28.06.91

Nach der Katastrophe hat in Deutschland der Katholizismus und auch die Theologie, wie es scheint, endgültig das Nachfolge-Gebot verworfen, mit unermeßlich katastrophalen Folgen. Unter dem Druck der zugleich verdrängten Konfrontation mit Auschwitz ist Religion, anstatt sich auf die allein befreiende Erinnerungsarbeit einzulassen, der zweiten Schuld verfallen und blasphemisch geworden. Eingedrungen ist die Blasphemie als „Greuel der Verwüstung“ am „heiligen Ort“: in die Opfertheologie, zentral ins Verständnis der Eucharistie. Die Kirchenarchitektur und die kirchliche Ästhetik nach dem Krieg legen eindrucksvoll Zeugnis ab davon. Ablesen läßt sich das an dem projektiven Anteil in den kirchlichen Verurteilungskampagnen, zuletzt im Kampf gegen die Abtreibung: Abgetrieben wurde das Nachfolge-Gebot. Und die eigene Schuld, mit der die mater ecclesia nicht mehr leben kann, zur eigenen Entlastung auf die projiziert, die, nachdem sie keine Alternative mehr haben, dann wehrlos der Diskriminierungskampagne ausgeliefert sind.
Zugleich hat sich unter dem Druck der Katastrophe der Objektivitätsbegriff so verändert, daß er eine Alternative zur Opfertheologie nicht mehr zuzulassen scheint. Die Kritik der Opfertheologie ist nur noch möglich, wenn zugleich der natur- und weltkonstituierende Panzer des Objektivitätbegriffs selbst gesprengt wird: wenn die Schulddiskussion (die Reflexion des historisch-gesellschaftlichen Schuldzusammenhangs angesichts der Folgen des historischen Zusammenbruchs der Moral) endlich auf das theologisch allein angemessene Niveau des Nachfolge-Gebots gehoben wird.
Erkennbar sind die Folgen – außer in der politischen und ästhetischen Selbstmanifastation der Kirchen – in der Verwirrung der Nachkriegs-Theologie (es gibt bis heute keine christliche Theologie nach Auschwitz), in der Verfassung derer, die frustiert sind, aber von der Droge Kirche nicht lassen können, insbesondere an den die Kirchentage bevölkernden Jugendlichen (ihrer unaufgearbeiteten Belastung durch die Erwachsenen, die ihnen keine Hilfe waren, vielmehr gegen sie die Welt vertraten, aus der sie sich ausgeschlossen wußten). Auch hier scheint die merkwürdig ambivalente Bindung an die Liturgie (eine der ambivalenten Folgen der Liturgie-Reform), insbesondere in den Jugendlichen, bei denen, die (in der katholischen Kirche) nach dem Krieg zur Erstkommunion gegangen sind, nur die Alternative Verhärtung (Säkularisation und Externalisierung des Opfers durch Anpassung an die Welt) oder Sucht (Verinnerlichung des Opfers: Wiederholungszwang im Wunsch nach einer heilen Natur, nach Geborgenheit, Bindung ans Selbstmitleid) zuzulassen; beschädigt sind beide, oder: sind nicht doch beide nur zwei Seiten der gleichen Medaille?
Mit der Trennung der Opfertheologie und der Eucharistie-Praxis vom Nachfolge-Gebot wird die Gemeinheitsautomatik (für die in der Öffentlichkeit nicht zufällig mit hoher Repräsentanz die CDU einsteht, oder die Maxime: Du darfst alles, dich nur nicht erwischen lassen) kirchlich sanktioniert, das Zwangsbekenntnis (dessen kirchliche und politische Anwendung die Heuchelei, die Lüge toleriert, aber die moralisch begründete Abweichung diskriminiert) zu einer Waffe, der die, die unten sind, wehrlos ausgeliefert sind: insgesamt wird mit der objektiv gewordenen Heuchelei der Zusammenbruch der Moral (und der Religion, der Idee des seligen Lebens, die dem Denkverbot unterworfen wird) so kaschiert, daß eine blasphemisch gemachte Religion als Basis der Gesellschaft und des Zusammenlebens der Menschen weiterhin nutzbar ist.


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