25.04.93

Die Physik ist das Futur II der Welt: ihre zukünftige Vergangenheit, zugleich der Grund der Verwandlung der Zwecke in Mittel. Über der verdinglichten Welt ist kein Himmel mehr aufgespannt, gibt es keinen Gott, der ihn als Schöpfer aufgespannt hätte. Die Idee des seligen Lebens (und mit ihr die der Erneuerung des Antlitzes der Erde) ist gegenstandlos geworden.
Der Raum als Form der Gleichzeitigkeit ist durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit dynamisiert worden. Seitdem ist eine Kritik der Chronologie (Kritik der Vorstellung einer homogenen Zeit) nicht nur denkbar, sondern denknotwendig geworden, auch wenn es noch keine Ansatzpunkte dafür zu geben scheint, was an ihre Stelle treten soll. Jedenfalls ist eine gleichsam unterirdische Beziehung der Gegenwart zur vergangenen Zukunft, die Vorstellung, daß die Vergangenheit nicht ganz vergangen ist, daß dem Verdrängungsapparat etwas im Objektiven korrespondiert (insbesondere die Raumvorstellung selber, die Erbin aller Initiationsriten), nicht von vornherein zu verwerfen. Welt- und Geschichtskritik als Kritik der Erwachsenenwelt (Kritik der Herrschaftsgeschichte)?
Die Erfahrung, daß nach Auschwitz alles einfach nur weitergegangen ist, daß das keine Folgen hatte, hat der bürgerlichen Religion den Boden unter den Füßen weggezogen. Wo sie in Deutschland gegen diese Erfahrung glaubt, konsequenzlos weitermachen zu können, ist sie vollends böse geworden.
Das Christentum ist der Versuchung erlegen, die Idee des seligen Lebens dem Selbsterhaltungsprinzip zu opfern. Dem verdankt sich die christliche Vorstellung einer vom Leib getrennten Seele und dem Glauben, sie sei unsterblich. Diese Seelenvorstellung verdankt sich der Erfahrung des Für-sich-Seins, die die Idee des seligen Lebens neutralisiert. Hier liegt der Kristallisationskern der Instrumentalisierung der theologischen Tradition. Die prekäre, bis heute unaufgearbeitete Beziehung dieser Seele zur Objektivität – die Vorstellung, es könne ein seliges Leben geben, wenn die Welt im argen liegt – ist der Grund der kirchlichen Sakramentenlehre, die die Seelenvorstellung zugleich begründet und sprengt.
Drückt sich in der Vorstellung der Zeitdilatation (die Zeitdehnung als Korrelat einer exponentiell wachsenden Beschleunigung) nicht eine ungeheure Sogwirkung aus: der absolute Fall?


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