Hat nicht das „Besitzstandsdenken“, von dem – im Gefolge der Regierung und zur Absicherung ihrer „Sparprogramme“ – der Bischof Lehmann und die Frau Waschbüsch reden, etwas mit dem „Standort“ Deutschland zu tun. Ist nicht die Kirche selber – und mit ihr jede blind übernommene Tradition – ein reines Produkt des „Besitzstandsdenkens“?
„Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“: War das nicht ein bei den Nazis beliebter Spruch (aus der Edda)? Zitiert das „erwerben“ nicht die gegenstandskonstituierende Kraft der Werbung, der Reklame?
„Ihr laßt die Armen schuldig werden“: Ist es nicht merkwürdig, daß man den Besitzlosen heute „Besitzstandsdenken“ nachsagt? Hat nicht das Besitzstandsdenken, das nur noch dem projektiven Gebrauch zur Verfügung zu stehen scheint, etwas mit der Besessenheit zu tun?
Die Humanität beginnt mit der Fähigkeit zur Schuldreflexion: mit der Fähigkeit, in der Schuld des Andern die eigene zu erkennen.
Stämme, Völker, Nationen und Sprachen: Diese Wendung, die die ganze Menschheit umreißt, erscheint in der Schrift nur in apokalyptischem Zusammenhang, und in dieser Fassung nur in der Johannes-Apokalypse (bei Daniel fehlen die Stämme).
Vgl. aber die Nachkommen Japhets, Hams und Sems („nach ihren Ländern/Geschlechtern, ihren Sprachen, ihren Geschlechtern/Ländern, ihren Völkerschaften“, Gen 105,20,31),
– Übersetzung Buber:
. Japhet: … Von diesen trennten sich ab die Inseln der Stämme, in ihren Erdländern, jedermann seiner Zunge nach: nach ihren Sippen, in ihren Stämmen.
. Ham: Das sind die Söhne Chams nach ihren Sippen, nach ihren Zungen, in ihren Erdländern, in ihren Stämmen.
. Sem: Das sind die Söhne Schems nach ihren Sippen, nach ihren Zungen, in ihren Erdländern, nach ihren Stämmen.
Kann es sein, daß der an die „12 Stämme in der Zerstreuung“ gerichtete Jakobusbrief den Grund benennt, weshalb in der Johannes-Apokalypse zu den Völkern, Nationen und Sprachen die Stämme mit hinzu genommen werden: die Zerstreuung?
Nicht Herrschafts-Kritik, sondern Kritik der Gewalt.
Was würde sich ergeben, wenn man das Wort Vergewaltigung sprachlogisch aufschlüsselt (das Walten mit dem doppelten Präfix und einem doppelten Suffix)? Ist nicht die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit (das Perfekt des Waltens) die Quelle der Gewalt?
Ist die göttliche Gewalt die die Gewalt zerstörende Gewalt (der Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht)?
Ist die „Bewältigung“ (z.B. der Vergangenheit, die dagegen wehrlos ist) eine Vergewaltigung?
War nicht die historische Bibelkritik eine Bewältigung der Vergangenheit (der Widerpart der Idee der Auferstehung)? Ist nicht die „Bewältigung“ insgesamt ein Historismus-Projekt, gegen dessen Logik der Stern der Erlösung geschrieben worden ist?
„… die Zukunft wird geahndet“ (Schelling, Weltalter): Es mag sein, daß das ahnden auf einen Versprecher sich zurückführen läßt, daß das ahnen gemeint war; aber dann war es ein freudscher Versprecher. Läßt sich mit Hilfe des Sündenbocksyndroms aus diesem Ahnden nicht die mythische Grundtendenz der Schellingschen Philosophie, die schon in seiner Naturphilosophie angelegt war, ableiten? Seit den Vorsokratikern ist die Naturphilosophie das Bindeglied, das die Philosophie an ihre mythischen Ursprünge bindet. Es gehört zur Logik des Naturbegriffs, daß jede an ihn sich anschließende Philosophie die Partei der Verfolger und nicht die des Opfers ergreift. Bei Hegel ist es der Weltbegriff, der als Indikator der Logik des Mythos in der christlichen Tradition sich erweist: Deshalb ist Hegels Philosophie zur Staatsphilosophie geworden.
Hegels Philosophie ist die philosophische Entfaltung des Theologumenons der creatio mundi ex nihilo, in dem das gnostische Erbe über die bloße Verurteilung der Gnosis, die so zur Urhäresie geworden ist, in die Theologie übernommen worden ist (Paradigma der Vertuschung, des Spurenverwischens: die erste Gestalt einer „Bewältigung der Vergangenheit“). Die Verwerfung der Gnosis war der Gründungsakt der Kirche. Der in der creatio mundi ex nihilo zitierte creator ist der Demiurg, der im Staat sich verkörpert und zugleich verbirgt, durch seine Fundierung im Weltbegriff sich unkenntlich macht (mit der Vergöttlichung des Opfers macht sich der Staat zum Gegenstand der Anbetung). Die Gnosis ist der Sündenbock der Theologie hinter dem Rücken Gottes, ihre bloße Verwerfung macht die Gnosis zum Objekt des Gerichts, dessen wirkliches Objekt der Staat ist. Die Gnosis ist die Urhäresie, weil die Theologie nur in ihr den Vorwand findet, der es ihr erlaubt, sich ihrem eigentlichen Auftrag (der Theologie im Angesicht Gottes, in der die Gnosis sich auflösen würde) zu entziehen und nach Tarschisch (in eine Theologie hinter dem Rücken Gottes, zu deren Stabilisierung die Verurteilung der Gnosis wie das Feindbild zur Identitäts- und Gruppenbildung gehört) zu fliehen.
23.11.1996
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie
Schreibe einen Kommentar