28.9.1995

Liegt das Problem der Theologie heute nicht darin, daß in einer Gesellschaft, in der man keine Fehler mehr machen darf, Mitleid als Diskriminierung (als Hinweis auf einen unentschuldbaren Mangel) erfahren wird? Das unterscheidet Gott von der Idee des Absoluten: daß ihn eigene Handlungen „gereuen“. Gott ist lernfähig und nicht „allwissend“. Daß Gott etwas gereut, gehört zu den Attributen, die im Imperativ stehen.
Abraham argumentiert im Falle Sodom mit Blick auf die göttliche Gerechtigkeit, Moses, beim Exodus, im Hinblick auf das Ansehen: Was werden die Ägypter sagen?
Die Geschichte der Vergesellschaftung von Herrschaft ist die Geschichte der Sünde der Welt. Deshalb ist die Theologie, die Joh 129 aus dem Nachfolgegebot herausnimmt (mit der Vergöttlichung Jesu und der Entsühnung der Welt), Herrschaftstheologie.
Auch in der Theologie hat Griechenland Rom (die Orthodoxie dem Katholizismus) vorgearbeitet: Die griechische Sprache ist vordogmatisch (vorimperialistisch), die lateinische nachdogmatisch (imperialistisch); die griechische Sprache ist die Sprache des Ursprungs und der Entfaltung des Dogmas, die lateinische die seiner Instrumentalisierung. Nur in diesem Kontext werden die Differenzen zwischen natura und physis, mundus und kosmos, und zusammen damit die grammatischen Neukonstruktionen des Lateinischen (paradigmatisch: Plusquamperfekt und Futur II) durchsichtig. Besiegelt wird die Differenz, die ihr Zentrum in der Trinitätslehre hat, durch die Übersetzung von homousia mit consubstantialis. Umgekehrt: Erst die genaue Bestimmung der grammatischen Differenzen (zu denen der Natur- und Weltbegriff als Schlüsselbegriffe dazugehören) macht die lateinische Trinitätslehre (mit dem filioque) durchsichtig.
Die dies dominica ist der achte Tag (der „Tag des Herrn“), der noch nicht eingetreten ist, im Sonntag nur antizipiert wird. Was bedeutet es, wenn es heißt, daß der Menschensohn auch Herr des Sabbats ist?
„Tatsache“, „in der Tat“: Wodurch unterscheidet sich die Tat vom Handeln? Ist die Tat das Plusquamperfekt des Handelns? Wie verhält sich der Begriff der Tat zum Begriff der Welt. Eine „gute Tat“ ist eine Tat vor aller Welt. Es gibt die weltbegründenden Taten des Herakles (das Buch der Richter ist eine Parodie darauf). Das Handeln setzt die Welt voraus, die Tat begründet eine Welt. Taten sind geschichtsbegründend (deshalb gibt es Heldentaten), sie konstituieren und reflektieren den Blick des Historikers, des Nachgeborenen. Tatsachen entspringen dort, wo der Blick des Historikers die Gegenwart mit einbegreift (und durchdringt: ihren Begriff konstituiert). Die Vorform des Empirischen war das Historische. Tatsachen sind zusammen mit den Dingen entsprungen; beide sind Abkömmlinge der Sachen, die in Taten gründen.
Tatsachen (das gegenständliche Korrelat des Indikativs) werden in der Schrift durch „Dornen und Disteln“ symbolisiert; sie gehören zu einem Begriff der Welt, der durch Gewalt und durch Herrschaft von Menschen über Menschen sich definiert, der unser Bewußtsein und unsere Erfahrung determiniert, durchdringt und beherrscht. Tatsachen bilden sich in einem Raum, zu dessen Konstituentien auch das kontrafaktische Urteil gehört, in dem auch alles hätte anders gewesen sein können und Taten die Ursache sind, daß die Dinge so gewesen sind wie sie waren. Tatsachen gehören zum Begriff der instrumentalisierten Welt, die für alle subjektiven Ziele offen ist, soweit ihnen keine „Tatsachen“, Verkörperungen der Macht und der Ziele anderer, entgegenstehen; sie gehören zu einer Welt, die der Phantasie keine Grenzen zu setzen scheint, in der man sich alles auch ganz anders vorstellen kann. Am Widerstand der Tatsachen entzündet sich das Reich der Phantasie: die Kunst, die diesen Widerstand allerdings bloß spiegelt, nicht bricht. Gebrochen wird dieser Widerstand durchs Wunder, die Erfüllung des Worts.
Tatsachen entspringen gemeinsam mit dem Bewußtsein (mit der Konstituierung des Unbewußten und seiner Trennung von ihm) und mit dem Staat. Sie sind nicht naturgegeben, sondern das gemeinsame Resultat eines langen und schmerzhaften, eines katastrophischen Prozesses.
Die natürlichen Objekte des kontrafaktischen Urteils sind neben der politischen Geschichte die Objekte des Geschwätzes (des moralischen Urteils; die Urteilsmoral, deren verdinglichte Gestalt die bei Politikern so beliebte Wertethik ist, ist der private Anwendungsbereich des kontrafaktischen Urteils).
Der Indikativ (die transzendentale Logik) definiert den Inhalt des Kelches (der subjektiven Formen der Anschauung), der Kelch konstituiert den Indikativ. Ist der Kelch der Reflex des Himmelsgewölbes im Subjekt? Worauf bezieht sich dann das Bild des offenen Himmels?
Das kontrafaktische Urteil ist das Pendant des Raumes, in dem die kopernikanische Theorie sich bilden konnte. Die Logik der mathematischen Naturwissenschaften, die in den subjektiven Formen der Anschauung und in der Form des Inertialsystems sich entfaltet ist die Kehrseite der Logik des kontrafaktischen Urteils.


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