sie ist kein strafrechtlicher Tatbestand. Die Berufung auf das Gewaltmonopol des Staates, die diese Gewalt zum Maß der Wahrheit macht, ist die Leugnung der göttlichen Gewalt (die eins ist mit der sadduzäischen Leugnung der Idee des Auferstehung). Gilt nicht der Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand schon für die Orthodoxie (den Dogmatisierungsprozeß) und für den Naturbegriff (die Naturwissenschaften)? Und sind nicht alle drei durch die konstitutive Beziehung der Logik der Verurteilung zum Objektivierungsprozeß verbunden? Die Logik des Inertialsystems (die Logik der Beziehung von Ding und Eigenschaften, die unseren durchs Inertialsystem definierten Naturbegriff beherrscht) ist die Logik der Verurteilung. Physis vs. natura: Im Kontext des Naturbegriffs wird das Ding bestimmt durch seine Eigenschaften; die Frage ist nur, ob die Eigenschaften durch Zeugung oder durch Geburt bestimmt worden sind (Ursprung der Vererbungslehren, des Rassismus). Begründen die beiden Naturbegriffe (physis und natura) nicht zwei verschiedene Raumvorstellungen? Die Differenz liegt im Begriff der Norm, der Orthogonalität; sie läßt am Problem der Norm sich demonstrieren. Die Norm symbolisiert die Zeugung und die Geburt zugleich, sie faßt sie in eine (in sich selbst widersprüchliche, nur für die Anschauung identische) Vorstellung zusammen. In diesem Kontext wäre es wichtig und notwendig, die Transformation genauer zu bestimmen, der die Philosophie (ihre Begriffe und deren Konstellation) unterworfen wurde, als sie aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen wurde: Der Weg führt über die grundlegende Stoa (die Ataraxia, die Lösung des Problems des Selbstbewußtseins unter den Bedingungen des römischen Imperialismus), Tertullian (der die Sprache der lateinischen -postdogmatischen – Theologie geprägt hat) und Boethius (der den Aristoteles übertragen hat) zur Scholastik. Ist nicht der Confessor (dessen Prototyp Tertullian war) ein Produkt der Übertragung und Spiritualisierung des imperativen Charakters des Worts von der Schrift aufs Dogma (insbesondere auf den innertrinitarischen Prozeß, die „Zeugung“ des Sohnes durch den „Vater“)? Hat er nicht das Wort, daß die Auferstandenen wie die Engel sein werden (auf der Basis einer männlichen Engelvorstellung) so verstanden, daß nur Männer in den Himmel kommen (und Frauen, wenn sie denn in den Himmel kommen, zu Männern werden)? Reicht die Unterscheidung männlicher und weiblicher Heiligentypen nicht schon in die Märtyrerzeit zurück? Wann und unter welchen Bedingungen wurden Männer zu Märtyrern, und wann Frauen? Hat sich darin nicht schon die spätere Trennung in (männliche, politische) Confessores und (weibliche, „private“, auf den Kontext der Ehe, der männlichen Gewalt und der Sexualität bezogene) Virgines vorbereitet? Waren es nicht unterschiedliche historische Zeiten (und nicht nur Motive), die das Martyrium von Männern und Frauen unterscheiden? Unterscheiden sich Dornen und Disteln wie Welt und Natur? Stammt nicht das Gewaltmonopol des Staates aus der väterlichen Gewalt, ist nicht das Gewaltmonopol des Staates, das dem Recht zugrundeliegt, ein Monopol der Vergewaltigung (und wird nicht aus diesem Grunde gegen Frauen anders Recht gesprochen als gegen Männer)? Wer das Argument des Selbstmitleids gegen andere richtet, verwendet es wie der Vergewaltiger: Sie soll sich nicht so anstellen! So wird das Argument zur Rechtfertigung der Vergewaltigung, es mobilisiert und verstärkt den zwanghaften Trieb (zur Folter, zur Brutalität, vgl. hierzu die Bemerkungen Goldhagens zu der besonderen Grausamkeit und zum Demütigungstrieb, der die Antisemiten an ihre jüdischen Opfer band). Wer es für entscheidend hält, ob ein Urteil rechtskräftig ist, nicht aber ob es wahr ist, kann Recht und Vergewaltigung nicht mehr unterscheiden; für ihn wird das Gewaltmonopol des Staates zum Mittel der Vergewaltigung. Und wer den Angriff auf einen Staat, der „von der überwältigenden Mehrheit des Volkes“ getragen wird, für besonders unsittlich hält, spricht den Staat und mit ihm seine Diener) von jeder moralischen Verantwortung frei. Erst wenn auch in RAF-Prozessen die Ursachen der Taten frei reflektiert werden können, wenn diese Prozesse nicht mehr als Instrument der Diskriminierung von Staatskritik genutzt werden, darf man mit Recht auf eine befriedende Wirkung des Rechts wieder hoffen. Wird nicht die Anklage in dem Augenblick blasphemisch, in dem sie den Anspruch erhebt, ins Herz der Angeklagten zu sehen. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen. Was der Ankläger dort zu sehen vermeint, ist in Wahrheit das Produkt seiner eigenen Projektion; hier gibt es zum Feindbild keine Alternative mehr, und das rückt den Anspruch in einen paranoiden Zusammenhang (dessen ansteckende Wirkung, wenn überhaupt, dann nur schwer wieder unter Kontrolle zu bekommen sind). Die personalisierenden Entgleisungen in den Plädoyers der Bundesanwälte (die sich gegen die Angeklagte, gegen ihre Verteidigung und auch gegen die Prozeßbesucher richten) sind rechtfertigungslogische Konsequenzen einer apagogischen Beweisführung, der es nicht mehr um die Stichhaltigkeit der Argumente, sondern nur noch um die Wirkung geht (alle dem Zweck der Anklage dienlichen Aussagen kommen von „glaubwürdigen“, alle anderen von „unglaubwürdigen“ Zeugen, die bei Bedarf ebenso hemmungslos diskriminiert werden wie die Angeklagte, ihre VerteidigerInnen und kritische Prozeßbeobachter). Wenn die Deutschen „normal“ werden wollen, wenn sie werden wollen wie die anderen Nationen, begründen sie eine Logik, die dann auch die anderen vergiftet, sie mit in den Bann des Faschismus hereinzieht (unterliegt nicht der selbstrechtfertigende Gebrauch des Philosemitismus einer ähnlichen Gefahr?). Die Deutschen halten sich für gottähnlich, wenn sie Schicksal spielen können: als Vollstrecker des Weltgerichts. Human wäre erst eine Menschheit, in der es keine unabwendbaren Schicksale mehr gibt.

  • 20.08.1996

    Das Anschauen ist der optische Reflex des Gehorsams; es zerstört das Sehen wie der Gehorsam das Hören. Beiden ist die Verdrängung der Reflexion gemeinsam, die das Sehen von der Anschauung und das Hören vom Gehorsam unterscheidet. Hören und Sehen sind kommunikative Sinne; das Anschauen und der Gehorsam transformieren das kommunikative, dialogische Moment im Sehen und Hören in eine eindimensionale, monologische Herrschaftsbeziehung, hinter deren Rücken die Herrschaftsstrukturen: hinterm Anschauen der Raum (und die Orthogonalität), hinterm Gehorsam die Bekenntnislogik (die Orthodoxie), sich bilden und entfalten.

  • 19.08.1996

    19.08.1996
    kabod: die „Herrlichkeit“ (Gottes), die Buber gelegentlich mit „Wucht“ übersetzt, hängt der Wortbedeutung nach mit der Schwere (dem Belastenden, der Last?) zusammen. Steckt darin nicht ein Hinweis auf den Satz vom Rind und Esel, die nicht zusammen vor einen Pflug gespannt werden sollen: Nur wer die Last auf sich nimmt, befreit sich von ihr? Du sollst die Herrlichkeit Gottes nicht zum Joch (zur Last für andere) machen, die Attribute Gottes (die Elemente seiner Herrlichkeit) stehen im Imperativ, nicht im Indikativ. – Wer ist der Dominus Deus Sabaoth?
    Wenn der Stier, das Rind, (und mit ihm das Tieropfer überhaupt) in der christlichen Symbolik entfällt, hängt das nicht damit zusammen, daß, wäre das Christentum realisiert, es kein Joch (keine Aufbürdung der Last auf andere) mehr geben dürfte? Aber sind nicht das Inertialsystem, die Geldwirtschaft und die Bekenntnislogik (die Verkörperungen der transzendentalen Ästhetik, die den kantischen Totalitätsbegriffen zugrunde liegen) Reflexionsformen des Selbsterhaltungsprinzips und Formen der Entlastung durch Schuldverschiebung? Hat der Naturbegriff das Symbol des Rindes absorbiert, aus dem Blickfeld gerückt?
    Hängen die Hörner der apokalyptischen Tiere (die Attribute, durch die der Drache und das Tier aus dem Meere sich unterscheiden) mit dem Joch zusammen?
    – Der Drache hat sieben Köpfe und zehn Kronen, und auf seinen Köpfen sieben Kronen (Off 123),
    – das Tier aus dem Meere hatte zehn Hörner und sieben Köpfe und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Köpfen gotteslästerliche Namen (ebd. 131), während
    – das Tier vom Lande (der falsche Prophet) zwei Hörner hat wie das Lamm und redet wie ein Drache (1311).
    Machen wir heute nicht zu leichtfertig unseren Geschmack (anstelle des Worts) zu einem Kriterium unseres Religionsverständnisses, in dem „Gott“ dann nur noch als ein dekoratives Element vorkommt? Hier bleibt eigentlich nur noch übrig, allen Theologen die Lektüre der Kritik der Urteilskraft (insbesondere die logische Ableitung des Geschmacks) ans Herz zu legen.

  • 18.08.1996

    Natur ist ein Exkulpationsbegriff, der von der „Last“ des richtigen Lebens (der Barmherzigkeit) befreit. Mit dem Begriff der Natur (und hinter seinem Rücken: dem Bewußtsein nur durch Reflexion zugänglich) konstituieren und entfalten sich die im Weltbegriff zusammengefaßten Herrschaftsstrukturen. Deshalb ist die Geschichte der Naturerkenntnis ein Teil der Herrschaftsgeschichte, deren Erkenntnis sie zugleich ausblendet.
    Jede historische Gestalt der Naturerkenntnis war ein Mittel der Rechtfertigung des jeweils Bestehenden; mit dessen Änderung veraltet auch die ihm jeweils korrespondierende Gestalt der Naturerkenntnis. Der große Fisch und das Vieh im Buch Jona: sind das Leviatan und Behemot? Mit dem Begriff der Buße wurde das herrschaftskritische Element im Begriff der Umkehr ins Autoritäre zurückgebogen. Symbol und Typos konstituieren sich als Erkenntnisbegriffe nur durch die Kritik von Natur und Welt (durch die Kritik der historisierenden Vergegenständlichung) hindurch. Exemplarisch für diese kritische Beziehung zur Objektivität ist die symbolische Beziehung der Schlange zum Neutrum und die logische Beziehung des Namens der Hebräer zu dem der Barbaren. Verhält sich der Stier zum Naturbegriff wie die Schlange zum Neutrum?
    Indogermanisches: Die christianisierten Neutrum-Sprachen sind Sprachen im Bauch des Fisches (Jonas bekennt sich, bevor er ins Meer geworfen und vom Fisch verschlungen wird, als Hebräer). Haben die Christen den Namen der Hebräer nicht seit je als eine spezielle Anwendung (und antijüdische Radikalisierung) des Namens der Barbaren mißbraucht? Der Symbolbegriff bezieht sich auf die Natur, der des Typos auf Welt und Geschichte, und zwar beide als Mittel der kritischen Reflexion. Der Bekennende gibt sich zu erkennen, dieses Bekenntnis (dessen Paradigma das Schuldbekenntnis ist: Ausdruck der Wehrlosigkeit) wird durch die Bekenntnislogik ins Gegenteil verkehrt: die Bekenntnislogik macht das Bekenntnis zur Maske, den Bekennenden zur Person: sie macht die Welt zum Subjekt des Bekenntnisses (und wird so zu einem Instrument der Welt- und Objekt-Erkenntnis). Jesus hat die Bekenntnislogik in der Gestalt des Pharisäers zum Objekt der Kritik gemacht. Durch Historisierung der Pharisäer (wie auch der Propheten) hat das Christentum diese Kritik externalisiert und zu einem Instrument des Antijudaismus gemacht. Für die Christen waren die biblischen Pharisäer gleichsam Pharisäer von Natur, ihr Pharisäertum eine Natureigenschaft (hier liegt eine der Wurzeln des Rassismus), die Christen sind durch diese projektive Verschiebung nicht mehr nur zu Pharisäern, sondern zu Rassisten geworden. Die Logik des Satzes „Rich-tet nicht …“ läßt an dieser Konstellation sich demonstrieren; die Bekenntnislogik ist die Logik der Verurteilung. Sind die Wolken der Zeugen die Wolken des Himmels, auf denen der Menschensohn kommen wird? Das Herrengebet hat die Christen ins Leere, in die Wüste geschickt: Wie können sie den Namen heiligen, wenn sie ihn nicht kennen? So wurde aus der Heiligung des Gottesnamens das Verbot des Fluchens (das wahr wird, wenn man es moralisch, als Norm des Handelns, und nicht verbal versteht: als Herrschaftskritik und nicht als Verbot der Majestätsbeleidigung, der „Verunglimpfung“ von Herrschaftssymbolen). Jedes Verurteilen ist ein Fluchen; und dieses Fluchen konstituiert die Wege des Irrtums (den bacchantischen Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist). Hat die Erfindung der Schrift etwas mit dem Versuch der Rekonstruktion der Planetenbewegungen zu tun? Und verweist nicht das Planetensystem (wie auch der hebräische Name des Himmels) auf die Beziehung von Schrift und Wort? Am Ende wird sich der Himmel wie eine Buchrolle aufrollen. Die folgenreichste Wirkung der kopernikanischen Wende war, daß sie die Schrift dieses Buches gelöscht hat. Kohelet: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Deshalb ist des Bücherschreibens kein Ende. Ist nicht Kants Wort über den Sternenhimmel über mir und das moralische Gesetz in mir der Beweis, daß er mehr wußte als er sagen konnte? Kant = Jona: Die Kritik der reinen Vernunft ist der Bauch des Fisches, die Kritik der praktischen Vernunft das Gebet im Bauch des Fisches, und mit der Kritik der Urteilskraft hat der Fisch Jona an Land gespien (dort aber reichte sein Sprachvermögen nur bis zu dem Satz: In vierzig Tagen wird Ninive zerstört). Hitler war nicht der Antichrist, wohl aber die Generalprobe. Dazu eine Warnung: Der Messias wird in der gleichen Gestalt wiederkommen, nicht aber der Antichrist. Verhalten sich die hebräischen und die griechischen (indoeuropäischen) Deklinations- und Konjugationsformen zueinander wie die Wasser über und die Wasser unterhalb der Feste des Himmels (wie Name und Begriff, Wort und Schrift)? Ist nicht der Himmel das erste Geschöpf, dazu das einzige, das dann als Name Verwendung findet? Der Pharao, der Joseph nicht mehr kannte: Heißt das, daß, wer Joseph nicht mehr kennt, wie Pharao wird? Wenn der Herr sich als Urheber der Verstockung bekennt, ist das nicht der Herr, den Pharao nicht kennt (und ist das die Ursache der Verstockung)? Auch wenn Gott das Herz des Pharao verhärtet, verstockt Pharao sich selbst. Und ist nicht das Gottsuchen der einzige Weg, der aus der Verstockung herausführt? Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: In der objektivierenden Anschauung des Andern erkenne ich meine eigene Nacktheit. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen.
    Der „eliminatorische Antisemitismus“ war die Einübung ins Herrendenken, das nach dem Krieg (auf der Grundlage der kollektiven Verdrängung und im Prozeß der Metamorphosen des Feindbilds) als ausgesprochen karrierefördend sich erwiesen hat. Auschwitz steckt in den Fundamenten der Nachkriegsgesellschaft (nicht nur in Deutschland), diese Vergangenheit ist nicht nur vergangen.
    Adornos Bemerkung, daß heute jeder Katholik schon so schlau sei wie früher nur ein Kardinal, gehört in den gleichen Zusammenhang. Dem Antisemiten (ähnlich wie dem Folterer) beweist jede Lebensäußerung des Opfers (jeder Ausdruck der Qual, die der Folterer ihm zufügt) das Recht und die Notwendigkeit, es zu quälen. Das verleiht dem Antisemitismus (aber auch seinen Nachfolgekonstrukten) eine Beharrungskraft, eine inertiale Gewalt, die inzwischen die gesellschaftliche Bewegung insgesamt durchdringt, sie dem mechanischen Prozeß, mit dessen Logik sie seit ihrem Ursprung aufs engste verbunden ist, endgültig angleicht. Der apagogische Beweis (dessen Analyse noch aussteht) ist der Beweis durch Verdrängung. Und die Vorstellung des unendlichen Raumes, die keine ist (der unendliche Raum läßt sich nicht „vorstellen“), gewinnt ihre Überzeugungskraft und ihre logische Gewalt allein aus den Verdrängungsprozessen, die die Anpassung an die Welt (das Selbsterhaltungsprinzip) heute erzwingt. Hegels Kritik des apagogischen Beweises (Logik I, Ausgabe Meiner 1951, S. 231ff, insbesondere S. 236), die ihn nicht auflöst, sondern instrumentalisiert, ergreift (obwohl sein Text das Gegenteil suggerieren will) die Partei der Welt gegen das Subjekt. Verweisen nicht die Aporien des kopernikanischen Systems, in dem bei gleichmäßiger Verteilung der Materie im Universum nicht sich erklären läßt, – weshalb es nachts dunkel ist und – weshalb die Gravitationskräfte, die sich eigentlich akkumulieren müßten, nicht unendlich und chaotisch sind, auf einen inneren Zusammenhang von Gravitation und Licht, und ist es nicht in der Tat merkwürdig, daß Newton, der das allgemeine Gravitationsgesetz entdeckt hat, auch die Grundlagen für die physikalische Optik gelegt hat, und daß Einsteins Relativitätstheorien durch ihre Beziehung zum Licht und zur Gravitation sich unterscheiden? Ist das Inertialsystem die Feste des Himmels, die im Namen des Himmels die Einheit von Wasser und Feuer repräsentiert, und hat nicht Einsteins spezielle Relativitätstheorie den Zusammenhang beider erstmals notiert: das Wasser im Relativitätsprinzip und das Feuer im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (das konkret nur auf thermische <oder allgemein: mikrophysikalische>, nicht auf makrophysikalische Objekte und Prozesse sich bezieht; die Beziehung der speziellen Relativitätstheorie (des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) zur Planckschen Strahlungsformel ist nicht nur eine zufällige, historische, sondern beide beziehen sich, in unterschiedlicher Perspektive, auf den gleichen logischen und empirischen Sachverhalt: auf die Wechselwirkung kinetischer und elektrodynamischer Prozesse)? Sintflut: War der Thalessche Satz „Alles ist Wasser“, der die Geschichte der Philosophie eröffnete, die erste Formulierung des Relativitätsprinzips?

