26.5.96

Zum Gesicht gehören zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher und ein Mund: Warum sind die aufnehmenden, empfangenden Sinnesorgane doppelt, das aktive (der sprechende Mund) hingegen nur einfach?
Sind nicht auch die ersten Manifestationen der Schöpfung doppelt: das Tohu und das Bohu, die Finsternis und der Abgrund, der Geist Gottes und die Wasser?
Sch’ma Jisrael: Angesprochen ist nicht der einzelne Israelit, sondern Israel (im einzelnen Israeliten Israel?).
Die Welt: das subjektlose Kollektivsubjekt, die subjektlose Gemeinschaft aller. Der Raum, das Geld und die Bekenntnislogik sind die Elemente der versteinerten Gattung (des versteinerten Herzens).
Die Eucharistie: Das Brot, das zum Wort wird, ist das gebrochene und mit den Armen geteilte Brot. Vergleiche die Geschichte in der Apostelgeschichte, die der Einsetzung der sieben Diakone vorausgeht, mit der Stelle in 1 Kor, die mit dem Hinweis endet, daß, wer das Brot und den Kelch unwürdig genießt, sich das Gericht ißt und trinkt.
Die Pforten der Hölle, das ist das Tor des Nordens (der Linken), das Tor aber ist der Ort der Versammlung, der ekklesia, der Kirche.
Die Urteilsmagie schirmt das Vorurteil gegen die Reflexion ab. Es ist kein Zufall, daß zu den Topoi des Antijudaismus der Hostienfrevel (die Phantasmagorie der Verletzung der Urteilsmagie) gehört.
Heute darf die Standesehre bestimter Berufe (Ärzte, Soldaten, Polizei) nicht angegriffen, dürfen Staatssymbole nicht verunglimpft werden.
(Die theologischen Wurzeln der raf:) Im Zentrum der thomistischen Theologie steht die Eucharistieverehrung, in dem der Hegelschen Philosophie der Dingbegriff. Das sensuum defectui aus dem Tantum ergo hat im Inertialsystem (der säkularisierten Gestalt der Orthodoxie, der verdinglichten Bekenntnislogik und der instrumentalisierten Urteilsmagie) sich vollendet.
Nur wer begreift, daß die Urteilsmagie dem Faschismus nicht nur nichts anhaben kann, sondern im Gegenteil ihn reproduziert, daß alles verstehen nicht alles verzeihen heißt, daß das Verstehen und Verzeihen (ebenso wie das Studium und die Berufsausbildung) vielmehr endlich zu entkoppeln sind, die Vernunft aus den Verstrickungen des Rechtfertigungszwangs zu lösen ist, wird fähig, die Gegenwart zu begreifen.
Allein die Sprache macht die Welt erfahrbar. Lassen die Kräfte sich bestimmen, die die Sprache (und mit ihr die Erfahrungsfähigkeit) zerstören? (das Urteil, die Mathematik, die intentio recta, die subjektiven Formen der Anschauung <die Unfähigkeit, das Hintere vom Vorderen, Rechts und Links, und das Obere vom Unteren zu unterscheiden>, die Medien, der Positivismus, das Schuldverschubsystem, das Gerede, die Reklame)
Ohne Sprache gibt es keine Wahrnehmung des Leidens, keine Schulderfahrung (werden Unglück und Verbrechen zu objektiven, wertfreien Vorgängen), lassen Tun und Leiden, Aktiv und Passiv, Täter und Opfer, Ursache und Wirkung, nicht mehr sich unterscheiden (die transzendentale Logik zieht ihre logische Kraft aus der Sprache, ihre „Apriorität“ aus den subjektiven Formen der Anschauung: aus der Neutralisierung des Leidens und der Schuld).


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