„Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (Ton Veerkamp, TuK 70, S. 23): Heißt das, daß, wenn Primo Levi seine Erinnerungen nicht niedergeschrieben hätte, Auschwitz „nicht passiert“ wäre? Heißt das, daß, wenn der 5. Strafsenat des OLG in Frankfurt jede Nachfrage nach dem, was in Bad Kleinen wirklich geschehen ist, wenn das Erzählen unterdrückt wird, dann auch die Ereignisse ungeschehen zu machen sind? Begründet dieser Satz nicht die Logik des Namens: Nestbeschmutzer? Begründet er nicht die Hoffnung der Täter (die Hoffnung, deren Logik Lyotard in seinen an Auschwitz anschließenden Reflexionen über das „vollendete Verbrechen“, das die Tat ungeschehen zu machen hofft, indem es auch die Zeugen aus der Welt schafft, untersucht, eine Untersuchung, die auch Licht in die Logik der frühchristlichen Märtyrer-Geschichte <und in die Umkehrung dieser Logik in der Gestalt des Confessors, der den Märtyrer ablöst> bringt)?
Zahl und Schein: Wie hängt der Begriff der Erzählung mit dem der Erscheinung zusammen? Ist nicht das Organisationsprinzip der ersten die Form der inneren Anschauung (die chronologische Einheit der Erzählung), das der zweiten hingegen die der äußeren Anschauung (die räumliche Einheit, in welche die Naturprozesse durch Verräumlichung der Zeit mit hereingezogen werden)? Erscheinungen sind Erscheinungen im Raum (ihre Gegenwart ist die der Präsenz des Objekts), während Erzählungen als Vergegenwärtigung von Vergangenem deren Gegenwart (nicht das Vergangene selber) als eine sprachliche, als erinnerte Gegenwart erst herstellt.
Dem kontemplativen Erzählen des Vergangenen entspricht das Beschreiben des Gegenwärtigen: In welcher Beziehung steht das Zählen zum Schreiben?
Das Erzählen, das heute notwendig wäre, hätte das Prinzip der chronologischen Einheit mit zu reflektieren.
Kann es sein, daß die Vorstellung sich widerlegen läßt, daß dem Niederschreiben einer Erzählung (des homerischen Epos oder der biblischen Erzählungen) eine Phase der mündlichen Tradition vorausgeht? Ist nicht vielleicht doch das Erzählen ein Produkt der Schrift? Wie hängen Epos, Astronomie und Schrift mit einander zusammen? Ist die Hieroglyphen-Schrift (und ihre Beziehung zum Tempel, deren Wände sie ziert) der Grund dafür, daß Ägypten kein Epos hervorgebracht hat, statt dessen die Pyramiden?
Zwischen der Himmelfahrt Jesu und Pfingsten liegt nur die Wahl des Zwölften, der stumm bleibt, und von dem dann nichts mehr erzählt wird. Der Zwölfte (sein Name war Matthias) füllt die Stelle aus, die durch den Verrat des Judas Iskariot freigeworden ist.
Ist das Interesse zu erfahren, was denn wirklich passiert ist, so unerheblich? Gehört nicht die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Geschehenen, die nicht aufhebbar ist, zur Wahrheit des Erzählten (zur Wahrheit dessen, was geschehen ist)? Es geht nicht um die nackten Tatsachen, aber auch nicht nur um das Kleid, das die Nacktheit verdeckt (die Legende), sondern um das Unerlöste in der Beziehung beider: um die Erfüllung des Worts, mit der das Vergangene erlöst wird, sich vollendet.
Hatte der Greuel, das Scheusal der Ägypter, das nach dem Wort des Moses an Pharao die Israeliten am dritten Tag nach dem Auszug aus Ägypten opfern wollten, etwas mit der „Sünde der Welt“ zu tun? Ist nicht der Weltbegriff der Inbegriff der Begriffe, Gesetze und Strukturen, in denen die Vergangenheit fortschreitend Macht über die Dinge gewinnt, der Inbegriff der die Dinge verschuldenden Gewalt; und ist das nicht der Feind, dem die Wahrheit immer erneut abgerungen werden muß? Die Erzählung ist nicht die Welt, aber sie lebt von der Spannung zur Welt.
Karl Thieme hat einmal gegen das berühmte Wort Leopold von Rankes darauf hingewiesen, es komme nicht darauf an, zu erkennen, wie es eigentlich gewesen sei, sondern was eigentlich geschehen ist. (Biblische Religion heute, Heidelberg 1960, S. 181) Auf dieses Was zielt die Erinnerungsarbeit, aus der das Erzählen sich nährt, auch wenn sie nicht nur im Erzählen sich äußert. Ist nicht jede Theologie, die diesen Namen verdient, Erinnerungsarbeit, und die Schrift der Schlüssel, der die Pforten der Erinnerung öffnet?
Haben das Wasser und das Trockene (des dritten Tages) etwas mit dem Was und dem Wer, die nach kabbalistischer Tradition im Namen des Himmels gründen, zu tun?
