26.5.1995

Der Gegensatz von Sehen und Hören drückt in der Sprache in der Beziehung von Schrift und Wort sich aus. Worauf bezieht sich das Wort von den „sichtbaren und unsichtbaren Dingen“ im Credo? Ist nicht das Dogma der Versuch, das Unsichbare in Sichtbares: den Glauben in Wissen zu transformieren? Und war nicht genau das der parvus error in principio? Wer das Unsichtbare in Sichtbares zu transformieren versucht, setzt an die Stelle des Hörens den Gehorsam.
Das Dogma und die Logik der Schrift: Quod non est in actis, non est in mundo.
Das Dogma hat die Ohren verstopft.
Die Prophetie hat in der Tat in der Geschichte Jesu sich erfüllt; aber erfüllt heißt nicht abgeschlossen, heißt nicht, daß das Erfüllte damit zu etwas Vergangenem geworden ist: Es ist vielmehr auf eine neue Weise gegenwärtig geworden. Hat nicht erst die Kirche, durch ihre Art der Verarbeitung (durch theologische Objektivierung), es zu etwas Vergangenem, Erledigten, gemacht?
Stephanus sah den Himmel offen. Hat nicht Paulus, der in den dritten Himmel entrückt war, die Feste des Himmels wieder verschlossen und durch die Archonten versiegelt? Und hat nicht Paulus (ein „V-Mann“ der Sadduzäer, nicht der Pharisäer) das sadduzäische Prinzip, das er vertrat, ins Christentum mit herübergenommen und so dazu beigetragen, daß die jüdische Tradition aus dieser Fessel sich befreien konnte?
Der Gottesname „Vater“ gewinnt Sinn nur, wenn ich ihn auf andere beziehe: Nur dann werden die Sätze verständlich „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“ oder „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben …“ oder auch „Was ihr den Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.
War die Kopenhagener Schule nicht der Vorläufer der Postmoderne in der Physik? Beide haben die Logik des Sehens bis an die Grenze vorgetrieben, an der sie hätte ins Hören umschlagen müssen, aber dann wieder ins Sehen zurückgebogen.
In einen Prozeß hineingezogen werden kann ich auf dreifache Weise: als Ankläger, als Angeklagter oder als Verteidiger.
Sind Perfekt und Imperfekt die konjunktivischen Verkörperungen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit? Die indoeuropäischen Sprachen haben aus dem Imperfekt das Praeteritum gemacht: Sie ist die Welt zu einer durch die Vergangenheitsform (durchs Perfekt) abgeschlossenen Welt geworden (zum Präsens), die seitdem instrumental verfügbar ist. Das Wort, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden, revoziert das Praeteritum (und die Gewalt des Perfekt). Das Perfekt, das für uns zur abgeschlossenen Vergangenheit geworden ist, war in der Bibel inhaltlich erfüllt: Er starb alt und lebenssatt. Das indoeuropäische Perfekt ist der Sprachgrund der Totalitätsbegriffe Wissen, Natur und Welt.
Auschwitz ist die reinste Verkörperung des vom Perfekt vergewaltigten Imperfekt.
Theodor Haeckers Bemerkung über den „echten Hebräer“ gehorcht der Logik der bloß erbaulichen Bibellektüre, die seit je projektiv und antisemitisch war.
War der Himmelfahrtstag nicht seit je ein Männertag („Ihr Männer von Galiläa …“)? Waren nicht hier und beim letzten Abendmahl die Frauen ausgeschlossen?
Die Trinitätslehre hat die Attribute Gottes durch Objektivierung aus dem Imperativ in den Indikativ zurückübersetzt, sie für Herrschaftszwecke brauchbar gemacht. Hat sie damit nicht das Wort Jesu zu Petrus „Weiche von mir Satan! Du bist mir ein Fallstrick, denn du sinnst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ (Mt 1623) als Imperativ genommen?
Das Allgemeine ist, bezogen auf das Einzelne, das Gemeine.
Die Postmoderne vollstreckt den Bann des begrifflichen Denkens: den Verzicht auf Ziele und Resultate. Die Dekonstruktion ist die Entfaltung des Widerspruchs, der mit ihrer Objektivierung auch die Ziele und Resultate ergreift.
Mit dem Satz „Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ ist die Offenbarung fähig geworden, in die Völkerwelt hinauszugehen.
Der Vertrauens-Slogan der Deutschen Bank bezieht sich auf das Vertrauen, daß die Kunden in die Deutsche Bank setzen sollen, nicht auf das Vertrauen, das die Deutsche Bank in die Kunden setzt. Es ist ein durchaus einseitiges Vertrauen und meint eigentlich: Ihr könnt uns vertrauen, wir werden euch die Drecksarbeit abnehmen. Geldwäsche ist eine der wichtigsten Aufgaben der Banken: Man sieht dem Geld auf dem Konto nicht mehr an, auf welche Weise es gewonnen, erhalten und vermehrt wurde.
Wie wäre es mit der These, daß der Antisemitismus heute nicht aufgehoben, sondern nur neutralisiert, gleichsam in eine Latenzphase gebracht wurde?
Gibt es zu der Unterscheidung von gegen und wider (Gegner und Feind, Gegenstand und Widerstand) eine Entsprechung im Lateinischen oder Griechischen? Gehört diese Unterscheidung (zusammen mit dem naturwissenschaftlichen Begriff der Trägheit) zu den Ursprungsbedingungen des Dingbegriffs? Und hat diese Unterscheidung etwas mit der des Andern vom Fremden zu tun (ist der Andere der neutralisierte Fremde, der Gegner der neutralisierte Feind)?
Nach einem Hinweis von Jürgen Ebach bezieht sich das biblische „im Angesicht“ sowohl auf Gott wie auch auf den Feind. So hängt das Leuchten des Angesichts mit der Feindesliebe zusammen. Im Feind hasse ich die eigene Verblendung (das nach draußen projizierte verdrängte Innere, das ich in mir selbst nicht wahrhaben will, die projektiv ins Objekt verschobene Manifestation des Verdrängten, die die Welt verdunkelt).


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie