29.1.1997

Wenn Schuld nicht nur ein subjektives Gefühl, sondern etwas Objektives Ist, dann ist die Psychoanalyse keine psychologische, sondern eine logische Theorie, dann verweist der Ödipuskomplex nicht nur auf eine innerfamiliäre Konstellation, sondern auf einen historisch-gesellschaftlichen Sachverhalt.
Der Name des Menschensohns rührt an diesen Sachverhalt: Er ist antitotemistisch und zugleich nichtödipal, er zielt auf die Aufhebung der „Sünde der Welt“, der Sünde Adams, die der Menschensohn „auf sich nimmt“ („Nicht Adam, sondern jeder Mensch ist der Adam seiner eigenen Seele“ – Apokalyptik, S. 184). Die Apokalypse ist das jüdische Korrelat und die Selbstreflexion des Ödipus-Komplexes (das Licht im dunklen Innern des Ödipus-Komplexes).
Als Sohn Gottes spricht Jesus in der ersten Person, als Menschensohn in der dritten. Und den entscheidenden Satz über ihn sagt der Täufer, den sagt er nicht selbst: Seht das Lamm Gottes … (zum agnus dei haben ihn die anderen, hat ihn die Welt gemacht; zum Menschensohn gehört das Wort: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …, dazu gehört auch das andere Wort von der Bekehrung der Herzen der Väter zu ihren Kindern).
Das völlige Unverständnis der Apokalypse läßt sich an dem Text auf S. 184 (aus Robert Harvey Charles: Prophetie und Apokalyptik) aufzeigen:
„Es gibt zahlreiche andere Abschnitte, die die moralische Tiefe und Innerlichkeit dieser Literatur zeigen. Kein Lehrer christlicher Ethik könnte einem besiegten Rivalen einen edleren Rat geben als diesen: ‚Hat einer mehr Glück als ihr, seid nicht betrübt, sondern betet für ihn, damit er vollkommenes Glück erlange‘ (Test. Gad VII, 1); oder ‚Und wenn euch jemand Böses zufügen will, so betet ihr durch Gutestun für ihn, und ihr werdet von allem Bösen vom Herrn befreit werden‘ (Test. Jos. XVIII, 2); oder: ‚Denn der Fromme erbarmt sich über den Schmähenden und schweigt‘ (Test. Benj. v, 4).“
Hier sind die fürchterlichen Folgen eines Universalismus, der den apokalyptischen Grundgedanken der Asymmetrie, der Differenz zwischen Imperativ und Indikativ, zwischen dem Gebot, das an mich ergeht, und dem Urteil, das ich über andere fälle, nicht begriffen hat, mit Händen zu greifen: die Verwandlung der Moral in den Zynismus des Siegers, der den Besiegten Moral lehren will: Hier liegt der Kern des antisemitischen Vorurteils mitten in der Theologie. Die moralische Autorität, die hier für den „Lehrer der christlichen Ethik“ in Anspruch genommen wird, zerspringt unter dem Gesetz der Asymmetrie.
Was hat die Psychoanalyse mit dem Problem des apagogischen Beweises (dem Problem der Beweisumkehr) zu tun?
Der Traum des Nebukadnezar: Ist das nicht der Traum, den die Herrschenden vergessen haben, während die Beherrschten ihn an ihrem eigenen Leib erfahren?
Kopernikus hat die Tat des Alexander vollendet: Er hat den Knoten, der zu lösen wäre, endgültig zerschlagen.
Der Satz „Nur Gott sieht ins Herz der Menschen“ verweist auf eine Grenze, die außerhalb der Theologie nicht zu erkennen ist: die Grenze zwischen Gebot und Urteil.
Mit dem Problem des Imperativs, der Asymmetrie, der Unumkehrbarkeit der Beziehung von Subjekt und Prädikat hängt es zusammen, wenn biblische Erzählungen niemals exemplarisch, niemals im Sinne des Vorbilds verstanden werden können. Auch das Vorbild fällt unters Bilderverbot. Die Nachfolge gilt dem Namen.
Et verbum caro factum est: Heißt das nicht auch, daß es einen Sprachleib gibt?
Haben die vier Winde bei Daniel etwas mit den vier apokalyptischen Reitern zu tun?
Verhalten sich nicht Natur und Welt wie die beiden Sätze aus dem Schöpfungsbericht: „Die Erde aber war wüst und leer“, und „Finsternis lag über dem Abgrund“? Vgl. hierzu die biblischen Texte über das Licht und Finsternis („Ich schaffe die Finsternis und bilde das Licht“, „Ihr seid das Licht der Welt“).
Hegel fällt unter den Satz „Laß die Toten ihre Toten begraben“.


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