3.9.1995

Leiden nicht alle christlichen Bibel-Übersetzungen daran, daß sie zwangshaft die Spuren der Herrschaftskritik verwischen müssen? Eines der Mittel dieser Spurenverwischung war die Übersetzung der Prophetie in den historischen Indikativ: die Transformation des „Alten Testaments“ ins Vergangene (das traditionelle christliche Verständnis der „Erfüllung der Prophetie“ in Christus war die Voraussetzung). So hat der „Gott der Liebe“, der die Herren exkulpiert, den „Gott der Rache“, der sich der Erniedrigten annahm, besiegt. Der Tag des Ewigen war nahe, aber er wurde vertagt.
Der Begriff wendet die Schulderfahrung, die im Namen laut wird, nach außen, projiziert sie ins Objekt, das in dieser Projektion sich konstituiert. Natur und Welt sind die Repräsentanten der externalisierten Sünde und Schuld.
Der Gott der Liebe ist nicht der Barmherzige: Die Barmherzigkeit ist nicht der Widerpart (die „abstrakte Negation“) der Rache, sondern Resultat ihrer Umkehr.
Die Dinge beim Namen nennen, Roß und Reiter nennen: Heißt das nicht, den Schuldigen benennen? Ist die benennende Kraft der Sprache nicht ein Teil des Schuldverschubsystems? Und sind Roß und Reiter (die vier apokalyptischen Reiter) nicht das Gegenstück zum Wagen (Ez und Hoh)?
Ist das gerade Bein des Cherubs (Ez 1) ein nicht gebeugtes Knie? Was hat das gebeugte Knie mit der Orthogonalität und mit der Orthodoxie zu tun?
Schuldverschubsystem und Opferfalle: Heute wollen alle geliebt werden. Heißt das nicht, daß sie Herrschaftskritik nur solange bereit sind zu akzeptieren, wie sie selbst als Opfer von Herrschaft betroffen sind?
Hat Jesus nicht das Feuer schon vom Himmel geholt, und brennt es nicht bereits: als Feuer der Hölle in der Phantasie der Gläubigen? War nicht die Hölle das Produkt projektiver Verarbeitung der Verdrängungsmechanismen, die dann in den Naturwissenschaften, die mit der Hölle auch den Himmel beseitigt haben, sich entfalteten: eine Vorstufe des Inertialsystems?
Wenn die Sintflut die Materialisierung der Dinge (das gegenständliche Korrelat der Ich-Bildung) symbolisiert, ist dann nicht die Vorgeschichte mit den Adamstöchtern und den Gottessöhnen Symbol der Ich-Bildung? Ist hier die erste Stelle, an der das Attribut „schön“ erscheint? (Die Adamstöchter waren „schön von Aussehen“, während es von Rahel, Joseph und Esther heißt, sie seien „schön von Gestalt und schön von Aussehen“.) Wie verhält sich die Schönheit (des Geschaffenen) zur Herrlichkeit (Gottes)? Ist nicht das Bild des Gottesknechts das Gegenbild des Schönen („weder Gestalt noch Schönheit“, Jes 532)?
Kultur für alle? Sollte nicht das dumme Staunen vor den „Kulturgütern“ endlich ein Ende haben?
Von Kindern, die schlimme, nicht mehr verarbeitungsfähige Erfahrungen hinter sich haben, sagt man, sie sähen „wissend“ aus. Die tiefe Verzweiflung in diesem Wort hallt nach im indoeuropäischen Begriff des Wissens und in der Sprachlogik, die er begründete.
Als Brecht das Ausrauben einer Bank mit dem Gründen einer Bank verglich und dieses für wirksamer hielt, war er der Sache näher als er wußte.
Bierzeltmusik ist die Vorstufe des Gejohles auf dem Fußballplatz. (Fundamentalismus: Gibt es nicht auch das Gottgejohle, das seit je das Pogrom, den Terror, ankündigt?)
Wichtiger als den Staat zu zwingen, sein faschistisches Gesicht zu zeigen, wäre es, der Kirche den Spiegel vorzuhalten, um dem Gottesgejohle, der Wurzel des Faschismus, die Möglichkeit zu geben, in der Selbsterkenntnis sich aufzulösen.
War nicht die raf ein Harakiri-Unternehmen von Anfang an, das Verliebtsein in die Opferrolle (mit durchaus religiösen Wurzeln)?
Die Parole des real existierenden Sozialismus: „Von der Sowjet-Union lernen heißt siegen lernen“, war die Parole des Staates, nicht die des Sozialismus. Sie bezeichnete genau den faschistischen Kern dieses Staates. Nicht mehr an der Spitze des Weltgeistes, sondern bei den Verlierern sind die Kräfte freizumachen, die das Ganze zu ändern vermöchten.
Von der raf lernen heißt, es anders machen, heißt verlieren lernen.
Walter Benjamins Satz, Gott sei der Ernährer der Menschen, der Staat ihr Unterernährer, wird wahr erst, wenn Gott aus den Verstrickungen des Staates sich befreit: Auch für Gott ist der Staat der Unterernährer.
Ein Christentum, das begreift, daß der Prozeß der Aufklärung sein Werk ist, das darin sich wiedererkennt, vermöchte den Prozeß der Aufklärung über sich selbst hinauszutreiben. Adornos Konzept einer vollständigen Säkularisation aller theologischen Gehalte ist als ein selber theologisches Konzept zu begreifen: Theologie im Angesicht Gottes ist die Auflösung der Religion durch Selbstaufklärung, ihre vollständige Säkularisierung. Die Säkularisierung aller theologischen Gehalte beginnt damit, daß die Theologie aus dem Bann des Weltbegriffs heraustritt, sich von ihm durch Reflexion des Weltbegriffs befreit.
Den kritischen Naturbegriff Kants durch die Kritik des Weltbegriffs (durch die Reflexion der Vorgeschichte) ergänzen und fundieren.
In Auseinandersetzungen mit meinem Vater habe ich gelernt, daß ich gegen ihn nur eine Chance hatte, wenn ich in seiner Sprache mit ihm sprach: in der Sprache der Religion. Hieraus habe ich meine ersten theologischen Erfahrungen und Einsichten gewonnen.
Zur Kritik der Astrologie, des Planetensystems: Zentral wäre die Einsicht, daß das Inertialsystem in der Sonne (im Sonnensystem) sich verkörpert. Die Sonne ist das „anschauende“ (und deshalb in sich selbst blendende) Licht, der Mond die Abstraktion vom Gegenblick. Die verschiedenen Gestalten des verdrängten Gegenblicks sind der König (Jupiter), der Feind (Mars), die Frau (Venus) und das Geld (Merkur). Hat die Stelle im Hohenlied, an der es heißt „schön wie der Mond, rein wie die Sonne, furchtbar wie Heerscharen“ (610, vgl. auch 64: „Schön bist du, meine Freundin, wie Thirza, lieblich wie Jerusalem, furchtbar wie Heerscharen“) etwas mit dieser Konstellation zu tun?
Thirza war nach der Reichsteilung zunächst Hauptstadt des Reiches Israel (Vorläufer von Samaria, das von Omri als neue Residenz erbaut wurde). Was haben Thirza und Jerusalem mit Mond und Sonne zu tun?
Adidas oder die Instrumentalisierung der transzendentalen Logik in der Reklame: Das Ende des Geschmacks, der ästhetischen Urteilsfähigkeit, das in dem Satz „Über Geschmack läßt sich nicht streiten“ sich ankündigte, wird durch die Markenbindung ratifiziert: Die Markenbindung enthebt von der Last des eigenen Urteils, macht über den Markennamen auch den Geschmack zu einem Teil der Bekenntnislogik, zu einer durchs Wertgesetz determinierten Anschauungssache. Die objektive Wertphilosophie Schelers gehörte zu den Wegbereitern der Markenbindung.


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