20.11.91

Zur Bemerkung eines Kirchenhistorikers (zum Verhältnis der Kirchen zum Nationalsozialismus und zur Shoah), es gehöre zu den Verführungen der Nachgeborenen, aufgrund der genaueren Kenntnisse besser über die Vergangenheit urteilen zu können als der Zeitgenosse.
– Der apologetische (exkulpierende) Gebrauch dieses Arguments ist unzulässig: Wenn die Fakten, die Grundlage des Urteils des Nachgeborenen sind, stimmen, wenn sie nicht zu leugnen sind, dann kann man sie nicht durch den Hinweis auf den Vorteil, den der Nachgeborene aus seiner späten Geburt zieht, aus der Welt schaffen.
– Die Wahrheit dieses Arguments liegt an anderer Stelle:
. Die Vorstellung, daß der Nachgeborene aus seiner späten Geburt einen Vorteil ziehen kann, hat christliche Ursprünge, die im übrigen mit dem christlichen Antijudaismus (der Quelle des Antisemitismus) zusammenhängen: Das Bekenntnis ist grundsätzlich das Bekenntnis des Nachgeborenen, der sich von der Vergangenheit distanziert, sie in die Perspektive der Objektivität rückt: der so glaubt, die Vergangenheit (insbesondere die jüdische Vergangenheit des Christentums) „überwunden“ zu haben. Der kirchliche Antijudaismus ist die Projektionsfolie, auf die das kirchliche Dogma, der zum Bekenntnis umgeformte Glaube, aufgetragen wird, und die dem Christen den Sündenbock liefert und die eigene Erinnerungsarbeit erspart (Ursprung der Heuchelei, die sich selbst nicht mehr durchschaut, deshalb ihre Unwahrheit als Aggression nach draußen kehren muß).
. Die projektive Nutzung des besseren Wissensstandes der späten Geburt ist in der Weigerung begründet, das Nachfolgegebot zu erfüllen; sie ist ein Mittel, die exkulpierende Kraft des moralischen Urteils (der Empörung) sich zuzueignen, ohne dem Schmerz der Gottesfurcht sich zu stellen. Aber die Vorstellung, daß die Verurteilung fremder Schuld den Urteilenden in den Stand der Unschuld versetzt, ist schlimmste Magie (und der Grund fürs Überleben der Magie im christlichen Bekenntnis).
Auch die Nachgeborenen stehen im Hinblick auf Auschwitz auf der Täterseite; oder: Auschwitz ist nicht vergangen, seine Voraussetzungen überleben im Bewußtsein und Unbewußtsein der Überlebenden; mitschuldig ist jeder, der diese Erbschuld nicht als Teil seiner selbst begreift, für den er einstehen muß.


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