„Persönlichkeit“: Hierzu wäre an Rosenzweigs Bemerkungen zu diesem „höchsten Glück der Erdenkinder“ zu erinnern, zugleich aber daran, daß nicht sie, sondern die „Kinder Gottes“ es sind, auf deren Freiheit dem Römerbrief zufolge die ganze Schöpfung wartet. Jesus mag der Sohn Gottes gewesen sein, aber er war gewiß keine Persönlichkeit. Sprachgeschichtlich dürfte der Begriff der Persönlichkeit auf den gemeinsamen Ursprung mit der Ausgliederung und der Verselbständigung der Personalpronomina in den modernen Sprachen zurückweisen. Er verdankt sich der gleichen logischen Bewegung, der auch die Herauslösung des „Ich“ aus seinem dialogischen Kontext und seine idealistische Hypostasierung sich verdankt. Im Begriff der Persönlichkeit enthüllt sich das idealistische Absolute als Gattungsbegriff (und der Begriff der Zeugung im christlichen Dogma als deren theologischer Reflex). Frage: Wer ist das Ich im kantischen Begriff des transzendentalen Subjekt, im „ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“? Ist es nicht ein männliches Subjekt, das gegen alle „seine“ Vorstellungen als selbständiges, „autonomes“ Subjekt sich muß behaupten können, und ist es nicht das bürgerliche Subjekt, das es sich leisten kann, Herr all seiner Handlungen (und nicht das Objekt seiner Begierden und Triebe) zu sein? Schließt dieses Ich (das Ich der Persönlichkeit), ähnlich wie der frühchristliche „Confessor“, aus dem es sich herleitet, nicht ebenso wie die Frauen auch die Juden (und natürlich die Häretiker) von sich aus?
Das Sein, der Gegenstand der Ontologie, ist ein durch Neutralisierung unkenntlich gemachtes Maskulinum und zugleich ein von der Beziehung auf ein bestimmtes Subjekt abgelöstes (und so ebenfalls unkenntlich gemachtes) Possessivpronomen, und die Ontologie selber der Statthalter des Patriarchats in der Philosophie. Das Sein steht zwar völlig nackt da, aber es verbirgt sein Geschlecht durch das magische Verbot, es wahrzunehmen: durchs Verbot der Sprachreflexion, das zu den logischen Gründen des Rassismus gehört (der Wirkung dieses Verbots schienen Nazis nicht ganz zu trauen, die, wenn sie in Uniform fotografiert wurden, ihre Hände davor hielten).
Die Gravitation und das Selbstgefühl gründen in der Oben-Unten-Beziehung, während das Sehen (in dem die Schwere nicht erscheint) auf den Horizont und die vier Himmelsrichtungen verweist. Zur Befreiung des Sehens („da gingen ihnen die Augen auf“) gehört der aufrechte Gang.
Die Beziehung des Sehens zur Schwere reflektiert sich in der des Trägheitsprinzips zur Schwere (im Verhältnis der trägen zu schweren Masse, deren Identität der Einheit des Inertialsystems sich verdankt), auch in der des Tauschprinzips zur Schuldknechtschaft (die ihre Einheit außer sich, im Geld, erst finden).
Ist es nicht der Hahn, der einen Sünder vom Irrweg bekehrt? Und wie hängt die Geschichte von der Maria Magdalena und den Frauen, die hinausgingen, um den Leichnam Jesu zu salben, mit der Geschichte der drei Leugnungen Petri zusammen?
Wenn der Kreuzestod auf die Zerstörung Jerusalems verweist, verweist er dann nicht auch auf Auschwitz?
„Allein den Betern kann es noch gelingen, …“: Kann es sein, daß das Wort „Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein“ sich auf die Heiligung des Gottesnamens bezieht?
Die dritte Leugnung: Heute hält selbst sich die Theologie die Theologie vom Leibe, mit der Folge, daß sie unfähig geworden ist, in der Verhärtung des Herzens Pharaos die eigene wiederzuerkennen.
Als Hegel aus dem transzendentalen Subjekt (dem Ich in Kants „ich denke, …“) die Idee des Absoluten entwickelte, stieß er zwangsläufig auf Strukturen, die identisch waren mit denen des Dogmas, der Orthodoxie.
Hängt nicht Wittgensteins Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ mit der Schellingschen Formulierung, die Zukunft werde „geahndet“, zusammen, und erfüllen sich nicht beide aufs entsetzlichste in einer Welt, die die Zukunft verrät?
Ist nicht dieses „Ahnden“ eine logische Folge der Schellingschen Naturphilosophie, die den Schuldzusammenhang universal gemacht hat?
Natur und Moral: Die Urteilsmoral ist die Folge eines Selbstverständnisses, dem die eigenen Interessen und das eigene Handeln zur reinen, gegen jede moralische Reflexion immunen Natur geworden sind, zu „Sachzwängen“, deren Objekt es bloß ist. Es gehorcht nur den Gesetzen der Selbsterhaltung. Moral ist als Urteilsmoral (als „Wertethik“) Moral für andere: die Moral des steinernen Herzens, dem die Barmherzigkeit, die Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, gegenstandslos und zum flatus vocis geworden ist. Der ökonomische Grund dieser logischen Konstruktion läßt an den Argumenten sich ablesen, mit denen die Sprecher aus Wirtschaft und Politik die Notwendigkeit des Sparens aus den Taschen der anderen begründen. Ist nicht Natur, insbesondere auch die, die die Gesetze diktiert, nach denen ich vorgebe, zu handeln gezwungen zu sein, seit dem Ursprung ihres Begriffs das Korrelat des steinernen Herzens? Deshalb wird es eine Theologie, die diesen Namen verdient, ohne Kritik der „Naturwissenschaft“ nicht mehr geben.
27.7.96
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie
Schreibe einen Kommentar