Seit wann wird Geschichte als Legitimationshilfe (und d.h. nationalistisch) verwendet, und aus welchen Gründen? Steht nicht das heutige Bibelverständnis unter dem Bann dieses Konstrukts (Bibel als „hebräische“ Nationalgeschichte, Bibel als Sammlung imperativer, vom Heiligen Geist inspirierter, exemplarischer Texte)? Ist dieses Schriftverständnis nicht die Rache des Indikativs? (Und sind die mittelalterlichen Fälschungen, die ihre Vorläufer in der Römischen Geschichtsschreibung haben, nicht im Kontext dieses Legitimationszwangs (dem noch die moralische Verwerfung gehorcht, die im Begriff der Fälschung mitklingt) zu verstehen?
Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Logik der historischen Erkenntnis, wenn man begreift, daß der Ursprung der kontrafaktischen Urteile in der Theologie liegt. Gehört nicht die Theologie, in der es kontrafaktische Urteile gibt, zum Begründungszusammenhang der Geschichte (der Vorstellung einer abgeschlossenen Vergangenheit)?
Sind nicht in der Trinitätslehre die beiden antagonistischen Elemente des Geschichtsbegriffs vereinigt: die legitimatorische Funktion der Geschichtsschreibung und die gleichzeitige Unterwerfung der Vergangenheit unter die richtende Gewalt der Gegenwart (asymmetrische Spiegelung: Vater und Sohn)?
Begriffe sind Brechungen und Reflexionen des Lichts, in dem die erkennende Kraft der Sprache gründet: des Namens. Verweist nicht die Geschichte vom Bogen in den Wolken nach der Sintflut auf diese Brechungen und Reflexionen? Vergleiche hierzu den Text des Basilius (der den Regenbogen als Erkenntnismodell benutzt). Ist nicht die Trinitätslehre das gebrochene und reflektierte Licht des göttlichen Namens (das gebrochene und gespiegelte Leuchten seines Angesichts)? Das Medium dieser Brechungen und Spiegelungen ist aufs genaueste bezeichnet in dem Satz (der die subjektiven Formen der Anschauung, ihre logisch-ästhetische Struktur, in sich abbildet): Das Eine ist das Andere des Anderen. Dieser Satz konstituiert den Weltbegriff und rührt an das Rätsel des Indikativs und der Urteilsform. Die Begriffe Spekulation und Reflexion gründen in diesem Zusammenhang. Der Gottesname ist im System der asymmetrischen Spiegelung gefangen (und zur Idee des Absoluten verandert).
In der transzendentalen Logik hat Kant das System von Spiegelung und Brechung (mit den Formen der Anschauung als Symmetrieebene) aufs genaueste reflektiert. Hegels Philosophie war die letzte Gestalt des „Bogens in den Wolken“ (ihr Vorläufer war die Trinitätslehre).
Das Feuer trennt das Licht von der Sprache, durch das Feuer sind beide aufeinander bezogen. Ist das Feuer die Manifestation des redundanten, sich auf sich selbst beziehenden Systems von Spiegelungen und Brechungen? Ist die Hegelsche Logik die genaueste Selbstabbildung des Feuers?
Die Eucharistie-Verehrung war ein Vorläufer der Exkulpationsautomatik: Die Anbetung des heiligen Dings war die Anbetung des Objekts, auf das man die eigene Schuld abladen, verschieben konnte. Durch den, den dieses Sakrament vergegenwärtigt, war die Welt entsühnt.
Die Todesfurcht (im Stern der Erlösung) rührt an das Problem der Vergangenheit. Sie rührt damit an den Grund des Problems des Wissens. Wissen können wir nur von Vergangenem, und im Konstrukt des Wissens steckt der Todeskeim der Vergegenständlichung, der seine Wurzeln im Begriff der Vergangenheit hat. Es ist dieser Todeskeim, der in der objektivierenden Erkenntnis und im objektivierenden Handeln (in der Praxis und in den Institutionen der Herrschaft) sich entfaltet. Benjamins Engel der Geschichte ist die Verkörperung der Trauer über das Vergangene.
