20.10.96

Der Autor der „Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter“ glaubt offensichtlich an die Magie des Urteils: an die Möglichkeit seiner Vollstreckung auch ohne die Hilfe der staatlichen Gewalt.
Die politische Justiz ist ein Instrument zur Verhinderung der Reflexion. Aber wird dieses Instrument nicht unwirksam durch Reflexion, ist nicht die politische Justiz das Instrument ihrer eigenen Selbsterhaltung?
Die politische Justiz ist die Usurpation des Jüngsten Gerichts, darin steht es in der Tradition der „Endlösung der Judenfrage“. Und das Feinddenken bleibt im Banne des Weltgerichts: Durch die Unfähigkeit der Selbstreflexion und das Unvermögen, den Bann zu brechen, dem diese Justiz allein ihre Gewalt verdankt.
Ist nicht die Zeit der Symbole, und d.h. die Zeit der doxa, der Herrlichkeits-Theologie, vorbei, und kommt nicht heute alles auf die Erkenntnis des Namens an? Das Ende der Symbol-Geschichte ist das Ende des Fundamentalismus, der Beginn der Geschichte des Namens (der „Erfüllung des Worts“ als Aufhebung der Geschichte der „Erfüllung der Schrift“). Hängt diese Geschichte nicht mit den Utopien der Prophetie zusammen:
– daß am Ende keiner den andern mehr belehren wird, weil alle Gott erkennen,
– daß das steinerne Herz durch ein fleischernes Herz ersetzt wird, und
– daß der Geist die Erde erfüllen wird wie die Wasser den Meeresboden bedecken?
Haben nicht die Finsternis über dem Abgrund und der Geist über den Wassern etwas mit dem Gericht und der Barmherzigkeit zu tun?
Heute setzt der Zustand der Welt alle unter Rechtfertigungszwang, und genau das verhindert eine Welt-Erkenntnis, die diesen Namen verdienen würde.
Hat nicht die theologische Lehre von der Jungfrauengeburt nicht etwas mit der Berufung der Propheten, der „Berufung im Mutterschoß“, zu tun, und erinnert dieser Mutterschoß nicht an den hebräischen Namen der Barmherzigkeit? Und hat die Jungfrauengeburt (als Geburt ohne männliche Zeugung, ohne irdische Vaterschaft) etwas mit dem „Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht“ zu tun? Und hängt vielleicht die merkwürdige Rolle der Väter in den Evangelien im Kontext mit dem in den Evangelien dominanten Gottesnamen Vater mit der Logik dieses theologischen Konstrukts zusammen? Wurde nicht das Gericht auf den Sohn übertragen, während der Vater ausschließlich die Barmherzigkeit noch repräsentiert („Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“), und soweit dieser Vater noch das Gericht repräsentiert, ist es nicht schon das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht (das noch aussteht)?
Gründet der Unterschied zwischen der lateinischen und der griechischen (der prädogmatischen und der postdogmatischen) Sprache nicht in der caesarisch vermittelten neuen Gestalt des Zuschauers und in dem neuen Begriff der Öffentlichkeit, die in der römischen Arenen eingeübt wurden (in denen nicht mehr die Heroen des Mythos, sondern Gladiatoren und Raubtiere die für die Neudefinition des Zuschauers grundlegenden Identifikationsmodelle lieferten)? Wird hier nicht auch die Metamorphose der lateinischen gegenüber der griechischen Theologie, die eine vollständige Neukonstituierung war, sinnlich greifbar, insbesondere der neue Stellenwert und die neue Funktion der Opfertheologie?


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