22.10.95

Der Ursprung des (prosaischen) Handels ist das Ende der (heroischen) Tat. Im Handel durchdringen sich Aktiv und Passiv, Handeln und Erleiden: Sie neutralisieren sich wechselseitig, der Handelnde wird gehandelt. Zu den ersten Handelswaren gehörte der Sklave (Ursprung des Handels im Raub, der Eroberungspolitik in den nomadischen Razzien, des Tauschprinzips in der Schuldknechtschaft).
Das pragma bezeichnet das Objekt des Handelns, das Ding ist das Objekt des Gerichts. Was bedeutet und auf welchen Ursprung verweist der Begriff der res (wie ist die polis zur res publica geworden)?
Im Übergang von der griechischen zur lateinischen Sprache haben – wie vor allem am Begriff der Natur sich nachweisen läßt – die Bedeutungen, die Konnotationen der Begriffe sich verändert. Deshalb ist die lateinische Theologie der griechischen weder sprachlich noch inhaltlich kompatibel. Tertullian, der die Begriffe der lateinischen Theologie geschaffen hat, hat diese Begriffe der griechischen Metaphysik entnommen und in die Sprache der lateinischen Rechts übersetzt. Waren Tertullian und Augustinus die ersten Scholastiker?
In der griechischen Sprache war die Erinnerung noch präsent, daß die Natur, ihre Gegenständlichkeit, nicht einfach nur vorgefunden, sondern auch sprachlich erzeugt wird, erst im Lateinischen, in dem die Bedeutung des Naturbegriffs von der Zeugung auf die Geburt sich verschiebt, tritt der Staat als zeugende (als rechtsetzende und -garantierende) Gewalt zwischen die Natur und das erkennende Subjekt, das sie dann nur noch passiv hinnehmen kann, zur reinen Rezeptivität (die in der augustinischen Gnadenlehre ihren theologischen Ausdruck findet) erstarrt. Mit der Übersetzung aus der griechischen in die lateinische Sprache wird das symbolische Element fortschreitend neutralisiert, aus der theologischen Erkenntnis eliminiert; es wird durch eine „Wörtlichkeit“ ersetzt (vgl. Augustinus: „De Genesi ad Litteram“), die am Ende zur sprachlogischen Quelle des Fundamentalismus geworden ist.
Der Ursprung der Sexualmoral, ihrer Privatisierung, ist eine Folge der Änderung im Naturbegriff: Mit der Verdrängung des Zeugungsbegriffs, der nicht zufällig in der Trinitätslehre wiederkehrt, wird das politische, herrschaftskritische Moment aus dem biblischen Begriff der Unzucht herausgebrochen, zugleich theologisch neutralisiert; seitdem ist die Sexualmoral zu einem nützlichen Instrument der Herrschaftssicherung geworden. (Vgl. die kirchliche Entfaltung der lateinischen Theologie in der devotio moderna, in der Ursprungsgeschichte von Zölibat, Ohrenbeichte und Fegfeuermythos, in der Scholastik.)
Kirchengeschichtlich fallen die Anfänge dieser Geschichte mit dem Ende der Märtyrerzeit zusammen: Die geschlechtsspezifische Aufteilung der Heiligen in confessor und virgo (in den Bekenner, der die Schuld der Zeugung verdrängt, und die Jungfrau, die sich von der Befleckung durch die Zeugung rein erhält) war die erste Manifestation der Bekenntnislogik, die in der Dogmenentwicklung sich entfaltet hat. Seitdem kann das Symbolische mit dem Wörtlichen nicht mehr zusammengebracht werden, wird der Indikativ zu Lasten des imperativen Gehalts der Attribute Gottes zum Medium der Theologie, wird die Theologie zur Theologie hinter dem Rücken Gottes: Ursprung des Nominalismus.
Hatte die Schlange nicht recht, als die sagte: Wenn ihr von diesem Baum essen werdet, werdet ihr sein wie Gott? Sie sagte „wie Gott (Elohim)“, nicht „wie der HERR (JHWH)“. Drückt nicht in der Beziehung der Gottesnamen Elohim und JHWH die Beziehung von Katastrophe und Rettung (oder das Gereuen und die Umkehr Gottes) sich aus? Aber sind nicht im Werk der Elohim die Elemente der Rettung vorgebildet (deren Erkenntnis erst mit Auschwitz sich uns endgültig verschlossen hat)?
Der Rachetrieb entspringt nicht unmittelbar am Unrecht, das mir selbst widerfährt, sondern in erster Linie an dem Unrecht, das mein Kind, meine Eltern, meine Frau, meine Geschwistern trifft. Im Nationalismus wird dieser Rachetrieb vergesellschaftet, das Volk („wir Deutsche“) zur Schicksalsgemeinschaft, an der er sich entzündet. Die Delegation dieses Rachetriebs an den Staat löst ihn nur zum Schein, macht ihn in Wahrheit unauslöschbar, zum Wurm, der nicht stirbt. Der Rachetrieb begründet das Gewaltmonopol des Staates, das die Geschichte der Aufklärung seit ihren Anfängen verhext.
Die Personalisierung, das Sündenbockdenken, das nach den Schuldigen sucht, um sich zu entlasten, opfert die Masse, die sie zu vertreten vorgibt.
Theologie im Angesicht Gottes sprengt mit den subjektiven Formen der Anschauung die Fesseln der Ästhetik: die Gewalt des Mythos.
Wer meint, ein Rechtsanwalt sei dem Recht des Angeklagten verpflichtet, ist durch den Stammheim-Prozeß eines Schlechteren belehrt worden: Durch die Verpflichtung als „Organ der Rechtspflege“ ist er zu einem Hilfsorgan des Staatsanwalts geworden. Seitdem erwecken Staatsschutz-Verfahren den Eindruck, das in dubio pro reo gelte nur noch fürs Gericht, nicht mehr für die Angeklagten. Seitdem finden diese Prozesse kein ernsthaftes öffentliches Interesse mehr.


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