  • 17.08.1996

    Autoritätshörigkeit hat ihre Wurzeln im Rechtfertigungszwang: Führer ist, wer die Verantwortung für das, was einer tut, auf sich nimmt, den Handelnden vom Druck der Verantwortung entlastet, wer ihm die Schuld abnimmt. Daß das im Ernst nicht gelingt, läßt am „eliminatorischen Antisemitismus“ sich demonstrieren. (Übernimmt heute, nach der kollektiven Verdrängung des Schreckens und auf der Grundlage dieser Verdrängung <der Verdrängung durch kollektive Verurteilung>, nicht das Recht genau diese Funktion, insbesondere in den Bereichen, in denen es dazu dient, Gemeinheit zu decken: bei der Polizei, in Staatsschutzprozessen und in Knästen?) Instrumentalisiertes Feindbild oder der logische Kern der Verhärtung des Herzens: Ist nicht das durch die transzendentale Ästhetik, durch die subjektiven Formen der Anschauung, vermittelte apriorische Objekt, die Grundlage der transzendentalen Logik, das Produkt einer apriorischen Verurteilung und Verdrängung, ist nicht die transzendentale Logik, die Konstruktion synthetischer Urteile apriori, das (aus der Bekenntnislogik hervorgegangene) Modell des Vorurteils? Wenn Aufmerksamkeit das natürliche Gebet der Seele ist, dann ist der eliminatorische Antisemitismus die reinste Form des Atheismus. Was hat die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos mit den Versuchungen Jesu in der Wüste zu tun? War Hiob der erste, der die Plagen als Versuchungen erfahren hat? Was haben die zehn ägyptischen Plagen, und was hat die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos mit der Ursprungsgeschichte der subjektiven Formen der Anschauung zu tun? Sollte es nicht ein essentieller Teil der rechtsstaatlichen Grundsätze sein, daß Verwaltungsentscheidungen ebenso wie Gerichtsurteile für die, die davon betroffen sind, verständlich sein müssen? Das aber würde bedeuten, daß fast alle raf-Urteile dieser Forderung nicht genügen. Müßte nicht der Buchtitel „Versuche, die raf zu verstehen“ ein wenig variiert werden: „Versuche, die raf-Prozesse zu verstehen“? Denn auch diesen Versuch scheint die Öffentlichkeit längst aufgegeben zu haben; deshalb nimmt sie sie nicht mehr wahr. Es gibt zwei Begriffe der Reinheit: Der eine würde dem der Reinheit der Lehre entsprechen, der die Umkehr voraussetzt und in der Heiligung des Gottesnamens, der Einigung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, sich erfüllt. Der andere steht unterm Rechtfertigungszwang und agiert ihn aus; dieser Begriff der Reinheit, den man den hygienischen nennen könnte, manifestiert sich in Reinheitszwängen, die von der Ansprechbarkeit durch die Waschmittelreklame über den Begriff der klinischen oder auch chemischen Reinheit bis hin zum eliminatorischen Antisemitismus reichen. Ist nicht der Prozeß der Dogmenentwicklung der Versuch, den ersten Reinheitsbegriff unter den Bedingungen des zweiten zu realisieren? Dieser Begriff der Reinheit der Lehre kommt ohne Antijudaismus, ohne Verurteilung der Häresien und Verfolgung der Ketzer, aber auch ohne Hexenverfolgung nicht aus. Er hat in der Theologie sich etabliert, nachdem an die Stelle des Märtyrers der Confessor trat. Die Bekenntnislogik ist ein Instrument der Abwehr: ein Präventivverfahren gegen Schuldgefühle und Schuldreflexion zugleich. Läßt sich die Geschichte der Theologie im Bann der Bekenntnislogik nicht als die Umkehrung und Radikalisierung der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos begreifen, mit der Taufe als Wiederholung des Untergangs im Schilfmeer als Anfang, über die Tötung der Erstgeburt und die allgemeine Finsternis bis hin zu den Fröschen (den unreinen Geistern) und zur Verwandlung des Wassers in Blut (der Verwandlung, die Taufe blutig an denen vollstreckt, die sich nicht wollen bekehren lassen)? Durch die Bekehrung ist die Umkehr zu einem Instrument der Herrschaft geworden. „Ein Wind weht vom Paradies her“ (Walter Benjamin): Ist das kreisende Flammenschwert ein Ventilator? Die Enden der Erde: Sind das nicht die Pforten der Hölle und des Paradieses zugleich? Zu den Flüssen des Paradieses gehört auch der Euphrat. An dem „großen Strom Euphrat“ – sind auch die vier Engel gebunden, die beim Schall der sechsten Posaune losgebunden werden, um, nachdem sie für die Stunde, den Tag, den Monat und das Jahr sich bereitgemacht hatten, den dritten Teil der Menschheit zu töten (Off 914); – auf den gleichen Strom wird die sechste Zornesschale ausgegossen, da vertrockneten seine Wasser, damit den Königen vom Aufgang der Sonne der Weg bereitet würde. „Und ich sah aus dem Munde des Drachen und aus dem Munde des Tieres und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister wie Frösche <herauskommen>. Sie sind nämlich Dämonengeister, die Zeichen tun, die zu den Königen des ganzen Erdkreises ausziehen, um sie zum Krieg am Tag des allmächtigen Gottes zu versammeln.“ (Off 1612ff)

