29.01.93

Der christologische Naturbegriff: Die Natur ist – als Objekt einer absoluten Naturbeherrschung – das absolute Opfer, sie nimmt die Schuld aller auf sich, und sie wird – als universaler Schöpfungsgrund – vergöttlicht. Die Funktion der Christologie heute scheint darin zu bestehen, das Irreale dieser Logik zu tabuisieren, zu verdrängen, weil daran der Schein des schuldfreien Lebens in der verschuldeten Welt hängt.
Franz Rosenzweig hat mich drei Dinge gelehrt:
– die Erkenntnisbedeutung der Umkehr,
– die theologische Bedeutung von Sprachreflektion (den theologischen Grund des Begriffs der benennenden Kraft der Sprache) und
– die Bedeutung des Angesichts.
Diese drei Momente begründen, indem sie jeden objektivierenden Zugriff ausschließen, einen offenen (erfahrung- und praxiskonstituierenden) Begriff der Theologie; jeder abschließende (dogmatische) Begriff wäre blasphemisch: Dort, wo die Theologie am Ende ist, geht’s eigentlich erst los.
Hat es sich Rosenzweig mit der Bestimmung des Islam als Plagiat der Offenbarung nicht etwas zu leicht gemacht; wäre der Islam nicht präziser zu bestimmen als eine Reaktion auf den Ursprung des Weltbegriffs, auf die theologische Rezeption des Weltbegriffs? Der Islam läßt sich als der Versuch bestimmen, angesichts des theologischen Sündenfalls (durchs „Herrendenken“: durch die Rezeption des Weltbegriffs) dieser Sünde nicht zu verfallen: Er glaubt, unschuldig bleiben zu können, indem er auf der Seite der Opfer des Weltbegriffs bleibt, den Schritt in den Objektivationsprozeß hinein nicht mitmacht. Auch im Christentum ist die Scheidung von Gottes- und Herrenfurcht nie ganz gelungen, aber der Islam hat sie schlicht in eins gesetzt. Er bleibt gleichsam vor der Wasserscheide, die die mythische Welt von der Zivilisation trennt, stehen. Aber der Preis war zu hoch. Der Islam als Ergebung in den Willen Gottes ist in Wahrheit Ergebung in den Lauf der Welt, die unkritisch als der Wille Gottes aufgefaßt wird. Der Islam kennt keine Erbsünde (und das Christentum möchte die Erinnerung daran heute am liebsten abschaffen, nachdem die Opfertheologie als Lösung nicht mehr greift): Für ihn ist die Welt so wie sie ist, das reine Werk der täglich sich erneuernden Schöpfermacht Gottes, seiner „Allmacht“ (welchen Begriff die christliche Theologie vom Islam übernommen hat).


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