Die Vorstellung einer homogenen Zeit unterliegt in der Tat der Form der inneren Anschauung: Sie ist das Produkt der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit. In ihre Vorgeschichte gehören die Auguren, die Vogelschau, die Orakel: die Mechanismen der Minimierung des Entscheidungsdrucks und der Schuldvermeidung, die dann in der Form des Inertialsystems sich verselbständigen und die Objektivität insgesamt verhexen (Zusammenhang mit Geld und Bekenntnis). In der Zeit gibt es eigentlich nur Zukunft und Vergangenheit, keine Gegenwart; der Raum, die Form der Gleichzeitigkeit, in dessen Richtungen Zukunft und Vergangenheit als neutralisierte Momente übergangslos aufeinander sich beziehen, ist das erinnerungslose Denkmal der verdrängten, zerstörten Gegenwart. Die Verräumlichung der Zeit (die Vorstellung der homogenen Zeit) verzeitlicht den Raum und verinnerlicht (vergesellschaftet) die Objektwelt. Aber Zukunft und Vergangenheit lassen sich nicht gänzlich neutralisieren: Ein Stück Erinnerung ist aufbewahrt im metaphorischen Gebrauch der räumlichen Beziehungen: in den Beziehungen von vorn und hinten, rechts und links sowie oben und unten. Der Anfang der Neutralisierung liegt in der Beziehung von rechts und links (Gericht und Gnade).
Kohl und der Empörungsgenuß: Der Exkulpationsbedarf, den der Zustand der Welt heute erzeugt, scheint nur noch mit Hilfe des Instruments der projektiven Empörung befriedigt werden zu können.
Zum Fall Vücking: Was wäre, wenn
– hinter Barschel nicht nur Stoltenberg, sondern auch Kohl gestanden hätte, der „Selbstmord“ Barschels demnach auch in Kohls Interesse gewesen wäre;
– war nicht der Mauss, an den keine polizeiliche oder staatsanwaltliche Ermittlung herankommt, am gleichen Tag in einem Hotel abgestiegen neben dem, in dem Barschel zu Tode gekommen ist;
– gibt es nicht strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Selbstmorden in Stammheim und dem Barschels?
Lyotard hat einmal anhand von Auschwitz auf das Problem des vollkommenen Verbrechens hingewiesen: eines Verbrechens, das nicht mehr nachweisbar ist, weil auch die Zeugen beseitigt worden sind. Und ist nicht seit den Nazis das Ungeheuerliche eines Verbrechens ein wirksamer Schutz gegen seine Aufdeckung: Von einer bestimmten Grenze an an kann man eine Untat gefahrlos als Greuelpropaganda, als Produkt einer krankhaft paranoiden Phantasie, leugnen. Taten, die so schlimm sind, daß man jeden Verdacht mit Empörung zurückweisen kann, sind per se unsichtbar: so als wären sie nicht geschehen. Aus welchem Grund ist Kohl fürs politische Kabarett nicht mehr greifbar? Ist es ein Zufall, daß man der Umgebung Kohls (seinem Kabinett, aber auch der Spitze der CDU, und jetzt auch der F.D.P.) mittlerweile „alles zutraut“; und ist das nicht sogar eines ihrer unangreifbaren Qualitätsmerkmale: so sind die Wähler überzeugt, daß sie von Leuten regiert werden, die der Schlechtigkeit der Welt gewachsen sind; sie sind skrupellos, aber sie vermitteln den Regierten zugleich den Eindruck der Unschuld (wer sich erwischen läßt, macht denen, die er vertritt, unerträgliche Schuldgefühle und muß als Sündenbock geopfert werden).
Zur SPD: War nicht Brand ein Beispiel für das politische Spiel der CDU, ihre Skurpellosigkeit, die dann von seinen innerparteilichen Konkurrenten nur zu gern mit genutzt worden ist: Kontinuität der Selbstkorrumpierung der SPD seit Ebert, Noske, Scheidemann. Passen nicht Engholm und Scharping (diese Verkörperungen der Unschuld, die, in die Pflicht genommen, dann auch bereit sind, die Dreckarbeit derer zu machen, die sie genau dafür verachten) aufs genaueste in diese Tradtion?
