Die Scham ist ein Instrument der Externalisierung der Schuld: Der Sich-Schämende stiehlt sich fort aus dem Blick der Urteilenden, aus dem Gesichtsfeld der Sprache der Andern, er verbirgt sich „unter den Bäumen“. Die Verurteilung des Andern, die in ihm die Scham hervorruft, ist selber eine Äußerung der Scham: Die Kollektivscham war der Anfang der kollektiven Verurteilung des Faschismus, die die Voraussetzung für seine Reproduktion geschaffen hat. Der Begriff der Kollektivscham hat die Faschismus-Kritik ins Herrendenken zurückgeführt (ähnlich wie die Kopenhagener Schule das erkenntniskritische Potential der Einstein’schen Theorie in ein neues Konstrukt der Naturbeherrschung).
Scham ist der Quellpunkt des Inertialsystems, der Geldwirtschaft und der Bekenntnislogik. Die Scham versucht, das Innere, in das nur Gott sieht, unsichtbar zu machen (ist das Präfix be- die schamerzeugende Gewalt in der Sprache?).
Scham ist der Versuch, sich dem Blick der Sprache (der erkennenden Kraft des Namens) zu entziehen: Die Scham bezeichnet den blinden Fleck der Sprache, der sie zu einem Instrument der Information und Kommunikation macht. Die Scham bezeichnet die (durch den Begriff produzierte) Grenze des Objekts zum Begriff: Sie ist der Statthalter des Begriffs im Objekt.
Die „heile Welt“ ist eine Emanation der Scham, der Versuch, sich komfortabel im Objektsein einzurichten: sie ist der Innenraum des in den Abgrund rasenden Zuges. Die Lokomotive, die diesen Zug vorwärtstreibt, wird angetrieben durch den Verurteilungsmechanismus, der der Erinnerung den Weg verstellt (die Feindbildlogik). Die Schiene, auf der dieser Zug sich bewegt, ist die Zeitschiene (das „Überzeitliche“, die Vorstellung des Zeitkontinuums). Der Abgrund, auf den er sich zubewegt, ist die Vergangenheit, vor der er flieht, und die in dieser Flucht als vor ihm sich öffnender Abgrund sich reproduziert (horror vacui: Produkt der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit; Natur ist die in die Vergangenheit projizierte Schöpfung).
Daß die Kommunikationstheorie ihre wichtigsten Ergebnisse in der Schizophrenieforschung gewonnen hat, hätte eigentlich vor ihrem affirmativen Gebrauch, den Luhmann und Habermas glaubten begründen zu können, warnen müssen.
Habermas: Second-Hand-Philosophie.
Dezember 1996
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31.12.1996
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30.12.1996
Die double-bind-Theorie ist eigentlich eine Theorie des Faschismus.
Die Rache Goldhagens: Die auf den Begriff des „double bind“ gründende Schizophrenie-Theorie (Bateson et al.: Schizophrenie und Familie) ist Teil einer Kommunikationstheorie, die auch als Produkt der Verschiebung der kritischen Theorie von der politischen Ökonomie auf die Familie sich begreifen läßt. In diesem Schizophrenie-Begriff spiegelt sich die politische Situation in Amerika nach dem Kriege, zu Beginn des kalten Krieges, eine Situation, die aus dem gleichen Grunde, aus dem dem Schizophrenen die Einsicht in seine Situation versperrt ist, der Reflexion entzogen zu sein schien; die schizophrenogene Familienstruktur war der Spiegel, in dem die entstellte Realität zugleich als analysierbar sich erwies (in der Rolle der schizophrenogenen Mutter kündigte sich die Wende in eine neoliberale, der politischen Verantwortung sich entziehende und politisch nicht mehr korrigierbare Wirtschaftspolitik an). Dieser Verschiebungs- und Verdrängungsprozeß hat sich auf die deutsche Rezeption der Kommunikationstheorie durch die Antipoden Luhmann und Habermas verhängnisvoll ausgewirkt: Hier mußte auch der Rest des kritischen Potentials noch verdrängt werden, die Reflexion der double-bind-Erfahrung, in der die Schrecken des Faschismus sich spiegelten, gegen die allein die Urteilsmagie noch zu helfen schien; übrig blieb ein technisches Konstrukt, das außerhalb der Sphäre des innertheoretischen Exkulpationstriebs unverständlich werden mußte: mit der double-bind-Erfahrung ist auch die sprachlogische Wurzel der Kommunikationstheorie verdrängt worden. Das Verdrängte ist dann in der Erinnerung, die Goldhagens Hinweis auf „Hitlers willige Vollstrecker“ (die wirklichen Objekte der double-bind-Theorie) wachgerufen hat, wiedergekehrt.
Bedeutung der double-bind-Theorie für die Subjektivierungsgeschichte (für die Rekonstruktion der „Schuldgefühle“). Hat nicht die Schizophrenie-Theorie dazu beigetragen, die „Schuldgefühle“ durch Pathologisierung der Reflexion zu entziehen? Kommt nicht der Identitäts-Mythos aus der gleichen Ecke (wie auch das Konstrukt des „Verrats der eigenen Geschichte“)?
Gründet nicht das Plancksche Wirkungsquantum in der Individualisierung der Entropie, und ist diese Individualisierung nicht durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit vermittelt?
Es gibt immer noch nationale Eigentümlichkeiten der Philosophie wie auch der Wissenschaften, die
a. in den nationalen Sprachlogiken und
b. in den durch den Säkularisationsprozeß erzwungenen nationalen Denominationen der transzendentalen Logik (in den nationalen Kristallisationen der politischen Ökonomie)
begründet sind.
Ist das Tier aus dem Meer die Ökonomie und das Tier vom Lande die Verwaltung? -
29.12.1996
Feindbilder rutschen in die Vorurteilslogik hinein, wenn sie aufhören, reflexionsfähig zu sein. Aber ist nicht das: die Kriminalisierung der Reflexion, das eigentliche Ziel der RAF-Prozesse? Zumindest unternehmen sie alles, um diesen Eindruck zu erwecken.
