Gehört nicht das „RAF-Problem“ zu den Ursachen der moralischen Selbstzerstörung des Staates, durch den vermeintlichen Zwang, die Wahl der Mittel der Bekämpfung des Terrorismus von moralischem Ballast zu befreien?
Gemeinheit ist kein Problem der Gesinnung, sondern eines der Logik. Nur durch die Reflexion dieser Logik ist es möglich, ihren Zwängen nicht zu verfallen. Die Logik der Gemeinheit aber begreift man erst, wenn man begreift, daß das Urteil und die Verurteilung gegen diese Logik ohnmächtig und blind sind, weil sie ihr selber unterworfen sind.
Gegen die Gemeinheit ist erst gefeit, wer an die Auferstehung der Toten glaubt.
Läßt sich nicht die Geistesgegenwart aus ihrer Beziehung zur Gemeinheit ableiten und begreifen; Gemeinheit ist die Abwesenheit der Geistesgegenwart. Gemeinheit entsteht, wo die Wunde bloß vernarbt, der Schmerz verdrängt wird: wo die Empfindung zur bloßen Empfindung subjektiviert worden ist.
Sind es nicht diese drei Schritte, die, indem sie die „privilegierte Erkenntnis“ diskriminieren, in den Autismus führen:
– Die Verdrängung der sinnlichen Erfahrung, ihre Subjektivierung als Empfindung,
– die Zerstörung der Kritikfähigkeit, ihre Neutralisierung und Subjektivierung als Meinung, und
– die Unfähigkeit zur Schuldreflexion, die Verdinglichung und Subjektivierung der Sünde zu Schuldgefühlen (das „schlechte Gewissen“, die Manifestation der Schuld unterm Bann der Autorität, des Über-Ich, die Verinnerlichung des Schuldurteils)?
Sind diese drei Stufen nicht zugleich Stufen der Umkehr? – Ist nicht Intersubjektivität die „Normalform“ des Autismus?
Es gibt einen logischen Zusammenhang des Bilderverbots mit dem Kelchsymbol. Das Kelchsymbol bezieht sich auf einen sprachlichen Sachverhalt: auf die verdinglichende Gewalt der subjektiven Formen der Anschauung, die das Nomen an die Bilder der Einbildungskraft binden (Ursprung des Substantivs). Die subjektiven Formen der Anschauung sind der Realgrund des Kelchsymbols, sie trennen die Sprache von der erkennenden Kraft des Namens, unterwerfen sie der Logik des (verdinglichenden und instrumentalisierenden) Herrendenkens. Die Anschauung ersetzt die Namen durch Bilder. Von allen Bildern aber gilt, was die Propheten von den Götzen sagen: Sie hören und sehen nicht, sie sprechen nicht, sie haben nicht die Kraft einzugreifen und zu ändern. Unterm Bann der Bilder werden die Menschen einsam und herrschaftssüchtig.
In Heideggers Begriff des Daseins hört man geradezu den ausgestreckten Zeigefinger (das „Da“). Der Begriff des Daseins macht das Subjekt zu einem Sein für Andere (die auf es zeigen: deren Objekt es ist). In dieser Konstellation gewinnt die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, die keine inhaltliche Unterscheidung ist, sondern allein eine des Rangs, ihren fatalen Sinn: Die Eigentlichkeit ist die Arroganz der Knechtsgesinnung, der „Niedertracht“. Hier liegt der Ursprung der Gemeinheit. Ist nicht Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ ein erster Versuch, die Logik der Gemeinheit zu entwirren?
Weltgericht: Symbol des Siegers ist das Bild dessen, der als Letzter auf dem Leichenberg der Erschlagenen, der Besiegten steht (Elias Canetti). Die Theologie beginnt mit der Einsicht, die der Sieger verdrängen muß: daß die Toten seine Richter sein werden. Wer glaubt, diesem Richter sich entziehen zu können, indem er mit Hilfe des Weltbegriffs und der subjektiven Formen der Anschauung das Vergangene vergegenständlicht und neutralisiert, täuscht sich selbst.
Zur Position Horkheimers gehören beide Sätze,
– der, den er in einem Brief an Benjamin geschrieben hat: die Erschlagenen sind endgültig tot (d.h., wer ihre Auferstehung erhofft, entlastet nur sich selbst von der Trauer und dem Schmerz), und
– der andere, den er einmal im gemeinsamen Seminar mit Adorno gesagt hat: Wie kann man auf dem Riesen-Leichenberg, auf dem wir stehen, jemals die richtige Gesellschaft errichten!
Wer die Philosophie Horkheimers verzweifelt nennt, und das in einem Ton, der suggeriert, wir seien darüber hinaus, der möge doch bitte einen dieser beiden Sätze widerlegen.
Zur Lehre von der Auferstehung ist zu bemerken, daß es nicht mehr erlaubt ist, sie aufs private Ich zu beziehen, sie als private Hoffnung, die das Schicksal der Toten, der Welt und der Menschheit kalt läßt, zu hegen. Sie gilt nicht für die Pharaonen und ihre historischen Erben, die Herren des Sklavenhauses, sondern nur für die Opfer.
23.2.96
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