  • 16.08.1996

    Zum Milgram-Experiment verweist Goldhagen auf eine Studie, die nachweist, daß es in diesem Experiment nicht um Gehorsam, sondern um „Vertrauen“ ging (Hitlers willige Vollstrecker, S. 665, Anm. 19). Heißt das gleiche Vertrauen in der christlichen Tradition nicht „Glaube“?
    Gründet die Logik dieses Glaubens nicht in der gleichen Konstellation, zu der auch der individualisierende Akt des Ursprungs des Charakters gehört (vgl. hierzu Rosenzweigs „Stern der Erlösung“), und verweist diese Konstellation nicht auf die Geschichte des Ursprungs des Weltbegriffs? Korrespondiert der Charakter nicht dem Gattungsbegriff im Tierreich und dessen Beziehung zum Weltbegriff, und ist er nicht (wie auch der Glaube) eine der Reflexbildungen des Weltbegriffs im Subjekt? Gibt es noch andere (wie es scheint, genau bestimmbare und abzählbare) Reflexbildungen des Weltbegriffs im Subjekt, und ist der Kern dieser Reflexbildungen in den subjektiven Formen der Anschauung verborgen, die durch ihre neutralisierende Gewalt zugleich als Instrument der Verblendung in ihnen sich erweisen? Gründet hierin das Problem der sieben unreinen Geister, von denen Maria Magdalena befreit wurde?
    Ist nicht jeder Götzendienst Sternendienst?
    Sh. die ungeheure Geschichte im Buch Jonas: Erst das Volk, dann der König, und der König ruft mit dem Volk dann auch das Vieh, „Rinder und Schafe“, zur Buße auf. Rinder und Schafe sind Opfertiere; Esel wurden nicht aufgerufen.
    Ist es nicht ein gemeinsamer Hang zum Populismus, der, indem er in vorauseilendem Gehorsam den kollektiven Rechtfertigungszwängen folgt, taz und Publik Forum immer mehr aus ihren kritischen Anfängen heraus- und in immer gefährlichere Zonen hineintreibt? Symbolfigur dieses Trends in Publik Forum ist mittlerweile wohl Eugen Drewermann, der sich seinen Mut an der heute ohnehin ohnmächtigen Kirche beweist, während er zugleich jede wirkliche Herrschaftskritik denunziert.
    In den dreißiger Jahren gab es eine Schallplatten-Reklame, die mit einem Bild warb, auf dem ein Hund aufmerksam einer Schallplatte lauscht; dazu der Slogan „die Stimme seines Herrn“. So hat das ganze Volk bei „Führer-Reden“ vorm Lautsprecher gesessen.
    Hat der Nationalsozialismus nicht das Instrumentarium gleich mitgeliefert, das den kollektiven Verdrängungsakt am Ende des Kriege ermöglichte? Die Verbrechen der Nazis waren mit ihrer „Weltanschauung“ nicht rational (durch Begründung), sondern nur durch die Bekenntnislogik (durch ein Verurteilungs- und Rechtfertigungssystem) verbunden, die es ermöglichte, die Verbrechen durch den kollektiven Bekenntniswechsel (durch ein anderes Verurteilungs- und Rechtfertigungssystem) gleich mit zu verdrängen. Seitdem hat – bis in die Theologie hinein – das Bewußtsein sich ausgebreitet, daß es auf den Inhalt einer Religion (eines „Bekenntnisses“) garnicht so sehr ankommt, sondern nur darauf, eine zu haben. Die Instrumentalisierung der Bekenntnislogik durch Nazis, die der Kern des „eliminatorischen Antisemitismus“ war, ist offensichtlich nicht mehr rückgängig zu machen.
    Naturwissenschaft: Selbstverblendung durch Erkenntnis.
    Gründen die drei evangelischen Räte in ihrer Beziehung zu den drei transzendentalen Formen der Logik:
    – die Armut in der Beziehung auf die durchs Tauschprinzip (durchs Geld) beherrschte Welt,
    – das Hören in der Beziehung auf die durchs Inertialsystem (durch die „subjektiven Formen der Anschauung“) beherrschte Natur und
    – die Keuschheit auf die Beziehung zu den durch die Bekenntnislogik von Selbstreflexion und Herrschaftskritik „befreiten“ Formen der Erkenntnis und des Wissens? – Ist die Bekenntnislogik der „Unzuchtsbecher“?
    Hat der „Dieb in der Nacht“ etwas mit der Tötung der Erstgeburt, die um Mitternacht erfolgte, zu tun?
    Jesus wußte sich zu den verlorenen Kindern Israels gesandt; Paulus hat begriffen, daß die Rettung Israels nur über die Völker (die „Heiden“) möglich ist; die Kirche hat daraus die Verwerfung Israels abgeleitet, anstatt in der Rettung Israels die eigene zu begreifen. Auschwitz ist der Greuel am heiligen Ort.
    Die Ängste, die während des Krieges insbesondere in der katholischen Kirche verbreitet waren: Heute die Juden, morgen sind wir dran, waren nur insoweit unbegründet, als sie nach der Niederlage der Nazis ihren Urheber verloren zu haben schienen. Aber hatten sie ihn wirklich verloren, hatte die Kirche, als sie vergaß, daß sie selbst mit zur Ursprungsgeschichte dieser „Urheberschaft“ gehörte, diese nicht schon so sehr verinnerlicht, daß sie für sie nur nicht mehr sichtbar (dafür aber umso gefährlicher geworden) war? Mit dem Verrat der Juden, deren Leiden sie nicht wahrzunehmen fähig war, hat die Kirche sich selbst verraten. Ausdruck dieses Verrats ist nicht zuletzt der Zustand der Theologie heute.
    Die Deutschen mögen Hitlers willige Vollstrecker gewesen sein (und sie waren es), aber war Hitler nicht der „willige Vollstrecker“ des Selbstverrats der Kirche? Der Antisemitismus hat kirchliche Wurzeln, Deutschland war nur das Treibhaus, in dem diese Pflanze zu ihrer vollen Pracht sich entfalten konnte.
    Kann es sein, daß das Hethitische, in dem das Neutrum durch den Verzicht auf die grammatische Geschlechtertrennung erkauft war, zur Ursprungsgeschichte der indoeuropäischen Sprachen gehört? Ist der Ursprung des Neutrum durch die sprachliche Verdrängung des Weiblichen vermittelt (das in der Folge dann nur in dritten Person wieder erscheint, während im Hebräischen die Geschlechtertrennung auch in der zweiten Person noch gilt)?
    Wenn Hitler in der „Masse“ eine weibliche Komponente erkannte, steckt darin nicht die merkwürdige sprachlogische Beziehung des Feminimum zum Plural im Deutschen? Beim bestimmten Artikel, wo das Femininum zur Grundlage des Plural geworden ist, erscheint im Genitiv und Dativ des femininen Artikels die Nominativform, beim Plural im Genitiv die Nominativ-, im Dativ die Akkusativform (!) des singularen maskulinen Artikels, in beiden Fällen sind Eigentum und Herrschaft sowie das Geben, Gewähren, auf einen männlichen Adressaten bezogen. Es ist davon auszugehen, daß diese sprachlichen Beziehungen nicht zufällig sind, daß es sich nicht nur um äquivoke Beziehungen handelt, sondern (wie auch im „Sein“, das sowohl den Infinitiv des Hilfsverbs wie auch das Possessivpronomen der dritten Person singular bezeichnet) sprachlogische Beziehung, die zu entschlüsseln wäre. Nicht auszuschließen, daß die Ontologisierung einer männlichen Possessivbeziehung im Namen des Seins den Schlüssel hierzu liefert.