Der Grundtext der Apokalypse ist der Schöpfungsbericht (es gibt zwei Schöpfungsberichte: der erste, das Sechs-Tage-Werk, bezieht sich auf die geschaffenen Dinge, der zweite, die Geschichte vom Paradies und vom Sündenfall, auf die Sprache, den Anfang und Grund der Offenbarung).
Heute machen die Menschen ihre Empfindungen (und damit auch ihre Rechtfertigungszwänge) zur Grundlage ihres Selbstverständnisses, das so zur Weltanschauung wird. Seit es keine Theologie mehr gibt, gibt es für sie kein Maß mehr, an dem sie ihre Empfindungen noch messen könnten. -
28.12.1996
„Die unterscheidungstheoretischen Überlegungen können kommunkationstheoretisch umgesetzt werden, wenn man sich fragt, wie die längst schon laufenden Bemühungen um eine die Produktorientierung ersetzende oder ergänzende stärkere Markt- und Kundenorientierung der Bankorganisation im Lichte des Problems der Unterscheidung riskanter Kommunikation zu bewerten sind.“ (Dirk Baecker, S. 155) Steckt nicht in diesem Satz das ganze Problem der Kommunikationstheorie und ihrer Fundierung in der gegenwärtigen Phase der Geschichte der politischen Ökonomie (der Ablösung der Geldbewegung von der „Produktorientierung“ des Kapitals)?
Die Wüste und das Meer sind Symbole der Mathematik (die symbolische Bedeutung der Zahl Vierzig hängt mit der Wüste zusammen, die der Zahl Siebzig mit der Völkerwelt, dem Meer).
Tragheit und Gravitation machen das Ungleichnamige gleichnamig.
Wer ist der „Fürst dieser Welt“ (Joh 1231, 1430, 1611)?
Die Theologie wird heute als Angriff erfahren und deshalb abgewehrt. Die herrschende Gestalt der Theologie heute ist selbst schon ein Produkt dieser Abwehr.
Wenn die Sprache die Morgengabe des Schöpfers an die Schöpfung ist, ist dann nicht das Paradies das Realsymbol der Sprache, und die Vertreibung aus dem Paradies eine Vorstufe der Sprachverwirrung, des Turmbaus zu Babel? Was bedeuten dann die vier Arme des Stroms, der in Eden entspringt:
– Pison, welcher das Land Hawila umfließt, wo das Gold ist;
– Gihon, welcher das Land Kusch umfließt;
– Hiddekel <Tigris>, welcher östlich von Assur fließt;
– und der Euphrat?
Haben die „Stämme, Völker, Sprachen und Nationen“ etwas mit den vier Armen des Stromes aus dem Paradies zu tun (in der Apokalypse ist es der Euphrat, dessen Wasser den Königen vom Aufgang der Sonne den Weg versperren – 1612)?
Ich weiß nicht, ob das Rot, das ich sehe, dem Rot gleich ist, das ein anderer sieht. Aber ich weiß, daß ich mit den Andern eine gemeinsame Sprache spreche, in der wir beide verstehen, was wir meinen, wenn wir eine Farbe rot nennen.
Das Kriterium des Erwachsenseins ist die Fähigkeit zur materiellen Selbsterhaltung. Hierauf bezieht sich der Begriff der Existenz, dessen hilflose und verwirrte Reflexion Gegenstand der „Existenz-Philosophie“ einmal war. Grund der Hilflosigkeit war die double-bind-Konstellation, aus deren Bann die Existenz-Philosophie nie herausgetreten ist; sie war nur noch ein Indiz dafür, daß die double-bind-Konstellation zu einem Element der gesellschaftlichen Logik des Lebens geworden ist: Alle stehen unter der absoluten Forderung der Selbsterhaltung, zu der es keine Alternative mehr gibt (und die jede Regung der Barmherzigkeit ausschließt); zugleich erzeugt die ökonomische Logik dieser Gesellschaft objektive, durch Einzelne nicht mehr veränderbare Existenzbedingungen, die einen immer größeren Teil der Gesellschaft von den Möglichkeiten der Erfüllung dieser Forderung ausschließt. Nachdem dieser Ausschluß bisher auf Regionen draußen in der Welt, außerhalb der eigenen Grenzen, sich bezog, greift er jetzt erstmals auf das Generationenverhältnis über. Das Stichwort „Standort Deutschland“ ist eigentlich schon veraltet, seine Spitze richtet sich nicht mehr gegen die Konkurrenz draußen, sondern erstmals gegen die Bedrohung von innen: u.a. gegen die nachwachsende Generation. War die 68er Generation die erste, für die es aus diesem Konflikt keinen Ausweg mehr gab, und zugleich die letzte, die glaubte, ihn noch einmal zu ihrem Vorteil nutzen zu können? -
27.12.1996
Haben die Cherubim (in der Sündenfall-Geschichte, in der Ezechiel-Vision und in der Johannes-Offenbarung, auch der Gottesname „der auf den Cherubim thront“ sowie die Formel „der Himmel ist sein Thron“) etwas mit dem Saturn und seiner Stellung im Planetensystem zu tun? Ist das Planetensystem die Merkaba (wie verhalten sich die Cherubim zu den Ofanim)? Entsprechen den vier apokalyptischen Reitern die Planeten Jupiter, Mars, Venus und Merkur, während Sonne und Mond direkt als apokalyptische Objekte genannt werden?
Wenn der göttliche Zorn die Kehrseite seiner Liebe ist, dann ist die göttliche Rache die Kehrseite seiner Barmherzigkeit.
Die Feindbildlogik ist nur ein Moment in der Logik insgesamt, sie ist nicht ihr Grund. Sie erzeugt den blinden Fleck der Logik.
Die Feindbildlogik ist das Verbindungsglied zwischen der Schlange/dem Drachen und den beiden apokalyptischen Tieren.
Seitenblick: Kopernikus hat, als er die Sonne ins Zentrum rückte, die Erde zum Planeten gemacht, sie insgesamt auf den Irrweg geschickt.
Ist der Saturn der fahrende Zug (Repräsentant des speziellen Relativitätsprinzips), die Sonne der fallende Fahrstuhl (Repräsentant des allgemeinen Relativitätsprinzips) und die Erde der Plancksche Hohlraum (der Ort des Feuers)?
Der Zug, der auf den Abgrund zurast, ist ein Bild der Natur und der Ökonomie zugleich. Ist er nicht auch ein Bild der Bekenntnislogik: das der Hölle (nur die Hölle läßt sich aus der Bekenntnislogik begründen, nicht der Himmel)?
Läßt die Gnosis aus der Ursprungsgeschichte der Bekenntnislogik sich ableiten, aus der Versuchung, die Bekenntnislogik von ihrer Wurzel: der Opfertheologie, zu trennen, die Opfertheologie durch Externalisierung aus der Bekenntnislogik zu eliminieren? Gehört die Gnosis nicht zu den zwangslogischen Folgen des Urschismas?
Wirre Logik: Gehören zu diesem Stichwort nicht – ähnlich wie der „offene Brief“ der JU an den Bischof von Limburg – auch die Reaktion der FR auf Daniel Jonah Goldhagen, ihre Berichterstattung über den Hogefeldprozeß (und die redaktionellen Kommentare und Bemerkungen dazu) und heute die Reportage über den Weihnachts-Selbstmord der 49-jährigen Frau in Sindlingen (der dämonisierende Gebrauch von Begriffen wie „Ungerechtigkeit“ und „Perfidie“ zur Beschreibung und Charakterisierung zufälliger Umstände, die durch diesen Sprachgebrauch in das Licht einer hinterhältigen, heimtückischen „Vorsehung“ gerückt werden: ins Licht der Paranoia)?
Das Verschwinden der Verwandtschaftsbezeichnungen und der formellen Anrede nach dem Kriege täuscht eine allgemeine Verbrüderung vor, die es nicht gibt. Ist es nicht eher Ausdruck der Antizipation eines Zustandes, in dem die Herrschaftsstrukturen sich so verhärten und versteinern, daß sie in Abhängigkeit von der schwindenden ökonomischen Durchlässigkeit inzwischen die sprachliche Kommunikation generell ausschließen? Die politischen „Sparprogramme“ ziehen hieraus nur die Konsequenzen: Im „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“ testen sie die Grenzen der moralischen Enthemmung und der sozialen Blindheit der Herrschenden und Besitzenden und zugleich die Grenzen der Zumutbarkeit bei denen, die unten sind und sich nicht wehren können. Mit den Zahlen der Obdachlosen, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen wächst die Zustimmung zum System bei denen, die in diesen Zahlen das Spiegelbild ihres Wohlstands erkennen. In Wirklichkeit erzeugt die allgemeine Verbrüderung zwei feindliche Brüdermassen (die Gleichnamigkeit der Ungleichnamigen) und in ihnen einen Zustand, der dem kritischen Punkt der Selbstentzündung rapide sich annähert.
Die subjektiven Formen der Anschauung: Instrumente der Verstockung des Herzens, der moralischen Enthemmung und der sozialen Blindheit.
Wenn der Mensch das Ebenbild Gottes ist, ist er dann nicht der einzige Spiegel, in dem Gott sich erkennen läßt? Vor dem Urteil über das Handeln eines Menschen steht die Frage, ob ich, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, anders hätte handeln können. Nur über das Verständnis des Andern, Voraussetzung jeder Selbstreflexion, ist die eigene Blindheit aufzulösen. -
26.12.1996
In welcher Beziehung steht das „to be“ zum „Bekenntnis zu“? Woher kommt das „zu“, dem im Lateinischen z.T. das „ad“ entspricht?
Das Inertialsystem ist das die Sprache verwirrende Schuldverschubssystem. Das Inertialsystem ist – zusammen mit seinen Denominationen, mit dem Geld und mit der Bekenntnislogik – der Turm von Babel. Das Inertialsystem ist die naturale Verkörperung des Gerichts. Der Satz von den Pforten der Hölle, die die Kirche nicht überwinden werden, bezieht sich u.a. auf dieses Gericht.
Zum Bilde des Saturn: Auch die Paranoia ist ein Erkenntnisorgan, aber eines, das nur mit allen möglichen Sicherheitsvorkehrungen gebraucht werden darf.
Haben die Sternbilder den Himmel verschlossen, als Adam die Tiere benannte, während das Planetensystem (die Wege des Irrtums) entstanden ist, als die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden?
Zur Kritik des Gerichts: Wer eine Sache nur verurteilt, macht sich mit dem, was er verurteilt, gemein.
Sind die vier apokalyptischen Reiter (die auch vier Winde sind) Winde im Medienwald?
Im Dickicht der Begriffe: Der Satz, daß einer vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, wird wahr erst, wenn man ihn umkehrt: Heute sehen alle vor lauter Wald die Bäume nicht mehr, und die Religionen werden nur noch zum Pfeifen im Wald gebraucht. -
25.12.1996
Sind Venus und Merkur die „unteren“ (privaten), Jupiter und Mars die „oberen“ (politischen) Planeten? Und ist Saturn der Planet der Indifferenz, während Sonne und Mond die Verkörperung des Oberen und Unteren sind? Haben Freud und Marx etwas mit den unteren Planeten (den unteren Irrwegen) zu tun, und ist Einstein ganz unten?
Es gibt zwei komplementäre Formen, die Ökonomie mißzuverstehen: die technische und die moralische. Das technische Mißverständnis macht die Ökonomie zur Natur, um deren technische Beherrschung es geht, während das moralische Mißverständnis die Ökonomie auf individuelle Entscheidungen, die der moralischen Bewertung fähig sind, zurückführt.
Das Präsens ist der sprachlogische Grund der Erscheinungen, der alle Tempora durchdringt und affiziert: Die Sprachform der Vergangenheit bezeichnet vergangenes, die der Zukunft zukünftiges Präsens. Im Reich der Erscheinungen aber wird die Offenbarung (das Gesetz und die Prophetie) zur Apokalypse.
