„Zorn ist ein Verlangen nach Rache.“ (Katechismus, Nr. 2302) Diese Definition, die auch durch das nachfolgende Thomas-Zitat nicht besser wird, rührt an den Kern der theologischen Unkenntnis und der Dummheit dieses Katechismus. Wenn sie stimmen würde, dürfte es keinen göttlichen Zorn geben, es sei denn, man unterstellte auch Gott ein Rachebedürfnis (das dann die projektive Abfuhr durch den Antisemitismus nach sich zieht: z.B. durch die Unterscheidung des christlichen Liebesgottes vom jüdischen Rachegott). Die deutsche Sprache unterscheidet Wut und Zorn; und die Katechismus-Definition trifft die Wut, nicht den Zorn. Aber ist nicht die Unfähigkeit, beide zu unterscheiden, beide unterschiedslos auf das „Verlangen nach Rache“ zu beziehen, eine zwangsläufige Folge eines theologischen Konzepts, in dem Gottesfurcht und Herrenfurcht, Umkehr und Umdenken sowie Nachfolge und Unterwerfung unter jegliche Autorität nicht mehr sich unterscheiden lassen, in dem m.a.W. der Gegenstandsbereich, auf den der Begriff des Zorns sich bezieht: die Verletzung der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, längst aus dem Blickfeld geraten ist? Hier gibt es keine Möglichkeit mehr, den göttlichen Zorn und die teuflische Wut (einen teuflischen Zorn gibt es nicht) zu unterscheiden. Zu prüfen wäre insbesondere der Begriff des Rachebedürfnisses selber (der eigentliche Existenzgrund des Rechts, der Strafe und der gesellschaftlichen Einrichtungen des Strafvollzugs): Bezeichnet er nicht das subjektive Korrelat des Schuldverschubsystems, steckt nicht in jedem Rachebedürfnis ein projektives Element, die lustvolle Verschiebung eigener Schuld auf andere? Ist nicht in jedem Objekt eines Rachebedürfnisses auch etwas vom Sündenbock? Dann aber wäre nach der Katechismus-Definition der Begriff des Zorns auf Gott nicht anwendbar, dann wäre der Begriff des gerechten Zorns gegenstandslos. Aber ist nicht die kirchliche Theologie heute dabei, mit dem theologischen Begriff des Zorns die Theologie selbst gegenstandslos zu machen?
Auschwitz hat in Deutschland (und in der Kirche?) stärkere Rachebedürfnisse ausgelöst als bei den Juden (ist nicht die kirchliche Position in der heutigen Abtreibungsdiskussion, die nicht selten bei den kirchlichen Hardlinern mit Auschwitz-Assoziationen sich verbindet, eine Form der projektiven Abfuhr dieses Rachebedürfnisses: der ihr zugrunde liegenden Mordlust, die man dann in die Frauen hineinprojiziert?).
Wenn der Zorn ein Verlangen nach Rache ist, dann ist die Welt ein Geschöpf des göttlichen Zorns und der Kreuzestod der bis heute mißlungene Versuch, diesen Zorn zu besänftigen (die Welt zu „entsühnen“). Aber diesen Anschein erweckt ja nun in der Tat die christliche Theologie (aus diesem finsteren Konstrukt hat die Gnosis einmal versucht, die Konsequenzen zu ziehen). Gehört nicht in diesen Zusammenhang nicht auch der Satz: Extra ecclesiam nulla salus, der die Konsequenz mit einschließt, daß es nur um die Rettung der einzelnen aus der bösen Welt, nicht aber um die Rettung der Welt selber geht, und daß, wenn es Heil nur in der Kirche gibt, alles, was draußen ist, verworfen ist.
Der Gott, der den Tod seines eigenen Sohns als Sühne fordert: nimmt der nicht seine eigene Selbstoffenbarung im brennenden Dornbusch zurück, ist das nicht die Rücknahme des JHWH (in der Geschichte der Bindung Isaaks war es der Engel der Elohim, der das Opfer forderte, und der Engel JHWH’s, der die Forderung zurücknahm)?
Merkwürdige Stelle bei Kant (Kr.d.r.V., S.403f), wo er in der Verlängerung einer geraden Linie ins Unendliche die gleiche Logik erkennt wie bei dem Elternpaar, von dem man „in absteigender Linie der Zeugung ohne Ende fortgehen“ könne. Liegt hier, in der Beziehung der endlos sich fortzeugenden Geraden zu den endlos sich fortzeugenden Gattungen in der Natur, nicht ein Hinweis auf den Ursprung des christlichen Sexualtabus und auf sein anderes, verdrängtes Objekt: in der Verdrängung des Zeugungselements bei der Mathematisierung der Raumes (in der Abstraktion vom Licht, das beides, das Sehen und das Gesehenwerden, in sich enthält, und darin den Ursprung sowohl des Lebens wie des Angesichts; vgl. den biblischen Zusammenhang des Gesehenwerdens mit der Scham: „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“).
Auch eine Bemerkung zur feministischen Theologie: Die Vorstellung einer unendliche Ausdehnung des Raumes steht unter dem Zwang der Verdrängung des Gesehenwerdens, der Scham, die dann im Begriff der trägen Masse (und im Realsymbol des Blutes?) wiederkehrt: Ist die mathematische Raumvorstellung nicht (wie in anderer Hinsicht das Geld und das Bekenntnis) ein Realsymbol der Vergewaltigung (und der Onanie)? Liegt der Anfang hierzu in der geschlechtsspezifischen Trennung der Heiligen nach der Märtyrerzeit in Confessores und Virgines? Und liegt hier nicht ein Hinweis auf den Zusammenhang der Hexenverfolgung (einschließlich der damit verbundenen Mythen – vgl. Carlo Ginzburg: Hexensabbat) mit dem Ursprung der naturwissenschaftlichen Aufklärung?
Meistveraltet ist die jeweils jüngst vergangene Mode. Ist nicht auch das ein Teil des Schuldverschubsystems, seiner Mikrologik: Indem das gerade Vergangene nur durch den Zeitablauf reflexionsfähig wird, erzeugt es nur den Zwang zur Verdrängung; dieser das Ich bedrängenden Scham- und Schuldflut ist unser Reflexionsvermögen nicht gewachsen. Zu verarbeiten ist sie nur über die projektive Schuldverschiebung. – Anwendung auf die Beziehung zur Vergangenheit in Deutschland.
Liegt hier nicht auch der Schlüssel zum kritischen Verständnis der Habermasschen Verarbeitung der Kritischen Theorie? War nicht der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ schon eine affirmative, neutralisierende Umformung des Begriffs der Kulturindustrie? Unter diesem Neutralisierungsdruck ist die Kommunikations- und Diskurstheorie entstanden (die letzte Fluchtburg vor der andringenden Notwendigkeit der Restituierung der benennenden Kraft der Sprache). Ist nicht das Reale in der Habermasschen Intersubjektivität verdampft (unter dem Hitzedruck der rekursiven und selbstreferentiellen Logik der Intersubjektivität)?
Der Geist Gottes brütend über den Wassern ist bei Heidegger zur Mordlust ausbrütenden Daseins-Philosophie verkommen (Rückfall in die gleiche Finsternis über dem Abgrund, die Habermas jetzt als Neue Unübersichtlichkeit überfällt).
Der Weltbegriff bedarf der quasitheologischen Idee der Entsühnung (er bedarf der Opfertheologie), und das deshalb, weil nur auf diesem Wege die projektive Verarbeitung der Erfahrung (der historische Objektivationsprozeß), die der Weltbegriff absichert, möglich gewesen ist. Die projektive Verarbeitung selber lief unter dem Titel Naturerkenntnis.