    Der Rassismus blendet die Herrschaftskritik aus, er erspart sich die Reflexion dadurch, daß er einem sprachgeschichtlichen Sachverhalt einen biologischen substituiert. Die Logik dieser Substitution ist im Weltbegriff vorgebildet, durch den Weltbegriff determiniert. Im Grunde ist jede Sprachforschung, die die Geschichte der Sprache vom herrschaftsgeschichtlichen Prozeß trennt und an die Geschichte von Völkern und Stämmen bindet, immer noch rassistisch.
    Hat nicht die lateinische Sprache, und zwar unter einem großen sprachlogischen Zwang, das Evangelium durchs Dogma ersetzt?
    Der Satz, daß der Menschensohn Herr des Sabbath ist, hat etwas mit der Befreiung Maria Magdalenas von den sieben unreinen Geistern (die ebenso wie der Sabbath auf das antike moralisch-kosmologische Verständnis des Planetensystems, auf die Astrologie, verweist) zu tun.
    Wachet und betet: Ist das nicht die Aufforderung zur Erinnerungsarbeit? Der Nazi-Slogan „Deutschland erwache“, der eigentlich auf das vollständige Vergessen, auf die Unterdrückung des Eingedenkens, zielte, ist das Produkt einer schrecklichen Verschiebung. Dieses „Deutschland“, das seiner nicht spotten läßt, ist der Kern und der Inbegriff einer pathologischen Empfindlichkeit, der Energielieferant der antisemitischen Wut und Aggression. Im Kern dieses Namens steckt eine, wie es scheint, unheilbare Paranoia.
    Mit der Begründung seiner Entscheidung, Jude zu bleiben, hat Franz Rosenwzeig gleichzeitig Vorkehrungen getroffen gegen ein Mißverständnis des Sterns der Erlösung. Er hat jedes missionarische Verständnis dieses Buches im Vorhinein ausgeschlossen, er hat der Proselytenmacherei, aber auch einem etwaigen Wunsch eines Christen, nach der Lektüre dieses Buches zum Judentum zu konvertieren, einen Riegel vorgesetzt, der nicht mehr zu lösen ist. Aber war der Preis dieser Abgrenzung, die Bindung des Jüdischen ans Blut, nicht zu hoch?
    Das griechische physis ist männlich, das lateinische natura (wie die daraus abgeleitete Natur) feminin; darin spiegelt sich die unterschiedliche Sprachwurzel, die im Griechischen auf die Zeugung, im Lateinischen auf die Geburt verweist. kosmos und mundus sind beide männlich, die deutsche Welt ist feminin. Kann es sein (und hängt das hiermit zusammen), daß die Namen der Nationen im Deutschen (wie der Name mizrajim im Hebräischen – heißt deshalb der ägyptische König Pharao?) Kollektivnamen sind, während sie in den alten (und in den anderen europäischen) Sprachen sonst durch ein grammatisches Geschlecht bestimmte individuelle Begriffe sind? Liegt nicht die Schwierigkeit (und der Wendepunkt) darin, daß der logische Status der Namen der Nationen zusammen mit dem mittelalterlichen „Realismus“, der den Begriffen objektive Realität zuerkannte, in der Ursprungsgeschichte des den Nominalismus begründenden Inertialsystems obsolet geworden und untergegangen ist?
    Im Deutschen sind die Namen der Nationen Kollektivbegriffe und Totalitätsbegriffe zugleich, die wie die Gattungsnamen durch Gebrauch des (bestimmten oder unbestimmten) Artikels auf die „Exemplare“ der Nation (oder der Gattung) sich beziehen. Sie sind eigentlich hypostasierte Adjektive: sie drücken eine gemeinsame Eigenschaft unterschiedlicher Individuen aus. Nationen stehen wie Gattungen in Konkurrenz zum Weltbegriff …
    In welcher Beziehung stehen Nationennamen zu den Abstrakta, zur Hypostasierung von Eigenschaften, die in der Regel mit Suffixen wie -heit oder -keit gebildet werden? Welche sprachlogische Bedeutung haben die Bildungen auf -tum (wie Deutschtum, Judentum, Heidentum, aber auch Reichtum, Eigentum u.ä.)?
    Sind nicht das Gerundium, auch das Supinum (die nicht auf Ei-genschaften, sondern auf Tätigkeiten sich beziehen), lateinische Vorläufer dieser Abstrakta? In imperialen Zusammenhang werden die Abstrakta durch ihre Beziehung auf Eigenschaften (die zusammen mit dem Dingbegriff sich konstituieren) gerückt, die die Dinge beherrschbar machen (Zusammenhang mit dem Ursprung des Trägheitsprinzips).
    Sind die philosophischen Akzidentien nicht die ersten hypostasierten Adjektive?
    Der Unterschied zwischen physis und natura drückt in der Frage sich aus, ob Eigenschaften durch Zeugung oder durch Geburt vererbt werden. (Hat nicht die Trinitätslehre diese beiden Aspekte getrennt: der innertrinitarischen Zeugung ohne Geburt entsprach die homousia, der irdischen Geburt ohne Zeugung die Inkarnation, die Menschlichkeit des Gottessohns. Und wenn Paulus „Römer von Geburt“ war, war er dann nicht Römer „von Natur“, und konnte die Geburt nicht durch eine Adoption ersetzt werden?)
    Die Ware, die nur noch Exemplar eines Kollektivs ist, so daß die Exemplare nicht mehr von einander sich unterscheiden lassen (eines Kollektivs von Dingen mit identischen Eigenschaften, in denen das Wesen und die Qualität der Ware begründet ist), ist weiblich! Waren nicht Sklavinnen die ersten Waren? – Wie hängt der Name einer Nation mit dem eines Markenartikels zusammen, der ihn heute zu beerben scheint?
    Hängt die Ware mit dem Imperfekt von Sein („war“) zusammen wie das Possessivpronomen der dritten Person männlich mit dem Infinitiv Sein?
    War nicht der Name Edom („Roter“) der erste auf eine Eigenschaft gegründete Name (und Edom war der Name der ersten Königtümer, später der Deckname für Rom)? Im Lateinischen entspricht ihm der Name Rufus! (Simon von Cyrene war der Vater des Alexander und des Rufus: Klingen darin der Hellenismus und das Römische Reich an? – Paulus hatte mit Rufus eine gemeinsame Mutter?)
    Gehören das Symbol und der Typos zum Begriff einer Erkenntnis, die an der Idee der Auferstehung sich orientiert (die Idee der Auferstehung verändert die Erfahrung von Natur und Geschichte)? Die Idee der Auferstehung gilt nur den Andern, niemals dem, der sie hegt: Sie ist Teil der Hoffnung, die uns nur um der Hoffnungslosen willen gegeben ist.
    Das Harmloseste, das man von den Angriff auf Adorno, den Schmid-Noerr mit völlig unzureichenden Kategorien beschreibt, sagen kann, ist, daß hier zwei Welten auf einander geprallt sind. Aber sind nicht auch in Auschwitz zwei Welten auf einander geprallt? Ich befürchte, daß man nicht ausschließen kann, daß das Bewußtsein, daß Adorno Jude war, mit hereingespielt hat. Ich würde gerne wissen, was aus den jungen Frauen geworden ist.
    Das Konstrukt der Venus-Katastrophe war ein Mittel, historische Prozesse reflexionsfähig zu machen; es hat dann allerdings zugleich die so reflektierte Geschichte wieder historisiert (und zwar dadurch, daß man, nach dem gleichen Prinzip, das bereits den mythischen Kosmologien zugrundelag, einem Prozeß der zweiten Natur einen der ersten substituiert hat).
    Kann es sein, daß das Wort der drei Weisen aus dem Morgenland: Wir haben seinen Stern gesehen, auf ein politisches und nicht auf ein astronomisches Ereignis sich bezog?