Ägypten und Babylon: „An jenem Tag, spricht der Herr der Heerscharen, da zerbreche ich das Joch, das ihren Nacken drückt, und zerreiße ihre Bande, und Fremden sollen sie nicht mehr dienen“ (Jer 308). In Ägypten (im Sklavenhaus und Eisenschmelzofen) waren die Israeliten Fremde, während Babylon die Fremdherrschaft (das Joch und die Bande) über Israel ist. Wer den Juden anstelle des Ziels der Befreiung das der Weltherrschaft unterstellt, verwechselt Israel mit Babylon (das ihm so als Feind selber dann zur Norm wird).
Der Weltbegriff leugnet die Schöpfung, der Naturbegriff die Auferstehung: Beide gründen in der das Gesetz der Objektivierung insgesamt beherrschenden Logik der vollendeten Vergangenheit (die zu den Konstituentien des kantischen Reichs der Erscheinungen gehört), in der Ersetzung des moralischen durch das zeitliche Perfekt. Sie verschließen die Zukunft, um sie für die Herrschenden offenzuhalten. Ihr realsymbolisches Modell ist das kopernikanische System, ein Himmel, der zum steinernen Herzen der Welt geworden ist. Aber: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen (Mt 1618), die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht (Jak 213). -
23.12.1996
Ist der „Seitenblick“ der Sturz vom Tempel, und wird das telos dieses Sturzes nicht aufs genaueste beschrieben in dem fahrenden Zug, dem frei fallenden Fahrstuhl und in dem Planckschen Hohlraum? Verweist der Sturz von der Zinne des Tempels auf den Bann des Objektbegriffs?
Haben die drei Versuchungen Jesu etwas mit den drei Leugnungen Petri zu tun? Haben nicht die Kirchenväter Steine in Brot zu verwandeln versucht, ist nicht die Scholastik der Verführung der Weltherrschaft erlegen, und hat nicht die Aufklärung sich von der Zinne des Tempels gestürzt? Und sind die beiden letzten Leugnungen/Versuchungen nicht austauschbar (war nicht der scholastische Universalismus schon der Sturz von der Zinne des Tempels, und hat nicht die Aufklärung den Grund für eine neue Gestalt der Weltherrschaft gelegt?
Die Naturwissenschaften beantworten nur die Frage nach dem Wie, nicht die Frage nach dem Was.
Hegel, Hölderlin und Schelling haben sich mit der Parole „Reich Gottes“ in Tübingen getrennt. Sie haben vergessen, daß das Reich Gottes auch das Himmelreich ist.
Ist das Planetensystem (das System der Wege des Irrtums) die Ursprungsgestalt des Inertialsystems?
Gibt es einen Zusammenhang der Geschichte der mittelalterlichen Engellehre (der Lehre von den Engelhierarchien) mit der Geschichte der Fälschungen im Mittelalter, sind nicht beide schon durch den Namen des Pseudodionysius mit einander verknüpft?
Die Einstein’schen Relativitätstheorien sind Konstrukte, die die Naturwissenschaften im Kern angreifen: die spezielle Relativitätstheorie das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum, und damit den Raum selber, und die allgemeine Relativitätstheorie die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, und damit die den Naturwissenschaften zugrunde liegende Zeitvorstellung?
Zielt nicht der Unschuldstrieb auf die Leugnung des Jüngsten Gerichts? Jedoch: Nicht die Unschuld, sondern die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Der Unschuldstrieb mobilisiert die Rechtfertigungszwänge, die zu den beschleunigenden Kräften des fallenden Fahrstuhls gehören, während die Barmherzigkeit den Schleier des Verblendungszusammenhangs, dem der Unschuldstrieb verfallen ist, zerreißt. Die Barmherzigkeit ist der Anfang der Erfüllung des Wortes „Emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae“.
Was heißt das: Stephanus sah den Himmel offen, während Paulus, der in den dritten Himmel entrückt war, Kenntnis von den Elementarmächten hatte?
Von den sieben Hellenisten werden drei später noch in den Schriften genannt: Stephanus, der gesteinigt wurde, und Philippus, der den äthiopischen Kämmerer taufte und später vier prophetische Töchter hatte, in der Apostelgeschichte, und am Ende Nikolaos in der Apokalypse.
Die Welt ist alles, was der Fall ist: Die Geldwirtschaft rückt die subjektiven Zwecke in ein Kausalitätssystem: Deshalb gibt es für die moderne Aufklärung keine Zweckursachen mehr. In diesem Kontext gibt es zur Gravitation keine Alternative, ist die Vergangenheit nur noch vergangen.
Die kopernikanische Theorie wird mir immer unheimlicher und Kant, der erste Ansatz der Reflexion dieser Theorie, immer wichtiger.
Der Gott der Hebräer, ist das nicht der Gott der Fremden, den die Ausländerfeindschaft nicht mehr erträgt?
Das ist meine Utopie:
– Wenn der Geist die Erde erfüllt, wie die Wasser den Meeresboden bedecken,
– wenn keiner mehr den andern belehrt, weil alle Gott erkennen,
– wenn das steinerne Herz durch das fleischerne ersetzt wird,
– wenn die Greise Träume träumen, die Jünglinge Gesichte sehen und über die Knechte und Mägde Sein Geist ausgegossen wird, und
– wenn am Ende die Herzen der Väter zu ihren Kindern bekehrt werden.
Die großen Seeungeheuer (die die Schlange im ersten Schöpfungsbericht repräsentieren) symbolisieren das Neutrum: Ist der Fisch, in dessen Bauch Jonas saß, und ist der andere Fisch, den Raphael und Tobias im Tigris gefangen haben, dieses Neutrum? – Ist das Christentum der Jonas im Bauch des großen Fisches, und ist das Dogma der Bauch des großen Fisches?
Ist das Neutrum aus dem Perfekt entstanden, hat es mit ihm eine gemeinsame Wurzel: Gründet das Neutrum in der (staatlichen) Expropriation des Handelns, der Transformation des Handelns in ein objektives, subjektloses, allein am Zeitablauf sich orientierendes „Sein“ und „Geschehen“, in Natur? Der Transformator ist der Mythos, in seinem Kern die Schicksalsidee.
