Ist nicht die „Bruderschaft“, als Form der Allgemeinheit, die in der gemeinsamen Beziehung zum „Vater“ gründet, das Medium, in dem die Logik der Schrift (und mit ihr der Begriff des Wissens) sich entfaltet: das Medium der Vergesellschaftung, des Objektivierungsprozesses und der Verweltlichung (Ursprung des Neutrum, Bekenntnislogik)?
Fantastisch die Ableitung des Begriffs „frei“ (und der „Liebe“) aus dem Selbstmitleid, dem Bedürfnis geliebt zu werden (Benveniste, S. 257ff): Folge des Opfers der Vernunft, das die Bedingung der Aufnahme in die Brüderhorde ist: deren späterer Repräsentant ist das Bekenntnis, dessen Logik hier entspringt.
Der Begriff des Tieres und der der Selbsterhaltung sind korrelative Begriffe; deshalb gehört der Weltbegriff, der Inbegriff der gegenständlichen Korrelate der Selbsterhaltung, zu dem des Tieres. Die Menschwerdung beginnt mit der Fähigkeit, das Selbsterhaltungsprinzip zu reflektieren.
Ist nicht mit der „affektiven Beziehung zum Selbst“, die dem indoeuropäischen Begriff der Freiheit zugrundeliegt, der Grund dafür gelegt worden, daß im Deutschen das Sein sowohl das allgemeine Possessivpronomen als auch den Infinitiv des Hilfsverbs „Sein“ bezeichnet (vgl. S. 257 und S. 260)? Diese affektive Beziehung zum Selbst ist Teil eines Schuldzusammenhangs, den das Christentum theologisch verankert hat: Sie konstituiert sich in einer Gestalt der Selbst-Exkulpierung (der „Sündenvergebung“), die über das theologische Konstrukt der „Entsühnung der Welt“ (der Opfertheologie und ihrer theologischen Konnotationen) vermittelt ist (und dem Verweltlichungsprozeß seine Schubkraft verleiht).
Raub der Sabinerinnen: Der Funktion der „angeheirateten Verwandschaft“ im Kontext der indoeuropäischen Institutionen liegt eine im Eigentumsprinzip gründende Rechtsbeziehung zugrunde. Ihr Ursprungsmodell ist der Frauenraub, der der ersten Gestalt der Ehe in der Männerhorde ähnlich zugrunde liegt wie der Diebstahl dem Handel. Gründet das Institut des Privateigentums (sowie der Ehe und des Staates) nicht doch generell in der gewaltsamen Aneignung der Beute durch nomadisierende Männerhorden (das erste rechtsfähige Eigentum waren Sklaven und Frauen)?
Benveniste hat nur bedingt recht, wenn er versucht, den Begriff des philein, des Liebens, aus der Possessivbeziehung herauszulösen. Selbstverständlich ist er nicht auf die positive, dingliche Eigentumsbeziehung eingeschränkt; aber konstituiert er sich nicht in einer Eigentumsordnung, die auch das Subjekt, den Eigentümer, in ihren Bann zieht und verändert (im Kontext des Ursprungs des Staates, dessen Vorläufer die Brüderhorde ist, und der die Eigentumsordnung, in der es dann Eigentum als Privateigentum überhaupt erst gibt, konstituiert). Wer die Idee des richtigen Handelns, und wer Schuld und Verantwortung an den König und die durch ihn gesetzte Rechtsordnung delegiert, wer sie von der Barmherzigkeit trennt, bleibt unversöhnt, anfällig fürs Selbstmitleid, süchtig danach geliebt zu werden.
Das Geliebt-werden-Wollen ist ein apriorischer Tatbestand im Herrschaftsbereich der Ontologie und diese eine Emanation des Staates.
