4.11.1996

Zur Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins gehört das Bild des Fahrstuhls, der aus seiner Halterung sich losgerissen hat und in den freien Fall (in den Zustand gleichförmiger Beschleunigung) übergegangen ist. Die Bewegung dieses Fahrstuhls ist in seinem Innern, wenn der Blick nach draußen versperrt ist, nicht mehr wahrnehmbar. Sie ist allein daran zu erkennen, daß nur die reinen Trägheitsgesetze herrschen, während die Schwere aufgehoben zu sein scheint. Dieses Bild läßt sich ins Gesellschaftliche übersetzen, wenn man den Begriff der Schwere durch den der Schulderfahrung ersetzt und zugleich Ursache und Wirkung austauscht: Der Versuch, eine Gesellschaft zu konstruieren, in der es gelingt, die Schulderfahrung und ihre Reflexion (die mit der Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, logisch verknüpft ist) endgültig auszuschließen, wird auf ein Modell hinauslaufen, das dem des fallenden Fahrstuhls aufs Haar gleicht. Nur: Diese Welt, deren Modell eine Welt ist, die von den reinen Marktgesetzen beherrscht ist, wird eine vom Feindbilddenken verhexte Welt sein.
Ist nicht die Sprache, und in ihr die Kraft, in einen andern sich hineinzuversetzen, die nur in der Sprache gründet, der Beweis für die Idee der Auferstehung der Toten?
Die Bundesanwälte wie auch die Richter in den RAF-Prozessen werden sicher gut schlafen: es gelingt ihnen, auch noch die Alpträume, von denen sie eigentlich selbst heimgesucht werden müßten, auf andere zu verschieben.
Dieser Prozeß bringt ein bis oben mit Tränen angefülltes Faß zum Überlaufen.
Erkenntniskritische Einrede wider den „Rechtsstaat“: Schuld ist kein Gegenstand des Wissens.
Täterstrafrecht ist Schuldrecht und ein Feindrecht, während das Strafrecht selber seiner eigenen Logik nach eigentlich nur auf Handlungen, auf Taten sich beziehen läßt (der Schuldspruch gilt der Handlung, nicht der Person). Mit der Einbeziehung des Täters ins Strafrecht wird zwangsläufig zugleich die Gemeinheit aus dem Kreis der Straftatbestände ausgeschlossen. Der Begriff und die Gestalt des Angeklagten gehört zu einem Strafrecht, das eigentlich nur auf Handlungen sich bezieht. Im Täterrecht, das auch die Gesinnung zu einem strafrechlichen Tatbestandsmerkmal macht (das apriorische Objekt des Täterrechts ist der Mörder), wird der Angeklagte tendentiell zum Feind: zu einem Objekt, das durch seine Tat sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hat, und für das die moralische Hemmung, die der Manifestation von Gemeinheit im Wege steht, eigentlich nicht mehr gilt. Der Antisemitismus ist eine hypertrophe Form des Täterstrafrechts.
Eine der Interpretationen der letzten Satzes des Buchs Jona wäre, daß am Ende die Barmherzigkeit auch die Unbarmherzigen, die nicht wissen, daß sie es sind, ergreift.
Spenglers Bemerkung, daß die Musik in der modernen Welt die Stelle einnimmt, die in der alten Welt die Statue eingenommen hat, ließe vielleicht sich so erläutern, daß die Erstarrung, die damals (in der Statue wie im Namen des Heros) die Menschen ergriffen hat, heute die Welt ergreift, und die Musik das Aufbegehren dagegen ausdrückt. Gibt es nicht heute schon eine Musik, die nur noch gegen die Wände antrommelt?
Hat nicht der Begriff der Liebe, wie er dann (unter Ausschluß der Außenwelt und unter Verdrängung der Idee der Barmherzigkeit) in die christliche Tradition eingegangen ist, etwas von dem – mit der gleichzeitig entstandenen Bekenntnislogik verknüpften – Affekt, der die Menschen unter der Gewalt eines gemeinsamen Feindbildes aneinander bindet, ein Affekt, der heute beginnt, als Begleitaffekt der Komplizenschaft sich zu enthüllen? Steht nicht die Geschichte vom barmherzigen Samariter gegen genau diesen Affekt? Eine Liebe, die nur auf den Nächsten geht, und nicht auch auf die Ausgegrenzten und den Feind (auf die Armen und die Fremden), hat diesen Namen nicht verdient.
