Die Idee der Wahrheit wurde verhext, als das Gebot „Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten“ reduziert wurde auf den Satz „Du sollst nicht lügen“. Verdrängt wurde, daß in die Idee der Wahrheit ein gesellschaftliches Moment mit hereingehört: die Reflexion darauf, was das Wort dem Nächsten antut. Verdrängt aber wurde damit das herrschaftskritische Moment der Wahrheit, es wurde ersetzt durch das Einverständnis mit der Welt, das schon mit der frühkindlichen Einübung des „Du sollst nicht lügen“ die Lüge der Eltern und schließlich der Welt unduchdringlich und undurchschaubar macht. Das „Du sollst nicht lügen“ ist das nur von außen zu öffnende Schloß an der Zelle der Isolationshaft aller. Es gehört in den gleichen Zusammenhang, in dem die Definition der Wahrheit von der „adäquatio intellectus et rei“ in die „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“ transformiert wurde.
Liegt nicht die Katastrophe der Verkürzung des achten Gebots auf das „Du sollst nicht lügen“ darin, daß die Idee der Wahrheit ins subjektive Erlebnis zurückgestaut wird, wo sie keinen Boden für ihre Wurzeln findet? Das unreflektierte Erlebnis ist für das Wort der steinerne Grund.
In einer Welt, in der es Religion nur noch als Religion für andere zu geben scheint, hilft es nichts, die Religion nur hinter sich zu lassen: Das verhexende Prinzip steckt nicht in der Religion, sondern in der Welt.
21.9.1994
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