  • 15.08.1996

    Unter den neutestamentlichen Namen kommen Abraham und Isaak, Moses und Aaron, David und die Namen der Propheten nicht vor (mit zwei Ausnahmen: Zacharias ist Sacharja, und Simon Petrus wird einmal als Barjona, Sohn des Jonas, bezeichnet). Die am häufigsten vorkommenden Namen sind: Simon und Judas, Jakobus und Johannes, Joseph; auffällig sind der jüdische Gebrauch griechischer (und römischer) Namen: Andreas, Philippus, Alexander (Petrus, Paulus, Rufus). Bei den Frauen ist Maria fast ein Standard-Name, dazu Elisabeth, Hannah, Martha, Salome, Susanna.
    Unterstellt nicht dieses falsche Adorno-Zitat von Habermas „Eingedenken der gequälten Natur“, daß Adorno nur mit dem Negativen sich befaßt habe (nur mit der gequälten Natur, nicht mit der anderen Natur, was immer das sein mag)? Wer der Natur-Kritik glaubt enthoben zu sein, verdrängt die Wahrnehmung des Schreckens und verliert die Fähigkeit zur Kritik des Bestehen.
    Ist nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos ein Hinweis darauf, was mit dem einen Sünder, über dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel sein wird als über 99 Gerechte, gemeint ist? Die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos ist die Ursprungsgeschichte des steinernen Herzens, das am Ende durch ein fleischernes ersetzt wird. Steckt nicht hinter dieser Ersetzung des steinernen durch ein fleischernes Herz ein politisches und ein sprachlogisches Problem zugleich (und sind nicht die zentralen politischen Probleme zugleich auch sprachlogische Probleme)?
    Der Symbolbegriff schließt den affirmativen Gebrauch aus; es gibt keine ein für allemal gültigen Zuordnungen der Symbole zu ihren Bedeutungen. Das Symbol ist ein Reflexionsmedium, das gegen die verdinglichende Gewalt des Urteils sich richtet, diese Gewalt gegenstandslos macht. Es ist der Vorschein der Erfüllung des Worts, die nicht mehr nur im Medium der Sprache sich vollzieht.
    Beziehen sich nicht die drei Verdrängungsakte, die die Geschichte der naturwissenschaftlichen Erkenntnis als ihr Schatten begleiten:
    – die Verdrängung der Sinnlichkeit (die in den Objekten keinen Halt mehr findet),
    – die Verdrängung der Kritik (deren Subjektivierung zur bloßen Meinung) und am Ende
    – die Verdrängung der Schuld (die zu einem pathologischen Gefühl wird, von dem das aufgeklärte Subjekt sich freizumachen hat -hierher gehört der ungeheure Verdrängungsakt, der nach dem Krieg die Schrecken des Faschismus durch Objektivierung der Erfahrung entzogen hat),
    auf die drei theologischen Themen, die am Angesicht, am Feuer und am Namen sich entzünden? Ist nicht das Angesicht der Schlüssel zur sinnlichen Erfahrung, das Feuer das Symbol der Beziehung der Kritik zur Idee der Wahrheit, und ist es nicht der Name, der die Fähigkeit der Erinnerung und Reflexion der Schuld begründet? Schuld wird zu einem pathologischen Gefühl, wenn der Name (wie der Gottesname in der Trinitätslehre) zu Schall und Rauch wird.
    Verhalten sich nicht Angesicht und Name wie Nähe und Ferne, und sind nicht beide durch das Feuer auf einander bezogen? Ist nicht der Name das unendlich Ferne, das Gesicht das unendlich Nahe, bezeichnen sie nicht die beiden Grenzen der räumlichen Unendlichkeit (die des unendlich Großen und des unendlich Kleinen), die durch die Orthogonalität auf einander bezogen sind?
    Wenn das Angesicht und der Name etwas mit der Form des Raumes zu tun haben, dann hat die Reflexion und Kritik der Form des Raumes etwas mit der Heiligung des Gottesnamens zu tun: mit der Idee des Leuchtens Seines Angesichts.
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und die Plancksche Strahlungsformel rühren gemeinsam an das im Orthogonalitäts-Problem verborgene Problem des Feuers.
    Die Sinnfrage (die John L. Berger zufolge die Grundfrage der Religion ist) leugnet die Auferstehung. Wer nach dem Sinn von Sein fragt, ontologisiert den Habitus des „neutralen Zuschauers“, der weder neutral noch bloß Zuschauer ist, er ontologisiert den Habitus des Herrenblicks (den heute das Fernsehen kultiviert); er leugnet die moralische Gemeinschaft mit der Welt und zerstört das moralische Selbstverständnis der Menschen. Wer nach dem Sinn von Sein fragt, möchte die Last der moralischen Pflichten, die darin gründet, daß das Sein keinen von ihrem moralischen Verständnis (von der Sensibilität, von der Fähigkeit zur Wahrnehmung des Leidens) unabhängigen Sinn hat, loswerden. Das Bedürfnis nach Sinn ist eine Konsequenz aus dem objektivierenden Verständnis des Seins.
    Die Frage nach dem Sinn von Sein ist antisemitisch (eine Ursprungsgestalt des eliminatorischen Antisemitismus im Sinne Daniel Goldhagens).
    Gibt es außer dem Blut des Abel und dem Leiden der Israeliten im Sklavenhaus Ägypten noch andere Dinge, die „zu Gott, zum Himmel schreien“? Ist der Schrei die Ursprungsgestalt des Gottesnamens?
    Der Hinweis, daß es nicht nur die eine, allen gemeinsame Welt (die eine Projektion unseres menschlichen, am Selbsterhaltungsprinzip geschulten Verstandes ist), sondern verschiedene, nach Gattungen getrennte Welten gibt, daß zu jeder Nation, zu jeder Sprache, zu jedem Beruf, insbesondere aber zu jeder Tiergattung (und diese Zuordnung ist die exemplarische) eine eigene Welt gehört, ist nicht metaphorisch, sondern in der Logik des Weltbegriffs selber begründet.
    Vgl. hierzu:
    – Kants Definition der Begriffe Natur und Welt sowie Hegels Begründung für seinen Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten könne, weil es dann nämlich keine verschiedenen Gattungen und Arten der Tiere geben dürfe: zur einen Welt gibt es nur ein Tier;
    – aber auch die Geschichte der Benennung der Tiere durch Adam, an die die kantische Definition des Weltbegriffs rührt, und das apokalyptische Symbol des Tieres, das in Hegels Bemerkung über die logische Beziehung von Tier und Welt sich entschlüsselt: das Symbol des Tieres ist ein sprachlogisches Symbol;
    – und schließlich die Geschichte der Tieropfer, die ihr apokalyptisches telos im Opfer des Tieres und des falschen Propheten finden wird.
    Hat das Tier aus dem Meere etwas mit der griechischen (der prädogmatischen), das Tier vom Lande etwas mit der lateinischen (der postdogmatischen) Sprache zu tun?
    Wie hängt das Feuer mit dem Dingbegriff, und wie hängen beide mit der Geschichte der Instrumentalisierung zusammen?