Zum Begriff des Zuschauers: Sehen ist ein kollektiver Akt, ein Gattungsakt. Wenn ich sehe, sehe ich mit den Augen der Andern, deren Gemeinschaft ich mich zurechne. Deshalb ist Sehen Urteilen (identitäts- und gemeinschaftsstiftend wie das Feindbild). -
22.12.1996
Die Barmherzigkeit, die ins Herz der Menschen sieht, deckt eine Menge Sünden zu: Sie macht sie nicht ungeschehen, und sie vergibt die Sünden nicht, sie „nimmt sie auf sich“, sie erkennt in der Sünde des Andern die eigene Schuld und bekennt sie. Darin liegt die Hoffnung der Bekehrung des Sünders, in der die Rettung der eigenen Seele beschlossen ist. Bezieht sich hierauf das Wort vom Binden und Lösen? Was sind die Wege des Irrtums?
Wege des Irrtums: Käme es nicht darauf an, die Planetenbahnen als sprachlogische Bahnen zu begreifen? In diesem Zusammenhang bekäme auch der Satz: „Wir haben seinen Stern gesehen“, Sinn.
Modell des Verurteilten ist das Objekt, und das Objekt ist das Grab der Sprache (die subjektiven Formen der Anschauung sind das Kreuz und der Stein, der das Grab verschließt, und der die Sorge Maria Magdalenas war, als sie zum Grab ging, um den Toten zu salben). Sind nicht die Begriffe Denkmäler der Namen auf dem Grab (oder auch das Reich der armen Seelen der abgestorbenen Sprache)?
Durch die Opfertheologie ist das Christentum wieder zu einer Naturreligion geworden.
Die Opfertheologie ist der Kern der Bekenntnislogik und der Grund ihrer Ambivalenz: Sie ist offen für die Identifikation mit dem Opfer als auch für die Identifikation mit den Verfolgern, den Tätern. Sie ist offen für die Barmherzigkeit und für ihre Instrumentalisierung durch die Welt und den Staat.
Nach der Märtyrerzeit, mit der geschlechtsspezifischen Trennung der Heiligengestalten in Confessor und Virgo, ist die Ambivalenz der Bekenntnislogik durch Anwendung auf die Geschlechtertrennung nur neutralisiert, nicht aufgehoben worden. Die Männer haben die Bekenntnisreligion in Regie genommen, die Frauen sind fromm geworden.
Wie lautet Apg 139 „Saulus aber, der auch Paulus heißt, blickte ihn an, erfüllt mit dem heiligen Geist, und sprach …“ im Griechischen? – „Saulos de, ho kai Paulos, plästheis pneumatos hagiou atenisas eis auton eipen …“
Hat die Geschichte von den sieben unreinen Geistern etwas mit der Zahl 666 zu tun? Ist es der gleiche Mensch, den der eine unreine Geist verläßt, um dann mit sieben weiteren unreinen Geistern zurückzukehren: „und die letzten Dinge dieses Menschen werden ärger sein als die ersten“, von dem es dann heißt: „… sie ist die Zahl eines Menschen; seine Zahl ist 666“?
Für die Christen war Rom Babylon, für die Juden Edom (mit der Folge, daß „die Könige, die im Lande Edom regiert haben, ehe ein König regierte in Israel“ aus Gen 3631ff Gegenstand der jüdischen Mystik geworden sind): Was drückt in dieser Differenz sich aus (Herodes war ein Idumäer, Pilatus war der Statthalter Roms; Herodes hat Johannes enthaupten lassen, Pilatus hat die Rebellen, unter ihnen auch Jesus, gekreuzigt – und Paulus war bei der Steinigung des Stephanus anwesend; zu den messianischen Titeln Jesu gehört neben dem des Gottessohns und dem des Menschensohns auch der des Sohnes Davids)?
Ton Veerkamp weist gelegentlich darauf hin, daß es im Hebräischen das Verb „haben“ nicht gibt. Es wird hier ersetzt durch eine Dativ-Konstruktion, entsprechend dem hessischen „das ist mir“. Hat das „gehören“, das wir an die Stelle des „ist“ setzen würden, etwas mit dem Gehorsam zu tun: Ist der Gehorsam die Tugend dessen, der einem andern „gehört“?
Haben und Sein: Das „haben“ bezeichnet neben dem Besitz auch das Perfekt, die vollendete Vergangenheit: Ist die Übersetzung ins Perfekt, ins Vergangene, die das Inertialsystem an den Dingen vollzieht (und deren Vorform die indoeuropäische Form des Perfekt ist, die Bindung der Konjugation an die Zeit), ihre Übersetzung in ein potentielles Besitzverhältnis? Und gründet darin die sprachliche Beziehung des Infinitivs „Sein“ zum Possessivpronomen der dritten Person singular männlich (sein)? Ist das Sein ein in die Potentialität zurückgedrängtes Haben?
Strafrecht: Durch das Urteil und die daraus abgeleitete Strafe gewinnt der Staat ein Besitzrecht an dem Verurteilten. Der Ursprung der Knäste liegt in dem Institut der Schuldknechtschaft, mit der das Geld die ganze Welt überzieht, sie zur Welt macht. -
21.12.1996
Zur Feindbildlogik gehört nicht nur die Enthemmung der Moral, die mit dem Verhalten des Feindes begründet wird, die Wahrnehmung und Legitimierung des Bösen, das in einem selber steckt, am Feind, an dem es zugleich zu bestrafen ist: Der Kampf gegen den Feind ist Teil eines Mechanismus, der mich dem Feind gleich macht. Dafür ist der Feind zu verurteilen und zu bestrafen: So wird meine Bosheit legitimiert und durch die Bestrafung des Feinds zugleich entsühnt (der Judenmord war ein hygienischer Akt). Der Heldentod, zu dem das Martyrium am Ende verkommen ist, legitimiert sich selbst: Die Erinnerung wäre nicht zu ertragen, wenn das umsonst gewesen wäre.
