26.06.91

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweig, Existenzielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991:
– „Existentielles Denken“ apriori falsch; aus der einen Bemerkung über Heidegger nach dem Davoser Gespräch läßt sich das nicht ableiten, ohne den Ernst des „Stern“ zu desavouieren, ihn dem Jargon der Eigentlichkeit unterzuordnen;
– ebenso „gelebte Bewährung“: bei Franz Rosenzweig geht es um die Bewährung der Wahrheit, die den Weg ins Leben eröffnet; gelebte Bewährung: er hat sich bewährt, ihm wird die Reststrafe erlassen?
Als ich den „Hinweis“ schrieb (mit dem ich überhaupt nicht zufrieden war), habe ich nur dunkel geahnt, worauf ich mich da eingelassen hatte. Mir war nur eines unzweifelhaft klar: hier war die einzige theistische Philosophie, die dem Anspruch des Stands der Aufklärung standhielt. Benjamins Wort über R., er habe es vermocht, „die Tradition auf dem eigenen Rücken zu befördern, anstatt sie seßhaft zu verwalten“, war mir schlicht einleuchtend. Aber es hat mir den Zugang zu diesem doch sehr spröden und unzugänglichen Werk nicht erleichtert. Hinzu kam, daß mir sehr früh klar war, daß eine unmittelbare Rezeption nach Auschwitz nicht mehr (und wahrscheinlich auch vorher nicht) möglich war. Dieses Buch war (schon vor dem Eintritt der Katastrophe) eine jüdische Antwort auf den Antisemitismus; es von der Opfer- auf die Täterseite herüberzubringen, erschien mir (auch angesichts meiner Erfahrungen mit der Theologie) zwingend notwendig, aber auch fast unmöglich. Den leichteren Weg der existentiellen Adaptation mochte und konnte ich nicht gehen (vor R. hatte ich Adorno gelesen, über den ich an Walter Benjamin und dann an R. geraten bin).
Der Fall Rosenstock ist für mich eigentlich die rätselhafteste (wenn nicht die peinlichste) Geschichte in meiner Beziehung zu Rosenzweig: Ich habe Eugen Rosenstock-Huessy noch in Münster anläßlich einer Gastvorlesung in den fünfziger Jahren gehört, habe es dann aber, nach dem, was ich von ihm an wilden Spekulationen über Rosenzweig (so meine Erinnerung) zu hören bekam, vorgezogen, ihn nicht auf sein Verhältnis zu Rosenzweig anzusprechen. – Ich habe übrigens den Briefwechsel Rosenzweig-Rosenstock nie als einen Beitrag zum „jüdisch-christlichen Dialog“ verstanden, sondern, soweit er Rosenstocks Beitrag betrifft, als eine wenig interessante Privatangelegenheit.
R.’s Sprachphilosophie ist Ergebnis, Resultat seiner Kritik der Philosophie des Begriffs, auf die seine Kritik des „All der Philosophie“ abzielt. Hier findet die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Prophetie nach dem Ende der Geschichte der Philosophie erstmals ihre Stelle (unterschiedliche Stellung von Sprache und Begriff zum Objekt, Kritik des Wissens – vgl. hierzu Benjamins theologische Formulierung dieser Kritik im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ -, unterschiedliche „Aggregatzustände“ der Erkenntnis).
Was ist „unvordenkliche Existenz“ (S. 30)? – Wer Adorno gelesen hat, weiß, daß der Begriff der Existenz aus dem Idealismus nicht herausführt, vielmehr in ihm (sowohl bei Kant wie auch bei Hegel) seinen präzise bestimmbaren Stellenwert hat; Existenz ist eine idealistische Kategorie. Was Rosenzweig anspricht (ich mit Vor- und Zunamen, nicht das Ich mit seinem Palmenzweig), ist eigentlich nur im Rahmen seiner Sprachphilosophie, im Zusammenhang mit der erkenntniskritischen Rehabilitierung des Namens (der Name ist nicht Schall und Rauch) gegen den von der Philosophie sonst nicht abzutrennenden Bann des Begriffs (der Subsumtions- wie der dialektischen Logik) zu verstehen, d.h. eher vor dem Hintergrund von Benjamins erkenntniskritischer Vorrede zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, als im Kontext der Fundamentalontologie Heideggers, gegen die Rosenzweigs Hinweis auf die „verandernde Kraft des Seins“ (im „Neuen Denken“) immer noch das entscheidende Argument liefert.
Das „ich mit Vor- und Zunamen“ ist übrigens nicht die „Person“, deren Begriff aus der lateinischen Theologie (Tertullian) stammt und heute zu einer verwaltungstechnischen Kategorie geworden ist. Die Differenz ist minimal, fast nicht mehr zu bestimmen, aber zugleich eine ums Ganze: Aufhebung der Differenz zwischen mir und den anderen, Resultat und Grund der Instrumentalisierung des Subjekts, Angleichung des Subjekts ans vergegenständlichte Objekt. Nicht zufällig definiert die Person das Subjekt der Schuld; Grund der Zurechenbarkeit. In der Theologie (zuerst in der Trinitätslehre) bezeichnet die Einführung des Personbegriffs den Ursprungspunkt des apologetischen Denkens, des Theodizee-Zwangs: Der Personbegriff setzt die Menschen und Gott unter Rechtfertigungszwang, gleichsam unter ständigen Anklagedruck. Er ist so nur mit einer Opfertheologie zu begründen, in der am Ende die Gottesidee selber untergeht.
Kann man die Stellung des Islam aus dem R.schen System herauslösen (S. 36), ohne das System selbst zu zerstören? Wird es nicht so wieder zu dem, was es doch um keinen Preis sein will: zur Religionsphilosophie, zur Weltanschauung?
Auf andere Weise ist dann freilich doch das „System zu zerstören“ – um es zu retten: Nach Auschwitz (und im Kontext einer Kritik des Herrendenkens in ihrem Kern: in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung) haben sich die elliptischen Zentren so verlagert, daß das System nur über eine Neukonstruktion zu retten ist. Die bloße Konservierung, die nützlich ist zum Verständnis, vergißt das Beste, trägt bei zur Zerstörung.
Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ ist auch ein Genie- und Gewaltstreich. Und genau von diesem Bann wäre es zu befreien. (Vgl. dazu auch die Bemerkungen Scholems zum Stern.)
Bei Heidegger ist von der Philosophie nur der autoritäre Gestus übriggeblieben, und dessen Begründung und Erhaltung dient die gesamte Fundamentalontologie. Die strategische und taktische Absicherung dieses Gestus ist ihr einziger Inhalt.
Meine Intention ist der des Historikers genau entgegengesetzt: mir geht es nicht um die Vergegenständlichung der Vergangenheit, sondern um ihre Entgegenständlichung: um das Eingedenken, um die Erinnerung, darum, auch in den fremdesten und chockierendsten Dingen noch meine eigene Geschichte zu erkennen. Was ich in mir selber aufarbeiten muß, steckt in dieser Vergangenheit.
Der raf ins Album: Die terroristischen Aktionen haben die ihrer Absicht genau entgegengesetzten Wirkungen; sie exkulpieren die Strukturen und Handlungen, die sie angreifen. So, wie nach den Morden an der Startbahn alles, was vorher passiert ist, vergeben und vergessen war. D.h. mit in Rechnung zu stellen ist immer die antiaufklärerische Wirkung, die Tatsache, daß im Rahmen des Schuldverschubsystems die andere Seite am stärkeren Hebel sitzt. Der Terrorismus macht die Charaktermasken des Bestehenden zu Opfern, und damit unangreifbar.


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