24.9.1995

Wer die Nazizeit post festum nur verurteilt, aber sich weigert, seine Entstehungsbedingungen wirklich zu reflektieren, hat nichts begriffen.
Trauerarbeit, wie Alexander und Margarete Mitscherlich sie forderten, sollte helfen, die beim Ende des Faschismus zerbrochenen symbiotischen Beziehungen, die nur verdrängt worden sind, aufzuarbeiten. Die andere, sehr viel wichtigere Form der Trauerarbeit, die auf die Gemeinheitserfahrung im Faschismus und auf das darin gründende Verschwinden des Christentums sich bezieht, wäre noch zu leisten.
Die medienlogische Unterscheidung von Meinung und Information ist ebenso notwendig wie verhängnisvoll. Wenn alles, was nicht Information ist, zur Meinung wird, dann braucht’s auch die Meinung nicht mehr. Aber im Bann des Indikativs, in dem die Information gründet, wird alles, was nicht Information ist, zur Meinung.
Das Kelch-Symbol ist Ausdruck der Prävalenz der Vergangenheit über die Zukunft (genau das drückt sich in Getsemane aus). Dem entsprechen im Erkenntnisapparat die subjektiven Formen der Anschauung, die genau diese Funktion erfüllen. Insoweit steht das Kelch-Symbol in genauer Opposition zur Idee des Ewigen. Heideggers Begriff des In-der-Welt-Seins bezeichnet eine Kurzfassung oder eine Engführung der Funktion der subjektiven Formen der Anschauung, von denen im Begriff des Daseins nur das ins Passive, ins Objekthafte gewendete deiktische Moment erhalten bleibt (der Mensch ist etwas, worauf man zeigt). Ist nicht der Weltbegriff das Äquivalent des Kelchs (und dessen Inhalt der Inbegriff all dessen, was die Herrschenden konsumieren)?
Unzuchtsbecher: Das happy end des Kriminalromans ist die Überführung des Verbrechers. Ist nicht der Unzuchtsbecher die Erfolgslogik?
Der systematische Grund autoritärer Systeme liegt in einer Welt, in der niemand mehr weiß, was er tut, in der jeder einen Herrn braucht, der ihm sagt, was er zu tun hat.
Ist nicht die Physik heute weithin kontrafaktisch? Hinter den Erscheinungen sind die Erscheinungen selbst (Definition der Erscheinung). Die Weltraumforschung und die Großforschungsanlagen der Mikrophysik haben keinen anderen Zweck als den, das zu beweisen (zu beweisen, daß es hinter den Erscheinungen nichts gibt).
Schon die erste Gestalt der Physik, die Mechanik, war Metaphysik, ein Reich jenseits, hinter den sinnlichen Erscheinungen. Die Mechanik, Inbegriff der dritten Leugnung, hat das Opfer der Vernunft in der Objektivität, im Begriff der Realität selber, installiert. So hängt sie mit der Geschichte des Dogmas und mit der Opfertheologie zusammen. Zu Reflexion der Mechanik gehört aber die Reflexion auf die beiden Vorstufen des Objektivationsprozesses, auf die beiden ersten Leugnungen: auf die Geschichte der Hellenisierung und dann der Islamisierung der Theologie.
Sind das nicht die drei in die Theologie eingebauten Feindbilder:
– der Hellenismus leugnet den Vater,
– die Islamisierung den Sohn und
– die Aufklärung den Geist.
Die Trinitätslehre hat die Offenbarung in dieses Feindbild-Konstrukt mit aufgenommen. Der Objektivierungsprozeß, der in der Theologie entspringt, wiederholt zwangshaft die Verurteilung, die dem Kreuzestod zugrundeliegt.
Die Geschichte der drei Leugnungen beschreibt den Prozeß, in dem die Religion zur „Religion für andere“, in dem sie blasphemisch geworden ist.
War nicht der „jüdische Selbsthaß“, selber ein Produkt der Assimilation, ein Reflex des viel tiefer reichenden Selbsthasses, der die Geschichte des Christentums beherrscht? Dieser Selbsthaß definiert die Grenze zwischen den beiden Gestalten des Christentums, auf die Max Horkheimer einmal hingewiesen hat: Es gibt keine menschenfreundlichere Religion als das Christentum, aber es gibt auch keine Religion, in deren Namen solche Untaten begangen worden sind.
Theologie im Angesicht Gottes ist der Versuch, in der Erkenntnis Gottes den Bann des Selbsthasses zu brechen, unter dessen Herrschaft die Theologie hinter dem Rücken Gottes steht.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie