Im Bestehenden das Chaos wahrnehmen, aus dem die Welt erschaffen wird: Wer das als Aufgabe der Erkenntnis begreift, kann eigentlich kein Buch mehr schreiben. Logisch-systematische Zusammenhänge lassen sich aus dem Objekt nicht mehr entwickeln; assoziative Verknüpfungen aber reichen nicht aus, um einen zusammenhängenden Text zu erstellen. Ein Zentrum, aus dem die Erfahrungen und Einsichten sich ableiten ließen, scheint es nicht mehr zu geben. Gleichwohl ist an dem Anspruch festzuhalten, daß es sich um mehr als um bloße Einfälle handelt. Vielleicht hilft die chronologische Form: die Zusammenstellung der Texte in der Folge ihrer Entstehung.
(08.05.87:) Der Begriff des Objekts (oder der des Urteils, aus dem er sich herleitet) bezeichnet genau den Kristallisationskern, an den das Chaos als System anschießt. Das Chaos war immer schon die (unsichtbare) Rückseite des Systems: Produkt seiner „Rücksichtslosigkeit“. – „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“
(28.05.87) Der Zusammenhang von System und Chaos wird greifbar bei Kant: Wenn die Kategorien – aufgrund ihrer Beziehungen zu den Anschauungsformen Raum und Zeit – nur subjektive Ordnungsbegriffe sind, auf die Dinge an sich aber nicht anwendbar, so ist damit das An sich aus dem System ausgeschlossen: es ist logisch nicht konstruierbar, es ist Chaos. Umgekehrt: die „Rücksichtslosigkeit“ des Systems hat als Objekt und Ziel ihrer destruktiven Gewalt genau jenen Bereich, der von der Intention her eigentlich als der zentrale gemeint ist. (Kann es sein, daß die kantischen Antinomien der reinen Vernunft genau dieser destruktiven Gewalt sich verdanken? Bedeutet das, daß es sehr wohl eine Auflösung dieser Antinomien gibt, nur daß sie jenseits des Widerspruchs liegt? Ist das kantische Theorem etwa die Folge der Verstrickung jeglicher „reinen Theorie“ als eines Systems des Wissens in dem in der Objekt-Beziehung gründenden Schuldzusammenhang; sind System und Schuldzusammenhang Synonyme?)
(17.05.87) Die chronologische Folge der Aufzeichnung – so darf erwartet werden – ist nicht nur zufällig; oder das Zufällige daran ist nicht nur subjektiv. Die Einfälle geben sowohl den Stand der Reflexion wieder; sie gehorchen einem eigenen Gesetz des Fortschritts. Sie dokumentieren zugleich ein Objektives: sie reagieren auf objektive Verhältnisse und Ereignisse.
„Ich fürchte allerdings, daß es den Geschäftemachern mit all ihren Mitteln der Reklame gelingen wird, tatsächlich die Menschheit einzuschläfern, so daß sie ganz und gar vergißt, daß ihr Todesurteil gesprochen ist und die Vollstreckung nur hinausgeschoben wurde.“ (Hans Henny Jahnn: Hiroshima, zitiert nach Hans Henny Jahnn Lesebuch, Hamburg 1984, S. 67) Das schrieb Hans Henny Jahnn (der ähnlich wie Arno Schmidt den Faschismus in Deutschland nicht als Ende einer alten oder Beginn einer neuen Epoche, sondern schlicht als Weltuntergang erfahren hat) 1947, und fährt fort: „Wäre es nicht am Ende doch eine rühmenswerte Tat, die Erde auseinanderzusprengen, damit die schrecklichen Tragödien im Protoplasma endlich aufhören und diese scheinbar nicht ganz zu Ende gedachte Schöpfung sich nochmals zu einem Anfang sammelte?“ (ibd. S. 68) Aber sprengen nicht die Geschäftemacher mit ihren Mitteln der Reklame bereits diese Erde auseinander, produzieren sie nicht das Chaos, aus dem vielleicht diese nicht ganz zu Ende gedachte Schöpfung sich zu einem Anfang zu sammeln vermag? Und bedarf es dazu vielleicht nur des Aufwachens?
Schreibe einen Kommentar