Wenn Christus die Sünden der Welt nicht auf sich, sondern hin-weggenommen hat, dann darf die Kirche in der Tat keine öffentliche Reue zeigen (und dann wäre ihre Konfliktunfähigkeit, insbesondere die Unfähigkeit, mit den Häresien anders als durch Verurteilung sich auseinandersetzen, theologisch begründet). Aber eben damit, mit ihrer eigenen Exkulpierung, bürdet die Kirche dem vergöttlichten Jesus eine Last auf, die er zu tragen nicht in der Lage ist: ihre eigene Verdrängungslast. Die Unfähigkeit der Kirche zur öffentlichen Reue ist der Beweis ihrer Unerlöstheit (und der Grund ihrer Sprachlosigkeit).
Eine Welt, von der die Sünde hinweggenommen wäre, wäre damit schuldlos, erlöst. Und Weltkritik wäre nicht nur unbegründet, sondern Zweifel an der Erlösungstat Jesu: an seiner Göttlichkeit. Aber diese Vorstellung ist in einem entsetzlichen Maße irrational, mehr noch: irrationalisierend, verdummend, Grund der Verblendung, Keim und Kristallisationskern des blinden Flecks, zu dem mittlerweile, das Bewußtsein insgesamt verstellend, das Christentum zu werden droht.
Am christlichen Bekenntnis klebt mit dem Blut von Juden, Ketzern und Heiden seit den Anfängen des Pakts mit der Politik auch das der Armen. Zu reinigen ist es nur durch Erinnerungsarbeit (durch Reue, Umkehr: durch Herrschaftskritik, deren Adressat die nach der Vergesellschaftung vom Herrschaft das Subjekt selber ist).
Alle Häresien stehen im Banne des gleichen Weltbegriffs (des gegenständlichen Korrelats der Vergesellschaftung von Herrschaft), dessen Sanktionierung die Ursünde der Kirche war.
Wenn Rosenzweig die Sprache die „Morgengabe des Schöpfers an die Schöpfung“ genannt hat, so schließt das die Fähigkeit zur Schuldreflexion mit ein. Die Fähigkeit zur Schuldreflexion ist der Grund der Sprache, und durch sie zeichnet sich der Mensch vor aller übrigen Kreatur aus. Kirche ist die Gemeinschaft derer, die die Sünden der Welt auf sich nehmen: die Gemeinschaft der Schafe oder der Knechte Gottes.
Es ist das Schaf, das stumm ist (das stumm zur Schlachtbank geführt wird); erst durch die Übernahme der Sünden der Welt wird das stumme Schaf zum Logos, wird es der Sprache mächtig (und fähig, die Siegel zu lösen).
Das Gegenbild zum Kalb ist der Löwe, zum Lamm der Wolf, zum Kind die Schlange (die Natter).
Der Begriff der Welt bildet sich im Prozeß der Verinnerlichung der Schicksalsidee, und das Hegelsche Weltgericht ist der letzte Abkömmling und die letzte Erinnerung an den Mythos und die ihm zugrundeliegende Schicksalsidee.
Woher stammt die Legende, daß Petrus mit dem Kopf nach unten gekreuzigt wurde, und was drückt sich darin aus?
Das Opfer ohne Lehre (Benjamins Definition des Kapitalismus) ist der reine Vollzug, dessen Begriff nicht zufällig an den des Strafvollzugs erinnert, merkwürdigerweise aber trotzdem – oder gerade deswegen? – bei den „Eigentlichkeits“-Theologen so beliebt ist (Produkt der transzendentalen Logik, nachdem das kritische Moment darin gelöscht wurde: Ontologie als Isolationshaft im Gefängnis der apriorischen Objekt- und Urteilslogik).
Zum Problem der intentio recta: Verschlossen ist der intentio recta insbesondere die Idee einer Zukunft, die anders wäre als die Vergangenheit; sie trifft aus systemlogischen Gründen nur auf eine Zukunft, die wie die Vergangenheit sein wird. Deshalb heißt Umkehr Erinnerungsarbeit, und diese Erinnerungsarbeit hat es mit den sieben unreinen Geistern, von denen bis heute allein Maria Magdalena befreit wurde, mit den sieben Siegeln der Apokalypse, zu tun. Nur das Lamm, das die Sünden der Welt auf sich nimmt, kann die sieben Siegel lösen.
Die Vorstellung der homogenen Zeit beruht darauf, daß die Zukunft längst von der Vergangenheit (wie der Hase vom Igel) eingeholt, wenn nicht überholt ist.
Steckt nicht in dem prophetischen Wort, daß der Geist die Erde bedecken wird wie die Wasser den Meeresboden, die bereits aus der Schöpfungsgeschichte bekannte Beziehung von Geist und Wasser. Nach der Apokalypse wird am Ende das Meer nicht mehr sein. Ist nicht der Geist gleichsam die Aufzehrung des Wassers, Produkt der Übernahme der Sünden, und die Befreiung des Feuers („und ich wollte, es brennte schon“), das im Himmel (schamajim) durch die oberen Wasser gebunden ist?
Wenn man berücksichtigt, daß die von J.B. Metz (S. 18 u.ö.) angezogene Stelle aus 2 Kor nicht auf die Welt, sondern auf die göttlichen Verheißungen (die Thora) sich bezieht, dann stützt das die der Metzschen genau entgegengesetzte These, daß das Christentum die jüdische Antwort auf eine neue Situation ist, daß die göttlichen Verheißungen auch mit dem Ursprung des Weltbegriffs und der ihm korrespondierenden gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit (in denen der Mythos als verinnerlichter und vergegenständlichter sich fortsetzt) nicht aufgehoben sind, und daß Er genau dieses Weiterbestehen der jüdischen Tradition, der Thora, garantiert (durch die Übernahme der Sünden der Welt).
Der Behemoth ist keines der apokalyptischen Tiere. Er ist als grasfressende Wassertier eher das Symbol der unerlösten Menschheit und Welt.
Wieviele werden Lehrer, weil sie hoffen, auf diesem Wege die Traumata ihres Schülerlebens aufarbeiten zu können: Aber, wie es scheint, geht das nur zu Lasten der Schüler, deren Lehrer sie dann werden, und auf die sie ihre eigenen Traumata überwälzen. Gilt dieser Satz nicht auch für die Priester, für die gesamte kirchliche Hierarchie?
Was veranlaßt die Leute, ihren Besuchern Fotos aus ihrem letzten Urlaub zu zeigen? Steckt dahinter nicht eigentlich das Bewußtsein, daß der Urlaub doch keiner war, sie es aber nicht wahrhaben wollen, deshalb Fotos machen, um damit ihre Besucher zu erpressen, die dann als Spätzeugen den „geglückten Urlaub“ doch noch bestätigen sollen?
Gilt nicht heute das vierte Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, nur noch durch seine Umkehrung hindurch, wobei es selbst jedoch gültig bleibt. Und wie steht’s dann mit dem achten Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten? Ist hier die doppelte Umkehrung durch den Weltbegriff bedingt, durch das Verhältnis des Aufdeckens der Blöße (der gegenwärtigen Gestalt des Weltgerichts, das die Medien vollstrecken) zur Übernahme der Sünden der Welt?
21.10.92
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