Wie verhalten sich eigentlich die bestimmten Artikel im Deutschen, in die die Deklinationsformen sich verlagert haben, zu den Nomen selber (den deutschen „Substantiven“), an denen die Deklinationen nur noch fragmentarisch an Endungsresten erkennbar sind? Die ehemaligen Suffixe sind zusammengeschrumpft und nur noch ein verhallendes Echo der die Deklination repräsentierenden bestimmten Artikel. Welcher Unterschied liegt zwischen der Deklination des Nomens Deutscher (der D’e, des D’en, dem D’en, den D’en) und der des Nomens Wald (der W, des W’es, dem W’e, den W)? In dem einen Fall drücken sich alle Beugungen durch das -en aus, in dem anderen stehen neben der Einheit des Nominativ und Akkusativ die getrennten Formen des Genitiv und Dativ. Sind in den femininen Nomen die Deklinationen insgesamt endungslos (die Frau, der F, der F, die F)? Aber sind hier die Deklinationen nicht ohnehin nur Varianten der fem./masc. Artikelbildungen? Und sie die Wald-Endungen nicht versteckte Neutrums-Endungen (vgl. das Haus, des H’es, dem H’e, das H)? Kann es sein, daß im Deutschen die Flexionen (die Deklinationen) durch genus-spezifische Elemente überlagert werden, gleichsam eine zweite Reflexionsstufe zum Ausdruck bringen? Wenn ja, welche Sprachlogik verbirgt sich dahinter? Auffällig ist eine merkwürdige Reflexions-Beziehung des Femininum zum Maskulinen (der maskuline Artikel erscheint als Genitiv- und Dativ-Artikel im Femininum, und die feminine Deklination des Artikels ist zugleich das Modell der allgemeinen Deklination im Plural) wie des Maskulinum zum Neutrum. Gibt es einen sprachlogischen Zusammenhang mit der Ersetzung der Suffixbildung durch Bildung mit Hilfe von Hilfszeitverben bei den Konjugationen (und der Ersetzung der hierarchischen Begriffs- durch hierarchische Satzkonstruktionen) und schließlich mit dem exzessiven Gebrauch von Prä- und Suffixen im Deutschen?
Wie verhält sich eigentlich das Wort vom Weizenkorn, das sterben muß, um hundertfältige Frucht zu bringen, zu dem Gleichnis vom Weizen, der unter die Dornen, auf felsigen und auf fruchtbaren Grund fällt? Sind die Dornen und der Felsen nicht Symbole der Hypostasierung des Todes (die in die Theologie durch den affirmativen Gebrauch des Weltbegriffs hergekommen sind, und in denen sich die entscheidenden Aspekte dieses Weltbegriffs, seine Subjekt- und Objektfunktion, ausdrücken)? Grund ist die Weigerung, das Nachfolge-Gebot in die Grundlagen der Theologie (der Gotteserkenntnis) mit hereinzunehmen. Aber Gott will nicht, daß sein Wort leer zu ihm zurückkehrt.
Ist nicht die Versteinerung (der Fels) Grund und Folge der nicht übernommenen Arglosigkeit (der Unfähigkeit, die Klugheit der Schlange ohne projektive Entstellung, ohne der Paranoia zu verfallen, zu übernehmen)? Ist sie nicht eine Folge der bis heute unaufgelösten Paranoia im Kern der Welt?
Zum Brief an Metz: Das „Zeit ist’s“ verweist auf den Aktualitätskern der theologischen Erkenntnis, auf das, was die Mystiker das „nunc stans“ (und Ernst Bloch das „Dunkel des gelebten Augenblicks“) nannten. Dieser Aktualitätskern ist die bis heute ungehobene Wahrheit des Sterns der Erlösung.
Ist nicht die Kirchengeschichte der paulinischen Theologie die Geschichte des kirchlichen Kleinglaubens, und hat nicht die lutherische Rechtsfertigungslehre diesen Kleinglauben auf den Begriff gebracht? Aber Jesus ist der, der dem Sturm und den Wellen des Meeres gebietet, und ist uns nicht ein Teil dieser Kraft in seinem Namen mitgegeben?
22.06.93
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