4.10.1994

Übersehen wir nicht zu leicht, daß die Steigerung der Lebenserwartungen bei uns mit dem Kindersterben in der Dritten Welt zusammenhängt? Und sehen wir nicht allzu leicht davon ab, daß unsere Exportüberschüsse die Kehrseite der wachsenden Verschuldung der armen Länder sind? Sind die Banken nicht in der Tat zu hocheffektiven Verschuldungsmaschinen geworden? Wehe denen, die in ihre Mühlen hineingeraten.
Die Liebe unterscheidet sich von der Barmherzigkeit durch ihre Folgenlosigkeit.
Der Satz, daß Heidegger den Geburtsfehler der Philosophie zu ihrem einzigen Inhalt gemacht hat, drückt einen allgemeinen Sachverhalt aus: Heute rücken fast alle gesellschaftlichen Prozesse und Entwicklungen in den Sog einer vergleichbaren Konstellation (von der Geschichte der Religionen über die der Banken, des Staats, des Privateigentums, der Sprache und der Schrift, bis hin zu den Naturwissenschaften). Das gilt für alle Emanationen der Herrschaftsgeschichte, als deren Innenseite die Geschichte der Verinnerlichung der Scham sich erweist.
Verweist nicht das Problem der Beziehung von Einzelnem und Allgemeinen, das am sprachlichen Verhältnis des Femininum zum Plural sich demonstrieren läßt, auf die Struktur und das Problem der Scham? Ist nicht die Scham (das Sich-durch-die-Augen-der-anderen-Sehen) die Grenze zwischen dem Im Angesicht und dem Hinter dem Rücken? Nacktheit ist die Überformung des Angesichts durch das Hinter dem Rücken (die Fotographie ist nackt). Hier gründet die Logik, die nach theologischer Tradition den Sündenfall mit dem Ursprung von Tod und Krankheit verbindet.
Aber ist die Scham nicht auch das Element, in dem der logische Zusammenhang von Sexualität und Politik gründet (als Urteilsmoral ist die Sexualmoral ein Bestandteil der autoritären Politik). Die Fähigkeit zur Reflexion der Scham ist die Bedingung der Möglichkeit von Sensibilität. Der Weltbegriff ist der Inbegriff der Schamlosigkeit, der Grund des verdinglichenden Denkens, das apriori schamlos ist. Schamlosigkeit ist der Grund des Begriffs der trägen Masse (die „aufgedeckte Blöße“), und Schamlosigkeit macht blind und lahm.
Als das Christentum sich aus dem Bereich der prophetischen Herrschaftskritik herausgeschlichen hat, hat es die Erfüllung des Wortes mit der Erfüllung der Schrift (die Frucht des Feigenbaums mit dem Feigenblatt) verwechselt.
Die Instrumentalisierung des Kreuzestodes durch die Opfertheologie (und in seiner Folge die Verinnerlichung der Scham) ist der Quellpunkt der Geschichte der modernen Aufklärung. Durch diese Konstellation unterscheidet sich die moderne Aufklärung von ihrem griechischen Ursprung.
Die Differenz zwischen 666 und 618 ist 48 (4 x 12). Das Tier aus dem Wasser ist eine Emanation des Drachen, mit dem es die Zahl der Hörner und der Köpfe gemeinsam hat, während das Tier vom Lande, das zwei Hörner hat wie ein Lamm, aber redet wie ein Drache, aus der Differenz zwischen der Erfüllung der Schrift und der des Wortes erwächst. Im Kontext der Logik der Schrift wird das homologein zum Bekenntnis (dem Emmanuel Levinas Schamlosigkeit attestiert), während es eigentlich die Erfüllung des Wortes (das „Bekenntnis des Namens“: die Nachfolge) meint.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie