21.01.93

Das Problem des Patriarchats ist ein Problem der Geschichte der Naturbeherrschung und seiner gesellschaftlichen Organisation: der Politik. Das Verhängnis des Christentums war es, daß es die symbolische Kritik dieser Geschichte privatisiert, als „realistische“ Sexualmoral mißverstanden hat.
Drewermann verteufelt die Hilflosigkeit, was nicht dadurch besser wird, daß diese Hilflosigkeit der Kirche selbstverschuldet ist. Hilflosigkeit ist nur durch die Erweckung der Kraft zu helfen zu „überwinden“. Wer diese Kraft verloren hat, erfährt sich selbst als hilfsbedürftig, die ganze Welt als gnadenlos, als potentiellen Feind. Es ist diese Hilfsbedürftigkeit, die die Kraft zu helfen in sich aufsaugt wie das schwarze Loch jegliche „Strahlung“: das Licht und seine Derivate. Und es ist die gleiche Hilflosigkeit, die aus sich selber die paranoide Empfindlichtkeit erzeugt, die das Gegenteil der Sensibilität ist.
Der Satz: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebst auf Erden“, wird durch seine bloß private Interpretation verfälscht: Er enthält generell den Hinweis auf die Vergangenheit und die Verpflichtung zur Erinnerungsarbeit, die den Bann der Welt und den der Natur sprengt. Ein anderer Ausdruck für diese Erinnerungsarbeit ist die Idee der Auferstehung der Toten.
Der Historismus ist ein Vergangenheits-Kolonialismus, wobei das Herrschaftsmoment in diesem Kolonialismus ein wechselseitiges ist: Indem wir glauben, die Vergangenheit zu beherrschen, beherrscht sie uns. Der Objektivationsprozeß, der im Historismus auch die Vergangenheit ergreift, ist als ein Moment der Erkenntnis der Vergangenheit unabdingbar und notwendig; aber auch hier erweist sich die Idee der Umkehr als gnoseologische Kategorie: Hier heißt Umkehr: Auferstehung der Toten.
Müßte nicht der Paulus-Satz, wonach die ganze Kreatur seufzt und in Wehen liegt, durch seine Anwendung auf die Vergangenheit auf die Toten bezogen und so radikalisiert werden?
Die Vorstellung von einem jenseitigen Himmel, getrennt von dem endzeitlichen Gottesreich und gleichsam zeitlich vor ihm, trennt die Unsterblichkeit der Seele von der Auferstehung der Toten; sie stellt die Idee der Auferstehung der Toten durch ihre Vertagung ad calendas graecas gleichsam still. Thomas von Aquin hat es noch gewußt, daß das Schicksal der Seele vor der Auferstehung (nach der Trennung vom Leib und im Zustand dieser Trennung) kein glückliches ist, daß sie an der Trennung leidet und Erfüllung erst in der Wiedervereinigung mit dem Leibe findet. Aber ist nicht diese Vorstellung insgesamt falsch, insbesondere nachdem der Himmel im historischen Aufklärungsprozeß aus dem räumlichen Oben verdrängt worden ist. Die Idee des Ewigen legt es ohnehin nahe, deren Beziehung zu Raum und Zeit, und damit auch zur Geschichte, neu und anders zu bestimmen: Der Himmel ist kein anderes Amerika, das jenseits des Ozeans liegt, aber der gleichen Zeit unterworfen ist, wie alle anderen Orte der Welt. Die Vorstellung, der Himmel sei nur ein anderer Ort, falle aber unter das gleiche Zeitkontinuum wie diese Welt, habe gleichsam eine zeitparallele Geschichte, ist der Grundfehler der kirchlich-theologischen Tradition. Das bloß Überzeitliche ist die verworfenste Gestalt des Zeitlichen und auf keinen Fall zu verwechseln mit dem Ewigen.
Die naturwissenschaftliche Aufklärung, deren Erkenntnisgesetz selber aus der Theologie stammt, hat die Theologie in eine Engführung (in ein „Nadelöhr“) gebracht, vor der sie heute zu kapitulieren scheint.
Ist es nicht heute fast unmöglich geworden, das Judentum als Christ aus der Sicht des Zuschauers zu betrachten? Die zwangsläufig daraus erwachsenden Rechtfertigungszwänge führen notwendig in neue Antisemitismen hinein. Kann es sein, daß hierbei der Israel-Tourismus eine nicht ganz ungefährliche Rolle spielt?
Wie wäre es, wenn man die drei regulativen Ideen Kants, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, ersetzen würde durch die drei theologischen Kategorien Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, d.h. durch objektive Ideen: Käme man damit nicht auch dem Problem der kantischen Philosophie näher. Sind nicht diese drei regulativen Ideen auf die Totalitätsbegriffe der kantischen Philosophie zu beziehen, auf Welt, Wissen und Natur, aus denen sie gleichsam durch Umkehr sich rekonstruieren lassen und deren Bann sie zugleich sprengen: Die Idee der Schöpfung sprengt den Bann des Weltbegriffs, die der Offenbarung den des Wissens und die der Erlösung (die die Idee der Auferstehung der Toten mit einschließt) den des Naturbegriffs.


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