Besteht nicht ein Zusammenhang zwischen dem Mißverständnis der Gewaltstellen im Alten Testament (z.B. Num 3117f) und der sexualmoralischen Interpretation der Prophetie? Auflösung durch prophetisches Text- (und Geschichts-) Verständnis? Gründen nicht beide Mißverständnisse in der Bekenntnislogik, die die moralische Nutzanwendung von der (vergangenen) historischen Realität trennt und durch diese Form der Beziehung zur Vergangenheit (deren logisches Zentrum das Inertialsystem ist), durch die Verwerfung der Idee der Auferstehung, das Symbolische zur Urteils- und Bekenntnismoral (zum Feigenblatt) depotenziert. Zu untersuchen wäre, in welcher Beziehung die Referenzstellen des Vorurteils zur Ursprungsgeschichte des Inertialsystems stehen, und ob nicht gerade hier die Gründe liegen, die das vom Inertialsystem beherrschte Bewußtsein zu jener Empörung und Wut reizen, die dann mit Hilfe der Bekenntnislogik als Moral sich verkleiden. Fühlen wir uns von den Stellen, die wir so abwehren, in Erinnerung an die Vergangenheit (und durch diese Vergangenheit) bedroht? Sind die zugrundeliegende Ängste apokalyptische Ängste? Jeder Exkulpationstrieb braucht seine Opfertheologie, deren Objekte er nach draußen projiziert. Und ist das nicht der Mechanismus, der heute die christliche Tradition sprengt, sie in einem allgemeinen Religionsbrei untergehen, verschwinden läßt? Auch die 68er haben die Generation ihrer Eltern nur als Projektionsfolie benutzt (und das mit großem empirischen Recht). Es gibt Adjektive, die gleichsam automatisch bestimmte Substantive nach sich ziehen: so scheint das Adjektiv „altorientalisch“ ohne das Substantiv Rachegesänge kaum lebensfähig zu sein. Ist nicht altorientalisch eine Art Steigerung von orientalisch, zu welchem Adjektiv Assoziationen wie Basar und Harem und die Verschleierung der Frauen, mit deren Hilfe die Männer vor dem eigenen unkontrollierbaren Naturtrieb geschützt werden sollen, gehören? Gibt es nicht einen Zusammenhang zwischen den logischen Exkulpationsmechanismen und dem projektiven Erkenntnisbegriff, der durchs Inertialsystem abgesichert wird? Wie verhält sich das zu dem Satz, daß nichts Vergangenes nur vergangen ist? Und welche historische und genetische Bedeutung hat in diesem Kontext die Astrologie: Läßt sie sich als eine frühe Schicht in der Verdrängungsgeschichte, auf der das zivilisierte Bewußtsein aufruht, bestimmen? Werden nicht die empirischen und die projektiven Anteile am Erkenntnisprozeß erstmals unentwirrbar? Es ist der gleiche Prozeß, in dem die Kategorien der Normalität und des Psychotischen ineinander übergehen, ihre Grenzen nicht mehr eindeutig sich bestimmen lassen. Er hängt zusammen mit der gegenwärtigen Phase der Geschichte des Weltbegriffs. Hat dieser Weltbegriff nicht eine astrologische Grundstruktur, die mit der modernen Astronomie nur verdrängt, nicht begriffen worden (eine Grundstruktur, die in einer Struktur der Sprache sich niedergeschlagen hat, die heute ebenfalls unter dem Namen der Linguistik verdrängt wird: in der Logik der Grammatik)? Und ist nicht diese zweite Verdrängung die gefährlichste (und die Reflexion der Geschichte, Struktur und Funktion des Weltbegriffs das einzige Mittel dagegen)? Die gesamte mathematische Naturwissenschaft ist ein Produkt der Projektion des Selbsterhaltungstriebs. Notwendig wäre mit der Kritik des Weltbegriffs eine negative Kosmologie. Wenn es eine Korrespondenz der ersten drei Schöpfungstage zum vierten bis sechsten Schöpfungstag gibt, sind dann nicht die großen Seetiere, die Fische und die Vögel des Himmels der Feste, die dann Himmel genannt wird, und den Wassern oberhalb und unterhalb dieser Feste zuzuordnen? Der Gottesname, die Vergangenheit und die Barmherzigkeit: Sind die Schmerzen der Wehen im Fluch über Eva die Schmerzen der Barmherzigkeit (der unversöhnten Vergangenheit)? Und ist der Staub, aus dem Adam gemacht ist und zu dem er wieder werden wird, der Staub der verratenen Zukunft?
28.4.1994
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