23.5.1994

Die rabbinische Interpretation von Dt 2123 (vgl. Hyam Maccoby, Mythmaker, S. 67f) ist ein eindeutiges Verdikt über das katholische Kruzifix. „Ein Fluch ist der Gehängte“: Das kann nicht für den Gehängten gelten (die paulinische Interpretation ist magisch), wohl aber für die, die ihn gehängt haben oder ihn (über Nacht oder über den Sabbath hinweg) hängen lassen. Die Christen haben diesen Fluch auf sich gezogen, indem sie ihn zum antisemitischen Symbol gemacht und in ihre Kirchen und in ihre Wohnzimmern hereingenommen haben. Kann es sein, daß das apokalyptische Bild vom „Tier von der Erde“ (Offb 3117) auf Paulus sich bezieht (es hat zwei Hörner „wie ein Lamm“ und „redet wie ein Drache“, die Zahl dieses Tieres ist die „Zahl eines Menschen“; hat diese „Menschenzahl“ etwas mit dem messianischen Namen des „Menschensohns“ zu tun: durch Umkehr – wie verhält sich die „Zahl“ zum „Sohn“)? Repräsentiert Paulus (und seine Theologie) den Kelch, von dem Jesus wünschte, er möge an ihm vorübergehen? Klärt nicht die These, daß Paulus ein Heide war (in jedem Fall kein Pharisäer, kein rabbinischer Schriftgelehrter), eine Reihe von Problemen in seiner Theologie, vom Gesetzesverständnis über den Glaubensbegriff bis zur Rechtfertigungslehre? Insbesondere die paulinische Interpretation des Gesetzes ist fast ein Beweis für die Maccobyschen Thesen, die dann auch das Problem seines Namens (Saulus/Paulus) in ein neues Licht gerückt haben – sh. hierzu S. 95f. Durch Paulus ist das Christentum zur Weltreligion geworden, hat es die Fähigkeit gewonnen, die Welt zu durchdringen (ist damit jedoch selbst von der Welt durchdrungen worden). Was hat es mit dem „dritten Himmel“ auf sich (2 Kor 122, mit dem Problem der Selbstanonymisierung: hier schreibt Paulus von sich selbst in der dritten Person)? Ergeben sich die Affinitäten der Paulinischen Theologie zur Gnosis und zu den Mysterienreligionen der Spätantike nicht von selbst aus der Logik des Maccobyschen Konzepts (liegt die Lösung im Problem des „dritten Himmels“: er hatte die Herrscher der Planetenwelt, die „Archonten“, über, nicht unter sich)? Vorausgesetzt (und mit eingeschlossen) ist in der Stufe des dritten Himmels – das Licht (und der Ursprung des Angesichts), – die Erschaffung der Feste, die die oberen von den unteren Wassern trennt, und – daß auf der Erde das Trockene hervortritt und die Wasser an einer Stelle sich sammeln. Ist es nicht fast unerheblich, ob die Prämissen der Maccobyschen Konklusionen zutreffen; das Ergebnis stimmt: die paulinische Theologie ist so konstruiert, als wäre Paulus ein Heide, kein Jude und erst recht kein „Pharisäer“, gewesen. Ob er nun Jude oder Heide war, ist auch eigentlich uninteressant. Ist nicht die paulinische Theologie eine Theologie für Proselyten, geprägt von der Angst vor der Beschneidung (war Paulus beschnitten, und welche Bedeutung hat die Geschichte mit dem Nasiräer-Gelübde – Apg 2123ff)? Hängt die Archonten-Lehre mit der Angst vor der Beschneidung (und die Beschneidung mit dem „kreisenden Flammenschwert“ des Cherubs vorm Eingang des Paradieses) zusammen: mit der Verdrängung der Astrologie und der Beziehung der „Theologie hinter dem Rücken“ zur kopernikanischen Wende (mit der Verheißung, daß die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen werden, und dem bis heute unerledigten „was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein“)? Aber hat nicht das Lösen ein Echo in der paulinischen Theologie, in dem Satz, daß die ganze Schöpfung seufzt und in Wehen liegt, und auf die Freiheit der Kinder Gottes wartet? Eine verrückte Frage: Hat Tarsus etwas mit Tarschisch zu tun (und ist Paulus der Jona redivivus)? Gibt es nicht gewisse Parallelen zwischen dem Schiffbruch vor Malta und dem Versuch des Jona, mit dem Schiff nach Tarschisch zu fliehen, und seiner Geschichte mit diesem Schiff? Im Kern der paulinischen „invention of Christianity“ stand die Erfindung des Glaubens: die Ablösung des „Glaubens“ von seiner Beziehung zur realen Erfahrung, die ihm den Schein der rechtfertigenden Kraft verleiht, seine Einbindung in die Bekenntnislogik durch Verletzung des Bilderverbots im Kern der neuen Gestalt der Subjektivität (durch Verinnerlichung des Opfers). „Ohne Ansehen der Person“: Wie verhält sich die Person zum Angesicht? Ist nicht das Ansehen der Person das vergesellschaftete (und so blasphemisierte) Angesicht, das in rechtlichen Zusammenhängen (in denen der Personbegriff sich konstituiert) als Maske (als Charaktermaske und als Pokerface) gegen das Gesehenwerden sich verschließt? Durch seinen Ursprung in der Maske verweist der Personbegriff auf magische (patriarchalische und sexistische) Ursprünge. In der Person wird nicht das Angesicht, sondern die gesellschaftliche Rolle (die „Persönlichkeit“) und die Unerkennbarkeit der Absichten angesehen: deshalb setzt Gerechtigkeit das Absehen vom Ansehen der Person voraus.


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