Bekenntnislogik ist Stellvertreter-Logik (mit der Opfertheologie als Schuldverschubsystem). Hierzu ist Joh 129 in der Tat ein Schlüsseltext (Ersetzung des Nachfolgegebots durch das theologische Konstrukt der „Entsühnung der Welt“).
In den gleichen Zusammenhang gehört das Paulus-Wort, daß durch das Gesetz die Sünde gekommen sei, das nur durch die Bekenntnislogik zur Grundlage der Rechtfertigungslehre geworden ist. Bezieht es sich nicht auf die vorausliegende Transformation des Gebots ins Gesetz, in der die Bekenntnislogik gründet (auf das gemeinsame Pflügen von Ochs und Esel)?
Die Transformation des Gebots „Du sollst nicht töten“ in ein Gesetz läuft auf die Verurteilung des Mörders hinaus.
Hegel hat einmal auf die Veränderung des Krieges (und in der Konsequenz dieser Veränderung auf die des Staates) durch die Erfindung der Fernwaffen (die technische Perfektionierung von Pfeil und Bogen durch die Erfindung des Pulvers: durch Kanone und Gewehr) hingewiesen, die den Feind endgültig aus der Konstellation des Angesichts herausgenommen, das Töten im Krieg zu einem abstrakten Vorgang gemacht hat: Das Töten ist zu einem technischen Vorgang geworden. Die Erfindung des Schießpulvers hat den realen Feind durch das Feindbild (und die Barbaren durch die Wilden) ersetzt. Die gleiche Logik (die Logik der Verdrängung des Angesichts und des Schreckens) liegt der „Erfindung“ der Gefängnisse, der Irrenanstalten und der Schlachthäuser zugrunde.
In Auschwitz wurde sowohl technisch-industriell als auch von Angesicht zu Angesicht getötet. Himmler: „… und dabei anständig geblieben zu sein“.
Ist der „Hinterhalt“ (die strategische Form der List) zusammen mit Pfeil und Bogen (und sind beide zusammen mit dem Staat) erfunden worden? Gibt es nicht biblische Geschichten, die diese Beziehung dokumentieren (Zusammenhang mit dem „Bogen in den Wolken“)?
Nach 2 Sam 1 läßt David den Amalekiter töten, der (im Widerspruch zu der Darstellung in 1 Sam 31) bekannte, er habe Saul getötet. „Dein Blut über dein Haupt! Denn dein eigner Mund hat wider dich gezeugt, da du sprachst: Ich habe den Gesalbten des Herrn getötet.“ (Vgl auch 2 Sam 4: Die Ermordung Isbaals durch Baana und Rechab, die Söhne Rimmons aus Beeroth, und deren Tötung durch David.)
In 2 Sam 5 übersetzt nur Riesler mit „die Dunklen und die Blonden“, während die Zürcher Bibel, aber auch Zunz mit „die Blinden und die Lahmen“ (und Buber mit „die Blinden und die Hinkenden“) übersetzen.
Steht nicht das Prophetenwort „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ gegen die Instrumentalisierung der Rache durch den Staat, durchs Recht? (Und ist nicht die Diskriminierung dieses Worts, die es als Beweis für einen „altorientalischen Rachegott“ nimmt, nur ein Mittel, die Erinnerung an die staatskritischen Elemente der Prophetie zu verdrängen: Die Rache soll das Monopol des Staates bleiben. Aber genau das ist das Ursprungsmotiv der Judenfeindschaft und des Antisemitismus.)
Was geht in den Köpfen vor sich, wenn die Polizei Bewohner der Slums in Montevideo festnimmt und zwingt, durch den Slum zu laufen und zu rufen „Hoch lebe die Polizei“?
Oder: Was ist in der Ursprungsgeschichte der Kirche passiert, als sie den Kreuzestod Jesu instrumentalisiert, ihn zur Grundlage der Opfer- und Sakramententheologie gemacht hat?
Und was geht hier vor, wenn in deutschen Staatsschutz-Verfahren die Angeklagten generell zu Feinden werden?
Muß nicht jeder Befreiungskampf heute auch ein Kampf gegen bestimmte Formen der Logik sein: gegen jene Formen der Logik, die verhindern sollen, die Folgen des eigenen Tuns noch wahrzunehmen?
Die Grenze zwischen Offenbarung und Mythos ist identisch mit der Grenze, die die Schuld von der Sünde trennt. Jesus hat „die Sünde der Welt“ auf sich genommen, nicht die „Schuld der Welt“ hinweggenommen. Die Bemerkung Emmanuel Levinas‘, daß alle Gewissensprobleme (man könnte auch sagen: alle Schuldprobleme) apriorische Probleme sind, hängt hiermit zusammen.
Die subjektiven Formen der Anschauung haben die Welt „verurteilt“ (dadurch ist die Welt zur Welt geworden). Sie haben die Logik des kopernikanischen Systems zu einer apriorischen Logik gemacht. Die Bedeutung der speziellen Relativitatstheorie Einsteins liegt darin, daß sie die verurteilende Gewalt des Systems auf das System selber angewandt hat: daß sie es verurteilt hat.
Gegenständlich, stillgestellt, ist das Vergangene nicht an sich, sondern nur für den, für den es vergangen ist. Die Objektivität der Vergangenheit ist in sich selber subjektiv vermittelt, zu ihren Konstituentien gehört der Akt der Objektivierung (wie die Geschichtsschreibung zur Geschichte). Mit dem Fortschreiten der Geschichte ändert sich nicht nur unser Blick auf die Vergangenheit, sondern es ändert sich die Vergangenheit selber (die allein durch unsern Blick, durch unsere Erinnerung, Sein gewinnt). Der Weltbegriff und die ihn konstituierenden subjektiven Formen der Anschauung leugnen diese Veränderung. Wirkliche Objektivität gewinnt die Vergangenheit nur im Licht der Erlösung, der Idee der Auferstehung.
Das Ideal einer objektiven, die Tatsachen ein für allemal feststellenden Geschichtsschreibung leugnet die Hoffnung, die auch die Toten mit umfaßt.
29.12.95
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