24.12.90

Information als Unterhaltung: Fernsehnachrichten und BILD-Zeitung kommen darin überein, daß sie Informationen nicht nach ihrem objektiven Stellenwert, sondern nach ihrem Unterhaltungs- oder Sensationswert (Empörungsreiz) beurteilen. Der Begriff der Sensation erinnert nicht zufällig an den erkenntnistheoretischen Begriff der Empfindung (des sinnlich Gegebenen: nach Kant des chaotischen Materials, aus dem die transzendentale Logik die Urteile fertigt, durch die es Teil der Erfahrung wird). Diese Sensationen (die im Unterhaltungsbereich „Erlebnisse“ heißen) konstituieren sich erst im Kontrast zur transzendentalen Logik, nach Abzug ihres Erfahrungsgehalts, der nur als Kommentar, als Meinung zugelassen ist. Der Begriff der Sensation setzt die Unterscheidung von Tatsache und Meinung voraus und widerlegt sie zugleich. Die Ideologie, die geheimen Zusatzinformationen, die mit transportiert werden, resultieren aus dem ersten Gebot der Unterhaltungsindustrie: der Zuschauer/Leser darf aus der passiven Rolle nicht herausgerissen werden, er darf nicht (jedenfalls nicht politisch) zum Handeln verführt werden: die Fakten müssen so zubereitet werden, daß sie zur Entlastung des Zuschauers/ Lesers von dem moralischen Druck, den jede ungefilterte Information heute erzeugt, beiträgt: d.h. sie muß den Mechanismen der Schuldverschiebung, den Sündenbockmechanismen, mit einem Wort: dem Vorurteil das Feld überlassen. Bezeichnend das Interview mit einem Tagesthemen-Moderator der ARD in einer Unterhaltungssendung zum Jahresende 1990 (in der kritischen Phase der Golfkrise, über die der Interviewte täglich berichtete). Auf die Frage nach seinem zentralen Wunsch für das Neue Jahr: Er hoffe, daß es ihm endlich gelinge, das Rauchen aufzugeben.
Zusammenhang zwischen zweiter Schuld und dem Verschwinden der Schamgrenze, die das Private, den Intimbereich von der Öffentlichkeit trennt (BILD, Werbung, Fernsehen, Bedeutung der Familienserien, Gestaltung der Wohnungen: die Privatisierung der Politik und die Politisierung des Privaten; das unaufhaltsame Vordringen der Gemeinheit).
Der deutsche Begriff für Sexualität: das Geschlecht, das Geschlechtliche (auch die Geschlechter, z.B. die Genealogien? Zusammenhang mit der Trinitätslehre, der Zeugung des Sohnes?) scheint vom Ursprung her mit dem der Scham zusammenzuhängen. Das Geschlecht wäre demnach die Hypostase des Schlechten, des Verurteilten, das apriorische Objekt der Scham. Verletzt die Trinitätslehre die Schamgrenze Gottes?
Zur Trinitätslehre: Umkehrung der Vater-Mutter-Sohn-Beziehung? Der Beistand (das Mütterliche) geht aus dem Vater und dem Sohne hervor und wendet sich nach außen, während im traditionellen Familienkonzept die Mutter dem Mann und den Kindern „Beistand“ ist, der empathische Anwalt, der alles versteht (auch den richtenden Vater).


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie