20.12.95

„Israeliten und Israelis bekennen sich als Abendländer. Was wollen sie vom Abendland bewahren.“ (Levinas: Der Fall Spinoza, in Schwierige Freiheit, S. 104) Ist Israel (im Sinne Levinas‘) ein christlicher Staat? – Das könnte die These belegen, daß der Zionismus den Antisemitismus beerbte: Sehen nicht die Dämonen wieder einmal genauer als die Anderen? Erkennen die zu Antizionisten mutierten Antisemiten in Israel wieder einmal das, was sie in sich selber hassen, werden sie hier endgültig als „Christen“, als konsequente Vertreter der Bekenntnislogik, erkennbar?
„Unsere Sympathie für das Christentum … bleibt freundschaftlich und brüderlich. Sie kann nicht väterlich werden.“ (ebd. S. 108) Hängt das mit dem merkwürdigen Phänomen in den Evangelien zusammen, daß das Verschwinden Josephs, das Vaters Jesu aus den Texten, einhergeht mit dem Hervortreten der Vater-Hypostase, die dann wiederum den Namen, mit dem Gott selbst sich geoffenbart hat, verdrängt?
Solidarität ohne Komplizenschaft: Wer den Mord rechtfertigt, weiß nicht, was er tut. Die (nachträgliche) Rechtfertigung wird ihm unter der Hand zur Norm, deren einziger Zweck es zu sein scheint, das Grauen und den Schrecken zu verdrängen, die mit dem Töten verbunden sind; das gleiche Grauen und den gleichen Schrecken, die das eigentliche Erbe des Nationalsozialismus sind, und die durch jede Norm, durch die, die das Töten rechtfertigt, wie auch durch die, die es verurteilt, verdrängt wird. Dem Strafrecht zufolge wird nicht die Mord, sondern der Mörder bestraft; der Mord ist kein Tat-, sondern ein Täterdelikt. Die Tat fällt nicht unters Recht, weil sie ein Teil der Gewalt ist, die das Recht begründet; der Mord ist ein Täterdelikt, weil der Staat im Mörder seinesgleichen erkennt. Was am Mord verurteilt wird, ist nicht die Verletzung des Gebots: Du sollst nicht töten, denn die würde die Grundlagen des Staates, das Recht ebenso wie das Militär (das seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht alle zu Komplizen zu machen versucht), mit verurteilen. Im Mörder verurteilt der Staat nicht den Mord, sondern die Hybris dessen, der sich ein Recht anmaßt, das nach dem Selbstverständnis des Staates nur ihm zusteht. Deshalb darf zur Begründung der Strafbarkeit des Mordes nur auf den Schaden, den er dem Opfer zufügt, Bezug genommen werden, nicht aber darauf, was einer, der einen anderen tötet, sich selbst antut. Die Befriedigung der Rachegefühle (die zu seinen eigenen Existenzbedingungen gehört) ist dem Staat wichtiger als deren Auflösung, die allein in der Lage wäre, dem Gewaltpotential, das die gemeinsame Grundlage des Staats und der Verbrechen ist, ein Ende zu machen.
Jedes Urteil ist inhuman, das unfähig ist, sich in den Angeklagten hineinzuversetzen. Wird diese Unfähigkeit zum Prinzip erhoben, wird der Angeklagte zum Feind (wie generell im Bereich der Staatsschutzverfahren heute).
Solidarität ohne Komplizenschaft kündigt auch das Einverständnis mit der Philosophie. Der theologische Satz, daß nur Gott ins Herz der Menschen sieht, bezeichnet genau die Stelle, an der der Staat blind ist, und an der sich alle blind machen, die sich – sei es als seine Anwälte, sei es als „Feinde“ des Staates – mit ihm gemein machen. Es gehört zur Tradition der deutschen Staatsmetaphysik, daß hier der öffentliche Ankläger Staatsanwalt heißt. Er vertritt die Anklage nicht als Person, die ihr Tun öffentlich zu verantworten hat, sondern als Anwalt des Staates, der ihn legitimiert und exkulpiert, im genauesten (nämlich im theologischen) Sinne „verantwortungslos“ macht.
Der Staatsfeind ist eine contradictio in adjecto: der Staat ist kein Wesen, dem man Feind sein könnte: man kann ihn weder lieben noch hassen (beide Verhaltensweisen wären pathologisch). Aber ist nicht der Staat das pathologische Wesen, das Feinde produziert (und, indem er in seine Bürger das Feinddenken induziert, sie beherrschbar macht)?
Ohne Sport und ohne Stofftiere ist der Staat nicht mehr zu ertragen, aber mit ihnen wird er unerträglich.
Wer sich gegen das „Herz“ der Menschen blind macht, kann zwischen einem seelsorglichen und einem konspirativen Gespräch nicht mehr unterscheiden (das Feinddenken macht ihn paranoid).
Das Grundgesetz enthielt auch den Versuch, einige Vorkehrungen zu treffen, die Möglichkeiten eröffnen sollten, dem Zwang der Komplizenschaft sich zu entziehen. Dazu gehörten das Recht auf Wehrdienstverweigerung (gegen die Komplizenschaft mit dem Recht zu töten), das Recht auf Widerstand (gegen die Komplizenschaft mit dem Mißbrauch der Gewalt im eigenen Land) und das Asylrecht (gegen die Komplizenschaft mit den Unrechtsstaaten draußen).


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