Merkwürdig, daß eine seriöse (und eingreifende) Kritik der Derridaschen Erörterungen über Benjamins Kritik der Gewalt bis heute fehlt: Benjamins These von der mythischen Gewalt des Rechts ist bis heute nicht rezipiert worden; wer könnte sie da verteidigen? Dabei wäre die Kritik sehr leicht zu führen, wenn man auf den Derridaschen Gang der Argumentation, die durchaus erhellend ist, sich einlassen würde. Hinzuweisen ist insbesondere auf den Stellenwert des Generalstreiks. Bei Benjamin war der Staat im proletarischen Streit bereit, die Gewalt auf beiden Seiten, bei den Arbeitern wie bei den „Arbeitgebern“, wahrzunehmen und zu konzedieren. Wenn heute der Streik im Tarifkonflikt zunehmend rechtlichen Restriktionen ausgesetzt wird, so ist das ein Hinweis auf die zunehmende Verlagerung der Gewalt vom Staat in die Ökonomie. Indiz für diese Verlagerung war seit je das Institut der Polizei. Heute erkennt der Staat in dem Machtpotential der Ökonomie den Grund seiner eigenen Macht; heute gerät auch der Streik im Tarifkonflikt schon in der Nähe des Angriffs auf das Gewaltmonopol des Staates. Der Generalstreik dagegen scheint (nach seiner letzten Anwendung im Kapp-Putsch) mit dem Faschismus seine raison d’etre verloren zu haben. Zur Machtergreifung der Nazis hat es nicht einmal den Versuch seiner Anwendung gegeben. Kommunisten, Gewerkschafter und Sozialdemokraten sind, soweit sie nicht auf der Flucht vor dem faschistischen Terror ins Exil gegangen sind, ohne nennenswerte Resonanz in der Bevölkerung in die KZs verbracht worden, die Vorläufer der Exekutionsstätten der „Endlösung“, die Derrida schließlich mit ihrem absoluten Widerpart, mit dem, was Benjamin die „göttliche Gewalt“ genannt hat, verwechseln konnte, ohne daß auch nur einer das Skandalöse dieser Verwechslung bemerkt hätte. Der Faschismus war insofern auch ein Modernisierungsschub, als in ihm die neu sich konstituierende Einheit staatlicher und ökonomischer Macht als die wirkliche Gewalt gegen den Staat, als eine Gewalt, die den Staat von innen zerstörte, sich erwiesen hat. Der faschistische Staat hat (in der logischen Folge des wilhelminischen Spektakels) das verrottete Innere des Staates, die Souveränitätsidee, durch die theatralische Lüge und den Terror zu retten versucht. Der Generalstreik, der einmal die Idee der Gerechtigkeit gegen einen Staat vertreten wollte, der nicht mehr in der Lage war, diese Idee zu verkörpern, hat mit dem Verschwinden des Staates sein Objekt verloren.
Benennen: Wenn ich mich einem Kind mit Namen vorstelle, bevor ich es selbst nach seinem Namen frage, stelle ich eine angstfreie Situation her. Das Benennen hat auch den Zweck, Ängste zu bannen. Das steckt u.a. auch in der biblischen Geschichte der Benennung der Tiere durch Adam (vielleicht auch schon in den benennden Tätigkeiten Gottes im Schöpfungsbericht).
Ist das Benennen im Schöpfungsbericht eine Vorstufe der Selbstoffenbarung (des Selbstbenennens) am brennenden Dornbusch? Dagegen hat Adam nur die Tiere benannt, nicht sich selbst.
Haben die Stellen in der Schrift, an denen es heißt: „Wenn dich künftig dein Sohn fragt, so sollst du ihm antworten …“ etwas mit diesem Problem des Benennens zu tun? Und ist nicht der 68er Slogan „Wenn mich meine Kinder einmal fragen, will ich nicht sagen müssen …“ ein spätes, hilfloses Echo dieser Stellen?
24.11.95
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