3.10.1994

Theologie beginnt, wenn endlich einmal nicht mehr die Substantive großgeschrieben werden, sondern allein der Gottesname: wenn Erkenntnis aus dem Bann der Verdinglichung heraustritt.
Das Substantiv ist eine Steigerung des Nominativ und setzt die Trennung des Nominativ vom Akkusativ voraus (wie sie im Deutschen nur dem Maskulinum, nicht jedoch dem Femininum, eignet, während die griechische und lateinische Sprache die Grenze zwischen Person und Sache legt (nur das Neutrum kennt die Identität von Akkusativ und Nominativ), in den anderen modernen Sprachen erstreckt sich die Neutralisierung des Nominativ, seine Angleichung an den Akkusativ, auf die gesamte Deklination.
Müßte man nicht in Anlehnung an die „Haupt- und Staatsaktionen“ (im barocken Trauerspiel) die Substantive (die ebenfalls dem Barock sich verdanken) Haupt- und Staatswörter nennen? Die Substantive sind Ausdruck einer Staatsmetaphysik, zu der auch der Titel des Staatsanwalts (dessen sprachlogischer Grund eine eigene Untersuchung verdiente) gehört.
Die „Schamlosigkeit der Glaubensbekenntnisse“ (Levinas: Schwierige Freiheit, S. 70) ist eine Konsequenz aus der Logik der Schrift – wie auch die Verinnerlichung der Scham, die zum Kontext des Ursprungs der modernen Naturwissenschaften gehört und den Konfessionalismus begründete: Sie ist Teil einer Phase der Geschichte der Logik der Schrift und gehört (wie der Kreuzestod und wie die Ärgernisse, die kommen müssen) zur „Erfüllung der Schrift“. Das letzte Produkt der Verinnerlichung der Scham (und der darin gründenden Schamlosigkeit) ist der Skinhead. Hier hat die verinnerlichte Scham das Subjekt ausgebrannt; dafür rächt es sich an den andern. Das Angeblicktwerden erinnert an die verdrängte Scham und ist deshalb unerträglich und Auslöser der Aggression.
„Herr der Himmelsheere“: Ist das nicht der Herr und Adressat der Engelschöre? Sind die Engelschöre die Himmelsheere?
Rührt der Name des Himmels nicht an das gleiche Problem, das im Deutschen im Verhältnis des Femininum zum Plural steckt: Die Deklination des bestimmten Artikels im Femininum singular ist identisch mit der allgemeinen Plural-Deklination. Ist hier nicht die Grenze, an der das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem aus dem starren Subsumtionsverhältnis des Begriffs sich löst und in ein Umkehrverhältnis transformiert wird? Der Begriff der Materie verdankt sich der Abstraktion von diesem Umkehrverhältnis, dessen gegenständliches Korrelat die Feste des Himmels ist (deren Ausdruck ist das Gravitationsgesetz): Die Materie ist das gleichnamig gemachte Ungleichnamige.
Grenzen der Beweislogik, Zeuge und Zeugnis: Selbst die Gestalt des Märtyrers ist vor Mißbrauch nicht geschützt: Die „Heldenfriedhöfe“ machen von diesem Konstrukt Gebrauch, wenn sie den „Heldentod“ zum Zeugnis für die Wahrheit des Bekenntnisses zur Nation instrumentalisieren. Das war der Hintergrund und die Basis der faschistischen Parole „Blut und Boden“. Mit Hilfe dieses Konstruktus schirmt der Nationalismus gegen jede Kritik sich ab, wenn er auf den Tod und das Blut der Helden sich beruft. Das Blut der Helden heiligt den Boden, auf dem es vergossen wurde.
Vgl. hierzu
– den biblischen Satz von der Erde, die „der Schemel Seiner Füße“ ist,
– die Zerstörung dieses Satzes durch das Institut des Privateigentums, die den Boden zur Ware vergegenständlicht (Staat, Eroberung und Handel),
– die logische Sanktionierung dieses Vorgangs durch die naturwissenschaftliche Vergegenständlichung der Welt, durchs Inertialsystem.
Die Kopernikanische Wende hat durch Identifikation von Last und Joch im Begriff der Materie Gottes Thron und den Schemel Seiner Füße zerstört.
Grundsätzlich obliegt im Rechtsstreit die Beweispflicht der Anklage und nicht der Verteidigung; der Verteidigung obliegt sie nur aufgrund der gleichen Lücke in der Beweislogik, der auch das Faktum, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist, sich verdankt. Auf dieser Grundlage wäre (gegen Carl Schmitt) nachzuweisen, daß wirkliche Souveränität im Gnadenrecht, nicht im Exekutionsrecht sich manifestiert.
„Ich werde euch den Beistand senden“: nicht zur Selbstverteidung, sondern zur Verteidigung der Barmherzigkeit, zur Verteidigung des Glücks, das der Erfüllung des tiefsten Wunschs der Menschen sich verdankt, endlich uneingeschränkt gut sein zu dürfen.
Wenn die Theologie hinter dem Rücken Gottes Gott autistisch macht, und wenn es stimmt, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, dann liegt die eigentliche Wirkung dieser Theologie darin, daß sie nicht Gott, sondern die Gläubigen zum Autismus verführt. Bezieht sich der Satz vom Binden und Lösen auf diesen Sachverhalt?
Die Philosophie wird zur monologischen Theorie dadurch, daß sie nur das Denken des Andern ins eigene Denken mit aufnimmt (durch die noesis noeseos, die sich bei Kant zur Erkenntniskritik entfaltet), nicht aber die Barmherzigkeit, das Votum für die Armen und die Fremden, die „Witwen und Waisen“. Das Denken des Denkens konstituiert sich im Verhältnis zur Natur, es verkörpert, vergegenständlicht, materialisiert sich im Weltbegriff (der die Barmherzigkeit a limine aus dem Begriff der Erkenntnis ausschließt). Es schlägt seine Wurzeln im Subjekt in den subjektiven Formen der Anschauung. Diese Wurzeln sind die Wurzeln des Baumes der Erkenntnis und das Instrument der Vergesellschaftung zugleich.
Emmanuel Levinas hat die These Hermann Cohens, wonach die Attribute Gottes keine Attribute des Seins, sondern des Handelns sind, verschärft: Ihm zufolge stehen die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ (Schwierige Freiheit).


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