Das Christentum hat mit der Rezeption des Weltbegriffs den Rhythmus der Schöpfung umgekehrt: Es hat die Rettung an den Anfang und die Katastrophe ans Ende gesetzt. Aber hat nicht, der das Licht gebildet hat, zuvor die Finsternis erschaffen? Der Weltbegriff gründet in der Logik einer Sprache, in der das Vergangene das Vollendete ist, und in der das Vollendete nicht im Handeln, sondern dem Anschauen (dieser wissensbegründenden Einheit von Sehen und Gesehen-Haben) gegeben ist. Im Ursprung des Weltbegriffs liegt der Begriff des Wissens, die Logifizierung des Gesehenhabens. Das Anschauen (und in seiner Folge der Welt- wie auch der Naturbegriff) ist das institutionalisierte falsche Zeugnis. Deshalb gehört die Vorstellung des Zeitkontinuums, Produkt der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, zu den Voraussetzungen des Weltbegriffs. Ihren logischen Halt findet das Zeitkontinuum an der mathematischen Raumvorstellung. War nicht die Astrologie ein notwendiges Moment in der Vorgeschichte der Aufklärung in Europa, und zwar dadurch, daß sie (in den Beziehungen von Sonne und Mond, Jupiter und Mars, Venus und Merkur) den Schöpfungsrhythmus von Katastrophe und Rettung als reversibel vor Augen gestellt und damit seine Umkehrung vorbereitet hat? Nach jeder der neun ersten Plagen, heißt es, daß Gott das Herz des Pharao verstockte. Kann es sein, daß die Folge dieser Herzensverhärtungen verstanden werden muß als Ursprungsgeschichte des Herrendenkens? Sollte die Geschichte der ägyptischen Plagen unter diesem Gesichtspunkt nicht genauer untersucht werden, auch unter Berücksichtung der Umstände (welchen Gottesnamen zitiert Moses gegenüber Pharao, welche Plagen werden dem Pharao angekündigt, welche nicht, wie verhalten sich die Wahrsager und Zauberer des Pharao, wie unterscheiden sich die Plagen)? In welcher Beziehung stehen die ersten neun zur letzten Plage, zur Vernichtung aller Erstgeburt bei Mensch und Vieh in Ägypten, zum vorausgehenden Passah-Opfer und Passah-Mahl (Lamm, Fladen, Bitterkräuter) und zur Mitnahme des Schmucks und der Kleider der Ägypter? „Der Herr verstockte das Herz des Pharao“: Verweist der biblische Name Ägyptens (Mizrajim) auf die Ursprungsgeschichte der Trennung von Natur und Welt und auf den Grund des verstockten Herzens, und sind die Plagen die mit dieser Trennung verbundenen und durch sie (durch das dadurch erzeugte pathologisch gute Gewissen) zugleich unkenntlich gemachten Plagen: ist der Pharao der Prototyp derer, die den Herrn gekreuzigt haben und nicht wußten, was sie tun? Haben die zehn Plagen etwas mit den zehn Hörnern (des Drachens und des Tiers aus dem Meere) zu tun: Sind die Hörner (auch die der Opfertiere) nicht Verstockungen des Herzens (wie die zehn Verstockungen des Herzens des Pharao)? Was bedeutet es dann, wenn das Lamm, das geschlachtet wurde, und das würdig ist, die sieben Siegel zu lösen, sieben Hörner hat, während das Tier vom Lande zwei Hörner hat wie ein Lamm und redet wie ein Drache? Sind nicht die Umstände der zehn ägyptischen Plagen wichtiger als die Plagen selbst (der Nil, der zu Blut wird und aus dem die Frösche kommen; der Staub, der zu Mücken wird etc.; auf wen Moses gegen Pharao sich beruft: auf den Gott der Hebräer; auf JHWH, den Gott der Hebräer; „in der Frühe, wenn der Pharao zum Wasser geht“; der Hinweis auf das „Scheusal Ägyptens“). Gehört die Abfolge der pharaonischen Verstockungen zu den Konstituentien des Weltbegriffs? Spiegelt sich in der Verstockung des Pharao (von dem es vorher hieß, daß er Josef nicht mehr kannte) nicht die Josefsgeschichte (die als Karrieregeschichte, mit einer sentimentalen Wiedersehensgeschichte am Ende, sich präsentiert: auch eine Verstockungsgeschichte, hinter der die ökonomische Geschichte verschwindet)? Haben die zehn Sephirot etwas mit den zehn Hörnern und den zehn Plagen zu tun? War David der siebte (1 Chr 215) oder der achte Sohn des Isai (1 Sam 1610, 1712)? Die ungeheure Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft liegt darin, daß sie die Logik, ohne ihren Zwang zu leugnen, erstmals zum Gegenstand der Reflexion gemacht hat. Es ist der erste Versuch, die Blindheit der Logik, die uns beherrscht und lähmt, durch Reflexion aufzuheben. Die subjektiven Formen der Anschauung abstrahieren vom Blick der Andern, machen sich ihn aber (im gemeinsamen Blick aufs Objekt) als systemische, die Form der Anschauung konstituierende Kraft zu eigen. Sie vergesellschaften und verinnerlichen die Zeugenschaft des Andern, indem sie sie in die Form des Anschauung integrieren. Die Formen der Anschauung sind das Produkt der Verweltlichung des Schwurs. Und dieser Schwur ist falsch (falsches Zeugnis). Es gibt einen Schrecken, den wir nur in kleinen Dosen an uns herankommen lassen können. Aber wenn er uns erreicht hat, bleibt nur der Spruch des Jonas: In vierzig Tagen wird Ninive zerstört. In der Justiz sind synthetische Urteile apriori bewußt produzierte Irrtümer. Auch das hat etwas mit den Planeten zu tun, und mit dem Systemgrund der Astrologie. Zur Kritik des Zeitkontinuums: Nicht die geometrische Normale, sondern die Farbe bezeichnet die Tiefendimension der Fläche.
30.4.96
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie
Schreibe einen Kommentar