  • 14.08.1996

    Erst durch Historisierung (durch deren musealisierende, verfremdende Wirkung) wird Religion zur Religion: zum Götzendienst.
    Historisierung und die ausgrenzende Beziehung zu Fremden (die in den Namen der „Barbaren“ oder „Heiden“ sich ausdrückt) gründen in einer gemeinsamen Logik, die der ethnologische Blick (dessen apriorisches Objekt im Namen der „Wilden“ sich anzeigt) dann radikalisiert.
    Ist diese Historisierung nicht der Motor der Dynamik, die die Geschichte der Philosophie beherrscht? Erst als vergangener wird der philosophische Gedanke, der in seinem Ursprung einer unmittelbaren Einsicht sich verdankt, gegenständlich, wird er zum Gegenstand der Reflexion eines andern. Ist es nicht die gleiche Vergegenständlichung, die das Licht zu einer elektromagnetischen Wellenbewegung macht, die mit Lichtgeschwindigkeit sich fortpflanzt? Wird diese Beziehung zu Vergangenem nicht durch den Raum (als Form der Äußerlichkeit) zu einer präsentischen Gewalt (zum indoeurpäischen Präsens), und ist diese Gewalt nicht die Grundlage der naturwissenschaftlichen Erkenntnis?
    Feuer und Wasser, die im hebräischen Namen des Himmels eins werden, bezeichnen die beiden Seiten der einen Grenze, die die Zukunft von der Vergangenheit trennt: das Wasser aus der Sicht der Vergangenheit, das Feuer aus der der Zukunft.
    Überschätzt Goldhagen nicht doch das Gewicht von „Anschauungen“, die Bedeutung ideologischer Schulung? Der Antisemitismus wird durch die Praxis gelernt, als deren Rechtfertigung er dann dient. Der Antisemitismus kommt gleichsam post festum; es gibt eine vorausgehende Grundentscheidung zur Gemeinheit, die dann des Antisemitismus, an dessen Wahrheit ohnehin niemand glaubt, zur eigenen Entlastung und Rechtfertigung sich bedient. Adressat dieser Entlastung und Rechtfertigung sind die Anderen, ist die Öffentlichkeit, deren Zustimmung das Wissen um die Unwahrheit der Ideologie verdrängen hilft. Die Verdrängung nährt und steigert die Wut, die in den Handlungen der Antisemiten sich entlädt. Und das Vorurteil hilft dann, die letzten Hemmungen zu beseitigen. Damit hängt es zusammen, wenn der Antisemit (wie auch der Sexist) von seinem Objekt nicht mehr loskommt. Es wäre eine interessante Aufgabe zu untersuchen, was es ist, was Angehörige der Polizei so anfällig fürs Vorurteil macht, ob und auf welche Weise diese Anfälligkeit mit ihrem „Auftrag“, mit den Zwängen, in die ihre beruflichen Pflichten und ihre Tätigkeit sie verstricken, zusammenhängt.
    Es ist eine gemeinsame Logik, die die kirchliche Folterpraxis im Mittelalter mit der Brutalität und Gemeinheit der Nazis verbindet. Schon die mittelalterlichen Pogrome, Ketzer- und Hexenverfolgungen waren „Säuberungsaktionen“, deren Ziel es war, die Reinheit der Lehre und die Einheit der christlichen Welt wiederherzustellen und zu erhalten. Die Logik, die dem zugrundelag, war die Bekenntnislogik, zu deren Konstituentien seit je das einheitsstiftende Feindbild, die Ausgrenzung der Verräter und der Sexismus, die Frauenfeindschaft, gehörten.
    Auf S. 624 (Anm 68) bemerkt Goldhagen, daß hinsichtlich der subjektiven Reaktionen der an den Mordaktionen Beteiligten nur „von ‚Ekel‘ … die Rede sein (kann), nicht aber von ‚Scham’“. Vgl. hierzu Kants urteilslogische Bemerkung zum „Ekel“ in seiner Kritik der Urteilskraft (ist nicht Kants Bemerkung über den Ekel in der Kritik der Urteilskraft eine notwendige Konsequenz aus seinem Begriff der Lust und des Geschmacks?).
    Waren die insbesondere bei Aktionen gegen Juden auftretenden Grausamkeiten und Brutalitäten (die spezifische Gemeinheit) nicht Mittel zur Gewöhnung an das Unfaßbare? So machte man die Taten auch für sich selbst, vor dem eigenen Bewußtsein, irreversibel. Das, was man ihnen antat, war der Beweis, daß es zu Recht geschah.
    Akten konstituieren das Inertialsystem der gesellschaftlichen Welt; zu ihrer Erstellung und Bearbeitung bedarf es der Verwaltung, deren Handeln an das gleiche Recht gebunden ist, das den Akten praktische Relevanz verleiht.
    Die Urteilsmagie gründet im Strafrecht, das das Urteil über die Strafe zu einem Instrument staatlicher Gewalt macht, seine Folgen aber zugleich ins gesellschaftliche Unbewußtsein der Knäste verdrängt (die Gefängnismauern sind Hilfsmittel der gesellschaftlichen Verdrängung), in denen die Gemeinheit herrscht, die kein strafrechtlicher Tatbestand ist. Das Urteil löst den Schrecken nicht auf, es verdrängt und reproduziert ihn.
    Entspringt nicht das „Restrisiko“ der Atomkraftwerke, das jederzeit zur Katastrophe sich ausweiten kann, dem gleichen Sicherheitsdenken, das auch dem Strafrecht und dem militärischen Kalkül zugrunde liegt? Zu diesem Sicherheitsdenken gehört seit je das Wegsehen, die selektive Wahrnehmung der Realität, das dem Handeln der Polizeibattaillone im letzten Krieg, auch den Exzessen der Judenverfolgung, zugrunde lag.
    Von der Verurteilung der Häresien, die dem Prozeß der Dogmenbildung zugrunde lag, ist nach ihrer vollständigen Säkularisierung die Urteilsmagie zurückgeblieben. Das Urteil ist von der Bekenntnislogik (von den „subjektiven Formen der Anschauung“) nicht abzulösen. Hier liegt die christliche Wurzel des Faschismus sowie jeder Art von Staatsterrorismus. Die Globalisierung des technischen und ökonomischen Instrumentariums der europäischen Zivilisation ist durch die Einforderung der Menschenrechte allein nicht zu humanisieren, notwendig wäre, diesen Prozeß durch Erinnerungsarbeit reflexionsfähig zu machen. Das Medium dieser Erinnerungsarbeit aber ist die Theologie.
    Zum „Scheusal Ägypten“: Ist nicht das gesellschaftliche Subjekt, dem das Opfer der Israeliten ein Greuel ist, das „Scheusal“? Und das Wort des Moses: „Den Ägyptern ist ein Greuel, was wir dem Herrn, unserm Gott opfern, wie es der Herr befohlen hat; wenn wir vor den Augen der Ägypter opfern, was ihnen ein Greuel ist, so steinigen sie uns“ (Ex 826), ist das nicht der zentrale, das Verständnis der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos insgesamt eröffnende Satz?
    Steckt nicht das methodische Problem des symbolischen Schriftverständnisses im Problem der Beziehung der hebräischen zur griechischen (indoeuropäischen) Sprachlogik: im Problem des Ursprungs und der sprachlogischen Entfaltung des Neutrums? Hier geht es nicht darum, welches die „wahre Sprache“ ist. Vielleicht könnte man den Sachverhalt so umschreiben: Sind nicht die „Symbole“ der Schrift (wie die Schlange, die Dornen und Disteln oder der Kelch) Ausdruck eben jener sprachlogischen Elemente, durch die indoeuropäischen Sprachen von der hebräischen sich unterscheiden (wie das Neutrum, die grammatischen Grundlagen der Vergegenständlichung und Verdinglichung, schließlich die in den indoeuropäischen Formen der Konjugation vorgebildeten „subjektiven Formen der Anschauung“)? Paradigma dieser Symbolik ist der Name der Hebräer selbst: die bis in die Struktur der Sprache hineinreichende Selbstwahrnehmung als Fremde für andere; ein Name, dem im Griechischen der Name der Barbaren (die projektive Vergegenständlichung der Fremden als Grundlage des eigenen „hellenistischen“ Selbstverständnisses) gegenüber steht.
    Ist nicht die Herrlichkeit Gottes das Leuchten Seines Angesichts? Und wenn es heißt, daß der Menschensohn „auf den Wolken des Himmels“, „in großer Macht und Herrlichkeit“ wiederkommen wird, hat das nicht etwas mit diesem Leuchten Seines Angesichts zu tun?
    Haben nicht die gleichen Dinge, die Paulus ausblendet, während die Evangelien davon berichtetn, auch sprachlogische Bedeutung. Liegt nicht in den Wundergeschichten eine sprachlogische Sprengkraft, die nur dem Fundamentalismus und der selbstzufriedenen Erbaulichkeit verborgen bleibt? Oder auch: Wie verhalten sich die „symbolischen“ Wundergeschichten zu den „typologischen“ Personengeschichten (Maria Magdalen und die sieben unreinen Geister; die gesamte Petrus-Geschichte, vom Messias-Bekenntnis über das „Weiche von mir, Satan“ bis zu den drei Leugnungen; die Petrus/Jakobus/Johannes-Geschichten; die beiden Lazarus-Geschichten)?
    Hat die Bitte der Zebedäus-Söhne: „Verleihe uns, daß wir einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen dürfen in deiner Herrlichkeit“ (Mk 1037, bei Mt 2020ff ist es die Mutter der Zebedäus-Söhne, die ihn für ihre Söhne fragt) etwas mit dem andern Satz zu tun: „Und mit ihm kreuzigten sie zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken“ (1527, vgl. Mt 2738, Lk 2332ff, Joh 1918)?
    Ist das Wort Jesu am Kreuz an seine Mutter und an Johannes nicht auch ein Adoptionsakt (wie die Gottessohnschaft bei der Johannes-Taufe und auf dem Berg der Verklärung, oder auch die Saulus-Paulus-Geschichte, der möglicherweise eine Alexander-Saulus-Geschichte vorausgeht)? Ist nicht die Adoption das Modell der „Wiedergeburt“ (die auch das Paulus-Wort, er sei „Römer von Geburt“ anders verständlich machen könnte)?
    Ist Joseph von Arimathäa der Adoptivvater des gekreuzigten Jesus?
    Was bedeutet es, wenn es heißt, daß Simon von Cyrene „vom Felde“ kam (Mk 1521, Lk 2326, vgl. Mt 2732; nach Joh 1917 trug Jesus sein Kreuz selber)? Ist hier ein Feld im agrarischen Sinne gemeint (das Feld von Bauern oder Hirten), gab es in der Nähe Jerusalems solche Felder? War Simon ein Tagelöhner?
    Mit der Rezeption des Weltbegriffs werden auch Theologie und Religion dem Gesetz der Instrumentalisierung unterworfen, das sich dann in der Bekenntnislogik ausdrückt. Ist nicht die Bekenntnislogik die Gewalt, die beide, die Theologie und die Religion, von innen her angreift und aufzehrt (ein Prozeß, den sie im Innern beider gegen beide anstrengt und führt), sie, ohne daß die Betroffenen es merken, in ihr Anderssein transformiert: sie bewußtlos säkularisiert? Notwendig wäre es, diesen Prozeß endlich zu begreifen (durch Erinnerungsarbeit und Reflexion).
    Liegt Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“ nicht an der Schwelle des Umschlags zur Prophetie, auf den Joh 129 sich bezieht: des Auf-sich-Nehmens der Sünde der Welt; ist nicht das Eingedenken der Natur im Subjekt selber schon das „Auf-sich-Nehmen der Sünde der Welt“? Adorno zitiert in diesem Satz die Kritik der Urteilskraft, in der Kant mit dem Begriff einer „Natur im Subjekt“ die ästhetische Produktivkraft des „Genies“ bezeichnet; der Adornosche Satz erinnert zugleich an die Intention Georg Lukacs‘, der erstmals die Kunst anstatt aus der Sicht des Konsumenten aus der des Produzenten zu begreifen unternommen hatte.
    Haben die drei Weisen aus dem Morgenland etwas mit den „Zauberern“ in der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos zu tun?
    „… der ich bilde das Licht und schaffe die Finsternis“: Das Erste ist nicht das Bessere. Ist das nicht die biblische Grundlage der Kritik des Ersten (und der Väter)?
    Neuer Kannibalismus: Sind wir nicht dabei, im Leib der Sprache die Gebärmutter durch den Bauch zu ersetzen: die Barmherzigkeit durchs Fressen (die Schlange frißt den Staub, den Adam produziert)?
    Das eine verlorene Schaf und die verlorene Drachme (Lk 154ff): Der eine Sünder, über den, wenn er umkehrt, im Himmel mehr Freude sein wird als über 99 Gerechte, sind das der Staat (das verlorene Schaf) und die Kirche (die verlorene Drachme)?

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