Der Satz „Soldaten sind Mörder“ ist noch zu harmlos: Sie sind es mit gutem Gewissen, und um das zu schützen, wird dieser Satz unter Strafe gestellt. Das Problem ist nicht die Tat, die nicht rückgängig zu machen ist, sondern das gute Gewissen, mit dem sie verknüpft ist: Es fügt zur Tat den Wiederholungszwang hinzu.
Heute tun alle ihr Pflicht, aber keiner weiß mehr, was er tut: Ist das nicht der Grund des subjektlosen Lebens?
Nicht das Opfer Kains, sondern das Abels war dem Herrn wohlgefällig. Welches ist das Opfer Kains, und welches ist das Abels? Hat die RAF das Opfer Kains gebracht?
Verbirgt sich hinter den „klaren Positionen“ und den „klaren Fronten“ nicht immer ein Stück Gemeinheit, der Versuch, sich der Solidarität der Andern als eines Instruments, als einer moralischen Zwangssolidarität zu bedienen: einer Solidarität durch Komplizenschaft?
In einem Essay über Ingeborg Bachmann (in Lettre 35, IV/96) erwähnt Dorothea Dieckmann den Angriff einiger Studentinnen auf Adorno, der übrigens nach meiner Erinnerung in einer Vorlesung und nicht im Seminarraum des Instituts stattfand; und Adorno hatte nicht bei diesem Angriff der Studentinnen, sondern schon vorher, anläßlich der Besetzung des Instituts durch Studenten, die Polizei gerufen. Das aber rückt den Vorgang in eine Perspektive, die den daran anschließenden Bemerkungen der Autorin die Grundlage entzieht. Aber wie auch immer: Den Satz „Welche Geste obszöner ist, diese (nämlich Adornos Ruf nach der Polizei, H.H.) oder die der Studentinnen, ist nicht auszumachen – wohl aber, welche intelligenter ist. Die Angreiferinnen haben, wenn auch unfreiwillig, den restriktiven Verteidiger des Besonderen in der Kunst an der ‚richtigen‘, eben der Schwachstelle getroffen“ (Hervorhebung von mir), kann ich nur verstehen, wenn ich den Grad der Intelligenz an dem der Gemeinheit, die den Andern „an der ‚richtigen‘, eben an der Schwachstelle“ trifft, messe. Und hier war Adorno nun wirklich leicht zu übertreffen. Gibt dieser Satz nicht den erschreckend falschen Ansatz des ganzen Essays preis, der auch bei Ingeborg Bachmann Leiden in eben das Feuilleton transformiert, unter dem Ingeborg Bachmann, die sich nicht mehr wehren kann, gelitten hat? Es gibt heute eine Verzweiflung, die verraten und geschändet wird, wenn man sie in die Nähe des Martyriums rückt. Die Märtyrertradition war einmal der Anfang der Heldenverehrung. Leiden ist kein Wahrheitsbeweis.
Der Kampf gegen die „Weltordnung“, das ist so, wie wenn man einen Kampf gegen die transzendentale Logik führen wollte, die am Ende als der Grund jeder „Weltordnung“ sich erweist. Dieser Kampf wird, wenn er die Reflexion verwirft, zwangsläufig zum Gespensterkampf.
Die Kollektivscham war die Schiene, über die der Mechanismus installiert worden ist, durch den der Faschismus sich rekonstruieren konnte. Die größte Gefahr für den Faschismus war die Selbstreflexion, die durch die Kollektivscham gebannt und in die Logik der Verurteilung umgeleitet worden ist. Der Verhinderung dieser Selbstreflexion dienen u.a. die Verwirrung der Kritik, die die Selbstreflexion unter Rechtfertigungszwänge setzt, gegen die sie nur als erwachsene, über die Fähigkeit der Reflexion im Andern, sich zu behaupten vermag. Genau das aber verhindert die Scham, die die sich Schämenden infantilisiert.
Sind nicht durch diese Logik inzwischen die Hardliner der RAF zu Sympathisanten und Unterstützern der BAW geworden? Heute ist jede Front eine verkehrte Front.
Es vielleicht doch einmal sinnvoll und notwendig, die Geschichte der Naturwissenschaften als eine Geschichte des Frontbegriffs zu beschreiben. An ihr wäre zu zeigen, daß heute jede Front eine verkehrte Front ist. Die Fronten der Naturwissenschaften heute: Mikrophysik, Weltraumforschung, Genforschung?
Augenlust: Die „nackten Tatsachen“ sind das Alibi der Gemeinheit. Sie bedürfen der Feigenblätter, aber Gott hat ihnen einen Rock aus Fellen gemacht. Wäre es nicht unsere Sache, ihnen das Kleid zu fertigen? Das Wort von der Bedeckung der Sünden bezieht sich auf die nackten Tatsachen. Die Nackten bekleiden, das gehört zu den Werken der Barmherzigkeit. Die nackten Tatsachen korrespondieren dem Begriff der rohen, unbearbeiteten Natur und dem Namen der Wilden. Die nackten Tatsachen korrespondieren der Urteils- und Empörungslust: der Augenlust. Es war Ham, der die Brüder auf die Blöße des Vaters hinwies, und es waren Sem und Japhet, die die Blöße bedeckten. – Die Medien vermarkten die Urteils- und Empörungslust, sie bannen ihre Konsumenten in die Augenlust des Zuschauers.
Fleischeslust: Die Entdeckung und Unterwerfung Amerikas hat den Zusammenhang der Bekehrungs- mit der Mordlust erstmals vor Augen gestellt. Diese Logik ist am Ende im Holocaust explodiert (synthetisches Urteil apriori: in der „Unbekehrbarkeit“ der Juden, die der Rassismus nur begründen sollte, während in ihr in Wahrheit nur die eigene Unbelehrbarkeit der Antisemiten sich widerspiegelte, war die „Endlösung der Judenfrage“, der Genocid, bereits vorentschieden).
Hoffahrt des Lebens: Die Anschauung, die vom Gegenblick abstrahiert (und so sich selbst blind macht), macht das Objekt zur Folie der Projektion, des Begriffs.
Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht: Barmherzigkeit, nicht schon die Solidarität.
Es gibt zwei Begriffe des Verstehens, die deutlich unterschieden sind: Das Verstehen, das vor dem Holocaust versagt, ist eines, das auf die Ethik als prima philosophia sich gründet; dagegen wird der Holocaust verständlich, ja ableitbar, im Kontext der Ontologie als prima philosophia. Diese Unterscheidung korrespondiert der kantischen Unterscheidung des reflektierenden und bestimmenden Urteils.
Ist die Justiz die Verkörperung des nachtragenden Prinzips? Der Beruf des Staatsanwalts schließt jeden Gedanken an eine Vergebung der Schuld aus. Ein Staatsanwalt würde seine Pflicht verletzen, wenn er eine ermittelte Verletzung des Gesetzes nicht einem Verfahren zuleiten würde, das darauf abzielt, die im Gesetz für diese Verletzung vorgesehenen Folgen eintreten zu lassen. Der Staatsanwalt ist der Anwalt eines Staates, der – wie der Rachetrieb, aus dem er sich speist – nicht vergißt, weil er der Erinnerung nicht fähig ist. Dem Nicht-Vergessen entspricht eine Verdrängung, dessen institutionelle Verkörperung der Knast ist. Das Strafrecht ist eine Verdrängungsmaschine. -
20.12.1996
Der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht, ist identisch mit dem andern, daß er barmherzig ist.
„Der Sinn ‚Gottes‘ ist die solidarische Gesellschaft“ (Ton Veerkamp, S. 99): Aber schließt das nicht auch die Vergangenheit mit ein: die Solidarität mit den Toten? Gilt nicht Horkheimers Satz immer noch: Wie kann auf diesem riesigen Leichenberg, auf dem wir leben, je eine richtige Gesellschaft errichtet werden?
Nach Jer 423 entspricht der Erde das tohuwabohu, dem Himmel die Finsternis über dem Abgrund. Licht und Finsternis sind wie Wasser und Feuer Kategorien des Himmels, Kategorien der Reflexion des Himmels im Medium der Sprache. Im Kontext der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gibt es die Unterscheidung zwischen Licht und Finsternis nicht mehr. „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 514, vgl. Joh 812).
Erinnert nicht Ton Veerkamps Begriff der Weltordnung an den Habermas’schen „herrschaftsfreien Diskurs“? Es ist nicht nur eine Sache der freien Entscheidung, ob man sich für eine andere Weltordnung oder für den herrschaftsfreien Diskurs einsetzt. Es gibt neben der bestehenden Welt keine andere Weltordnung, die nicht durch die Reflexion dieser bestehenden Welt vermittelt wäre, und ebenso gibt es keinen herrschaftsfreien Diskurs, der nicht der Reflexion von Herrschaft bedürfte, um den Diskurs aus dem Bann der Herrschaft zu lösen.
Mit der Marx’schen Kritik des deutschen Idealismus ist der Geist nicht erledigt. Marx hat Hegel nicht in dem Sinne widerlegt, daß man sich danach nicht mehr mit ihm zu befassen brauche. Er hat ihn „vom Kopf auf die Füße gestellt“: Seine Kritik war ein Akt der Umkehr.
Der Weltbegriff ist der Inbegriff einer Eigentumsordnung, die vom individuellen Eigentümer abstrahiert, und deren Urheber der Staat, das Organisationsprinzip einer Gesellschaft von Privateigentümern, ist.
Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein: Hat das nicht etwas mit der Welt zu tun, mit dem Knoten, den Alexander nur durchschlagen, nicht gelöst hat?
Die Welt ist der Inbegriff einer apriorischen Logik, die uns die Erfahrung abnimmt.
Wenn der Ursprung des Weltbegriffs zivilisationsbegründend war, dann war Auschwitz der Zivilisationsbruch, in dem die Welt untergegangen ist.
Verstand und Einsicht: Während die Einsicht auf die Erkenntnis des Herzens, des Organs der Barmherzigkeit, sich bezieht, bezieht sich der Verstand auf das Auge, das Organ des Urteils, des Gerichts.
Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Als sie erkannten, daß sie nackt waren, haben sie gelernt, sich in den Augen der Andern wahrzunehmen. Dagegen steht der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht (auch dieser Satz steht im Imperativ, nicht im Indikativ).
Das „Bedecken der Sünde“ hat etwas mit der Vergangenheit und mit der „Erinnerungsarbeit“ zu tun: mit der öffentlichen Reflexion der Kräfte der Vergangenheit, die so ihre anwachsend nachtragende Macht über uns verlieren, deren Bann über uns nur so gebrochen werden kann. Die Sünde ist dieser Bann, der das Licht der Reflexion nicht aushält, nicht erträgt.
Läßt der „Zentralbank-Kult“ (Edward Luttwak in Lettre Nr. 35, IV/96, S. 8ff) als ein zwangslogischer Versuch, das kopernikanische System politisch-ökonomisch nachzubilden, sich verstehen? Die Finsternis über dem Abgrund ist das gesellschaftliche Äquivalent des kosmischen tohuwabohu.
Hegels logische Korrespondenz von Ich und Ding läßt sich näher bestimmen, wenn man das Ding als Ware begreift und das Ich als Reflexionsform der Warenform. -
19.12.1996
Objekte sind ausländisch: Jede Landesgrenze ist eine Verurteilungs- und Schuldgremze.
Ton Veerkamp: Der erste Johannesbrief (TuK Nr 71/72):
– „Raffgier“ (S. 45) antisemitisch?