Spekulation und Reflexion gehören zur Logik des Begriffs, und die ersten Begriffe waren die Namen, mit denen Adam im Garten die Tiere benannte, während der erste Name der Name war, mit dem Adam sein Weib nach dem Sündenfall benannte: Chawah, Mutter aller Lebenden, der Name einer „Gehilfin gegen ihn“.
Wenn Adam die Tiere benannte, und in dieser Benennung der Tiere seinen ersten Weltbegriff gewonnen hat, dann ist die Hegelsche Philosophie die Reflexion dieses Namens von innen (der ihm dann nicht zufällig zum Singular zusammenschießt: eigentlich dürfte es nach der Logik des Systems nur eine Art des Tiers geben, unterschiedene Tierarten gibt es Hegel zufolge nur, weil „die Natur den Begriff nicht halten kann“).
Die Austreibung des Mitleids aus dem Sehen ist das Gegenstück zur Austreibung des dialogischen Elements aus der Sprache (die subjektiven Formen der Anschauung sind ein Produkt der Monologisierung der Sprache, ihrer „Theoretisierung“).
Prophetie und Geschichte: Die Bücher Josue und Richter, Samuel und Könige gehören zu den prophetischen Büchern wie die transzendentale Ästhetik zur transzendentalen Logik: Sie liefern der Prophetie ihr „apriorisches“ Objekt.
Im Begriff (und d.h. schon im Benennen der Tiere durch Adam) verliert der Name seine Unschuld, die nur durch Reflexion der Herrschaft im Begriff (durch Reflexion des Weltbegriffs, durch „Übernahme der Sünde der Welt“) wiederzugewinnen ist. Hängt hiermit die geschlechtsspezifische Aufteilung der Heiligen in der Kirche nach der Märtyrerzeit zusammen: die Aufteilung in Confessores und Virgines?
Wird nicht die Linguistik heute noch vom Rassismus beherrscht, wenn sie nach einer „indogermanischen Ursprache“, die von einem „indogermanischen Urvolk“ gesprochen worden sein muß, fahndet, anstatt durch Reflexion der Sprachlogik, die in der Geschichte der Grammatik, dem Reflex der Herrschaftsgeschichte in der Sprache, sich entfaltet, den historisch-gesellschaftlichen Grund der Trennung und Verwirrung der Sprachen zu bestimmen? Steht nicht diese Reflexion der Sprachlogik, die Idee einer historischen Grammatik, immer noch unter einem Tabu?
Läßt die Vermutung sich begründen, daß die drei Totalitätsbegriffe der kantischen Philosophie, die Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt, ebenso wie auf ein systematisches auch auf ein sprach- und geschichtsphilosophisches Problem verweisen, daß sie in die Logik der Sprachgeschichte mit hereinspielen? Kann es sein, daß das Sanskrit den Ursprung des Wissens, die griechische Grammatik den des Naturbegriffs und die lateinische die Entfaltung und Stabilisierung des Weltbegriffs in sich abbilden und repräsentieren? Und bezeichnen diese Phasen der indogermanischen Sprachlogik (die an den jeweiligen grammatischen Konstruktionen sich müßten ablesen lassen) nicht Phasen der Beherrschbarkeit, der Instrumentalisierung dieser Totalitätsbegriffe (die dadurch erst zu Totalitätsbegriffen werden)? Verweist nicht insbesondere der Weltbegriff auf ein praktisches Moment in seiner Konstituierung: Gibt es die Welt im strengen Sinne nicht erst in der Gestalt der Weltherrschaft, des Imperiums? (Im lateinischen Weltbegriff verankert das Römische Imperium sich in den Köpfen der Beherrschten selber: In diesem Weltbegriff wird die verandernde Gewalt seiner Logik universal.) Und knüpft sich hier nicht die Verbindung zum Christentum, in dessen Gründungstexten der Weltbegriff eine ebenso zentrale wie rätselhafte Rolle zu spielen scheint? Nur im Kontext der römischen Herrschaft (und der Formen seiner Verankerung in den Köpfen der Bürger dieses Reiches) war es möglich, die weltsprengende Kraft der Tradition (durchs konservierende Dogma und durch die Gewalt der Bekenntnislogik) in eine weltkonservierende Macht zu transformieren. Nur so hat diese Tradition zweitausend Jahre Christentum überleben können.
26.8.1995
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