Ist nicht schlimmer noch als die Opferfalle die Unschuldsfalle? Gehört nicht die dogmatisch-sakramentale Verdinglichung des Christentums zu den Konstituentien der Unschuldsfalle? – War nicht der christliche Himmel die Verkörperung der vergangenen Zukunft; einer Zukunft, die nicht restlos vergangen war, sondern eines Tages, zusammen mit der Auferstehung aller Toten, triumphal sich enthüllen würde?
Ist nicht der Objektbegriff selber diese Unschuldsfalle, und ist nicht Kohl das reine Objekt (ein Genie nur in der Handhabung des Schuldverschubsystems)?
Kohl: das schwarze Loch, das diese Republik einmal erinnerungslos aufsaugen wird (die Rache für Auschwitz).
Zur Funktion des Verfassungsgerichts heute: Wenn das Bundes-Verfassungsgericht heute selber nicht mehr den nötigen Takt aufbringt, die Grenze zu den anderen Verfassungsorganen aufs genaueste zu beachten, wenn es der Verführung nicht widerstehen kann und bereit ist, Ersatz-Regierung und Ersatz-Legislative zu werden, so trägt dieser Mißbrauch der eigenen Kompetenzen entschieden mit dazu bei, die politischen Institutionen dieses Landes insgesamt unglaubwürdig zu machen. Dieses Gericht ist selber die Verfassungskrise, deren Vermeidung seine erste Aufgabe wäre. Und das Schlimmste ist: gegen diese Krise gibt es kein rechtsstaatliches Mittel mehr.
Die genaue Bestimmung des Hegelschen Begriffs der List der Vernunft würde nicht nur fürs Verständnis der Hegelschen Philosophie, sondern für das der Aktualität heute eine der wichtigsten Hilfen sein. Insbesondere Hegels Hinweis auf das Moment der List in jeglicher Technik (im Begriff der „Maschine“) könnte Günter Anders‘ Technik-Kritik in eine andere Perspektive rücken: Anders‘ These, daß, was machbar ist, auch die Tendenz in sich trägt, gemacht werden zu müssen, gilt dann nicht nur für den technischen Fortschritt der Naturbeherrschung, sondern auch für den der Herrschaft und der Macht in der Gesellschaft: für den Gesamtbereich der Ökonomie und der Politik, wo diese Tendenzen sehr viel direkter und sehr viel zwanghafter wirksam sind.
Sind nicht in der deutschen Sprache die Prä- und Suffixe aus dem Kontext der grammatischen Struktur der Sprache, aus dem Kontext der Flexionen, herausgenommen und übertragen worden in den Bereich der Anpassung der Sprache an räumlich-technische Funktionen: ans Inertialsystem? In diesem Zusammenhang wird die Ausbildung der bestimmten Artikel (in die die Deklinationen sich verlagert haben) der Großschreibung, zusammen mit der Ausbildung der Hilfszeitverben (in die das System der Konjugationen verlagert wurde) verständlich. Die sehr viel flexiblere Funktion der Nebensätze wäre ohne diese Änderungen nicht möglich gewesen. Was im Griechischen und im Lateinischen noch durch hierarchische Begriffskonstruktionen repräsentiert wird, erscheint im Deutschen in einem hierarchischen System von Nebensätzen. Mit der Anschmiegung ans Inertialsystem hat die deutsche Sprache auch die Mittel hervorgebracht, es zu reflektieren.
Von den sieben Diakonen in der Apostelgeschichte werden nur Stephanus (der Erzmärtyrer) und Philippus (der den Eunuchen der äthiopischen Königin bekehrt, später als Vater der vier jungfräulichen Töchter, die Prophetinnen waren, genannt) weiterhin erwähnt. Beim Nikolaus ist unklar, ob er mit den Nikolaiten der Apokalypse etwas zu tun hat. Gibt es nicht sowohl für die Apostel als auch für die Diakone eine feminine Wurzel?
Hängt der Taumelbecher, das Trinken aus dem Kelch des göttlichen Zorns, mit der projektiven Empörung, der Ablenkung des göttlichen Zorns auf andere, zusammen? Er ist ein Teil des Schuldverschubsystems, das in die Philosophie durch den Welt- und Naturbegriff, durch den Begriff der Materie, schließlich durch die Form des begrifflichen Denkens selber, als ein konstitutives Moment mit eingeht. Der Taumelbecher ist ein Symbol des Herrendenkens, weil es dieses ohne das projektive Element (das nur durch Reflexion aufzulösen ist) nicht gibt. Aber was hat es dann mit dem Kelch, den Jesus trinken muß, auf sich?
20.06.93
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