Die jüngste Version der kantischen Antinomien der reinen Vernunft ist die, die im Blick auf die Nazis sich zeigt: Das, was sie getan haben, darf nicht ungesühnt bleiben, aber reproduziert sich in dem Urteil und in der Strafe, die wir über sie verhängen, nicht der Faschismus selber (wie der Raum in der Vorstellung seiner unendlichen Ausdehnung)?
Das Bekenntnis des Namens Gottes (nicht das Bekenntnis zu Gott: der Tempel war nicht das Haus Gottes, sondern das Seines Namens) würde, wenn wir endlich begreifen, was das heißt, die subjektiven Formen der Anschauung sprengen und der Sprache die Kraft des Sehens zurückgeben. Das hat einmal in den Bildern der prophetischen Utopie sich ausgedrückt (in dem Begriff des Gotterkennens, des Geistes, der die Erde erfüllen wird, und in der Ersetzung des steinernen durch das fleischerne Herz).
Das letzte Opfer wäre das des transzendentalen Subjekts, aber war das nicht schon in den biblischen Tieropfern eigentlich gemeint? In einer Sprache, die der erkennenden Kraft des Namens mächtig (und deren innere Triebkraft die Barmherzigkeit) wäre, bedürfte es des transzendentalen Subjekts nicht mehr.
Der Übergang vom confiteri und von der confessio zum Bekennen und zum Bekenntnis ist der Übergang von der Ohnmachtserfahrung zur bewußten und intendierten Identifikation mit dieser Ohnmacht, die, anstatt im Symbolum den Funken der Hoffnung, im Bekenntnis nur noch ihre Rechtfertigung sucht. Hier ist die Erinnerung an die Umkehr getilgt. Der moderne Bekenntnisbegriff ist das Siegel auf den subjektiven Formen der Anschauung (das Siegel der Orthogonalität), das Gegenteil der Siegel, mit denen einer kabbalistischen Tradition zufolge die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind.
Das Feuerwerk von Ideen, die nicht mehr zum ruhigen Licht der Sonne, die den Tag erhellt, sich zusammenschließen wollen.
Hören und Sehen: Was haben der Hahn und der Morgenstern gemeinsam? Gibt es nicht im Sohar eine Stelle, wonach der Hahn die Dämonen der Nacht vertreibt?
Wenn die Gebete der Heiligen in der Apokalypse im Bilde des Rauchs, der zum Himmel aufsteigt – ein angenehmer Geruch für Gott -, symbolisiert werden, verweist das nicht auf die innerste Intention des Gebets, in Gott die Kräfte der Erinnerung wachzurufen, die an den Geruch sich anschließen? Das diffamierende antisemitische Bild der jüdischen Nase diente unter anderem auch dazu, das Eingedenken mit einem wirksamen Tabu zu belegen.
Wer nicht fähig ist, in einen anderen sich hineinzuversetzen, wird sich selbst nicht begreifen.
Aufmerksamkeit ist einmal das „natürliche Gebet der Seele“ genannt worden. Ist Aufmerksamkeit nicht die vielfach eingeübte, dann spontan gewordene Fähigkeit, in den Andern sich hineinzuversetzen? Zur Einübung dieser Fähigkeit gehört insbesondere der Widerstand gegen Geschwätz und Gerücht.
Auch die Erkenntnis der Dinge ist durch die Reflexion des Andern, durch die Fähigkeit, in andere sich hineinzuversetzen, vermittelt. Deshalb ist der der Wissenschaft zugrundeliegende Erkenntnisbegriff, der an der intentio recta sich orientiert, reflexionsbedürftig. Die subjektiven Formen der Anschauung sind das bloße Alibi für diese intentio recta, ein Intrument der Verhinderung der Reflexion.
Gott ist niemals Objekt, und die theologische Bedeutung des Gottesnamens liegt darin, daß er daran erinnert, daß Gotteserkenntnis des Mediums der Sprachreflexion bedarf.


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