Das Christentum ist dem Liebessyndrom verfallen, als es die Prophetie vor dem Hintergrund des Theologumenons seiner Erfüllung im Christentum als erledigt und abgetan, wie in der vorchristlichen Vergangenheit, so auch heute nur für die Juden zuständig, definierte. Dieses Konstrukt gehört in die Ursprungsgeschichte des Antisemitismus. Der Antisemitismus war immer schon ein Rädchen im Exkulpationsmechanismus.
Die logischen Strukturen, in die (Glaubens-)Bekenntnis und Sündenvergebung heute geraten sind, werden durchsichtig in der Reklame (die Adorno zufolge den Tod verschweigt).
Der Fundamentalismus ist der Greuel am heiligen Ort: Er ist nicht mehr durch bloße Verurteilung zu bekämpfen, sondern allein durch Reflexion und Auflösung des Schuldzusamenhangs, zu dessen Konstituentien die Verurteilung und zu dessen Folgen der Fundamentalismus gehören.
Die Schlange, die das klügste aller Tiere war, hat das Wissen erfunden. Welche Beziehung besteht zwischen der Schlange (dem saraph) und den Seraphim? Nicht die Seraphim, sondern die Cherubim mit dem „kreisenden Flammenschwert“ stehen vor dem Eingang des Paradieses.
Wut ist ein unkeuscher Zorn. Die Empörung hat ihn zur kleinen Münze gemacht, für den täglichen Gebrauch (im Tratsch) umgeformt. Wessen Bild trägt diese Münze?
In welcher Beziehung stehen die kantischen Antinomien der reinen Vernunft zur Logik des Beweises, was bedeuten sie für die Logik des Beweises? Im Zusammenhang des Rechts gibt es drei Beweisverfahren: den Zeugenbeweis (hierzu gehören das Martyrium und die Folter), den Indizienbeweis (ausgebildet in der Geschichte der Hexenvefolgung) und das Geständnis (das Judesein war einmal das absolute, vom Juden nicht mehr widerrufbare Geständnis). Als „sicherstes“ Verfahren gilt das Geständnis, in dem der Angeklagte die Schuld auf sich nimmt („gesteht“): Dieses Verfahren spricht den Richter frei, während der Zeugen- und der Indizienbeweis der Würdigung durch den Richter unterliegen, ihn in die Verantwortung mit hereinnehmen. – Im Recht führt das Bekenntnis der Schuld, die Übernahme der Verantwortung, nicht zur Befreiung, sondern zum Urteil und zu der als Strafe neutralisierten Rache; der Zeugenbeweis unterliegt dem Verdacht des falschen Zeugnisses, während der Indizienbeweis die Möglichkeit des Fehlurteils (der Täuschung oder des Irrtums) nicht ausschließt.
Verweist nicht das Phänomen der Fälschungen in der Geschichte auf ein herrschaftsgeschichtliches Problem? Die Fälschung gehört ebenso zur Herrschaftsgeschichte wie Mord und Raub; sie gehört zur Herrschaftsgeschichte als Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der projektiven Erkenntnis: als Schatten des dem Erkenntnistriebs innewohnenden Exkulpationstriebs. Hegels List der Vernunft gehört in diesen Zusammenhang. Die Geschichte der Fälschung vollendet sich in der Vorstellung des unendlichen Raumes und der unendlichen Zeit: in der Konstituierung der subjektiven Formen der Anschauung (der Objekte der kantischen Antinomien).
Das hängt zusammen mit der eigentumsbegründenden Kraft und Funktion des Staates, dem Nationalismus als Manifestation der Gewalt gegen die konkurrierenden Eigentumsansprüche anderer Nationen.
Es wäre zu untersuchen, ob und wie die anwachsenden Einbruchs- und Diebstahlsphantasien in den Medien und in der Gesellschaft logisch mit der anwachsenden Xenophobie zusammenhängen.
Sind nicht die Stämme und Völker, Sprachen und Nationen Denkmäler der Geschichte der Konstituierung der Raumvorstellung?
3.1.1995
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