– Sprache und Inertialsystem: Ist die Sprache Bubers (und in der Folge die Ton Veerkamps) nicht eine Konsequenz aus der Anerkennung der Herrschaftslogik, die vom Inertialsystem nicht zu trennen ist? Folge: Unschuldstrieb (nicht Sünde, sondern Schuld – „Verfehlung“, „sich daneben benehmen“ (S. 65) – als Maßstab)
. „Huld“/Barmherzigkeit (s.o.); „Bewährung“/Gerechtigkeit; „Weltordnung“/Welt; „Solidarität“/Liebe,
. 68er Desiderat: affirmativer Gebrauch des Begriffs der Ideologie („falsches Bewußtsein“ nicht reflektiv, sondern nur als Waffe),
. „klare politische Linie“, „unbedingte Ablehnung“, „kompromißlos“ (S. 66/88),
. „wie ‚Gott‘ geschieht“ (vgl. „wie Gott funktioniert“ – in: Vernichtung des Baal): Ästhetisierung/Historisierung,
. Tribut gezollt (nicht „gewährt“, S. 91): Tribut nur im „Ausland“, in unterworfenen Völkern, Einfuhrzoll für das Recht der Existenz unter der Besatzungsmacht,
. „Bekenntnis zu“ (S. 85), Problem der Bekenntnislogik (dagegen: Bekenntnis des Namens),
. Opfertheologie: „barbarischer Unsinn“ (S. 75) – reflektieren, nicht verdammen; Verurteilung, Feindbildlogik und Xenophobie („barbarisch“),
. „Inspiration“/Geist: daß mit der Marx’schen Widerlegung der idealistischen Systeme der Name des Geistes obsolet geworden ist, ist wahr und unwahr zugleich.
– Problemkreis Antichrist/Apokalypse/Antijudaismus (S. 52)?
Verweist der Übergang vom hebräischen Satan auf den griechischen diabolos nicht auf einen Fortschritt, liegt dazwischen nicht der Weltbegriff, verweist die logische Figur des diabolos nicht darauf, daß das Satanische, das Prinzip der Anklage (der Verurteilung), in die Struktur der Welt mit eingegangen ist, ja eigentlich sie begründet? Deshalb gibt es im NT (und in der Folge davon in den Weltreligionen) Dämonen. Die Idee der creatio mundi ex nihilo ersetzt die Schöpfung durch einen Abstraktionsprozeß.
Ton Veerkamps Begriff der „Weltordnung“ macht etwas deutlicher, aber zugleich verwischt es auch etwas. Es ersetzt die im Anblick von Rom notwendige Kraft der Reflexion (des Weltbegriffs) durch ein praktikables Feindbild. Auch diese Vergangenheit ist nicht vergangen. Wer seinen Hegel kennt, weiß, daß Begriffs- und Herrschaftsgeschichte so mit einander verflochten sind, daß sich das eine vom andern nicht mehr ablösen läßt. Die Größe der Gefahr, die Rom verkörpert, wird erst sichtbar im Licht des Weltbegriffs. Der Begriff der „Weltordnung“, der diese Gefahr zum Feindbild verdichtet, ist schon Produkt einer Verharmlosung.
Wird nicht, wenn man den Namen der Liebe durch den Begriff der Solidarität ersetzt, das Entscheidende herausdefiniert? Solidarität steht schon unter dem Gesetz der Instrumentalisierung (Liebe ist auch instrumentalisierbar: dagegen richtet sich der Rat der Keuschheit).
Steckt nicht in der Praxis der Geldschöpfung, der Kreditschöpfung durch die Banken ein astronomiekritisches Potential (Grund der Beziehung des Begriffs der creatio mundi ex nihilo zur Ursprungsgeschichte des Staates, zur Ursprungsgeschichte des Gewaltmonopols des Staates)?
Die Idee der Barmherzigkeit enthält das Potential einer Kritik der Transzendentalphilosophie, sie vermag insbesondere die Stellung und Bedeutung der transzendentalen Ästhetik in der Transzendentalphilosophie endgültig aufzuklären. Die Sprengung des Begriffs gründet in der Sprengung der ästhetischen Grundlagen des Begriffs (in der Beziehung des Begriffs zu den Formen der Anschauung, der Schaubühne unserer subjektiven Vorstellungen, unserer Vorstellungen von Natur und Geschichte).
Gründet nicht die politische Theologie in der Unfähigkeit zur Reflexion des Urteils (in der Vertauschung und Verwechslung von Subjekt und Prädikat), und verbindet das nicht deren gegenwärtige Verkörperungen mit ihrer Ursprungsgestalt in der politischen Theologie Carl Schmitts? Gilt das Freund-Feind-Paradigma nicht auch für die nachfolgenden (nachfaschistischen) Konstrukte? Das Problem der politischen Theologie gleicht dem der naturwissenschaftlichen Astronomie: Sie macht das Ungleichnamige gleichnamig, indem sie die Sphäre der Herrschaft mit der theologischen in eins setzt. Sie rührt an das Problem, das Derrida fast schon denunziatorisch an Benjamins „Kritik der Gewalt“ glaubte gesehen zu haben: an das Problem der Ununterscheidbarkeit des Holocaust von der göttlichen Gewalt.
DIE BANK GEWINNT IMMER: Es gibt keine Chance, mit politischen Mitteln die Beziehung von oben und unten umzukehren; man kann nur die Personen austauschen, aber nicht die Strukturen ändern: und das hilft nicht viel. Die Beziehung von oben und unten unterscheidet sich von den anderen Richtungsbeziehungen dadurch, daß sie irreversibel ist. Die einzige Chance benennt Jakobus: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Der Name der Barmherzigkeit aber ist der des Geistes.
Die Folgen der Ersetzung des Begriffs der Gerechtigkeit durch den der Bewährung, der ihn in einen autoritären Grund verpflanzt, läßt sich an dem Satz Horkheimers prüfen: Ein Richter, der in einen Angeklagten nicht mehr sich hineinversetzen kann, kann kein gerechtes Urteil mehr fällen. Wer den Begriff der Gerechtigkeit durch den der Bewährung ersetzt, begibt sich der Möglichkeit der Rechtskritik (die zu den zentralen Gegenständen der Prophetie gehört). Er kann Recht und Gerechtigkeit (Links und Rechts) nicht mehr unterscheiden.
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