4.12.1996

Muß man nach dem Hogefeld-Prozeß und nach der Rückkehr von Christoph Seidler vielleicht doch das Undenkbare denken? „Die von ihm gemachten Aussagen … bringen auch das Fahndungskonzept von Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft ins Wanken: Das Gesicht der RAF hat mit den Gesichtern auf den Fahndungsplakaten mutmaßlich nicht allzuviel zu tun“ (so in der FR von heute). Was wäre, wenn die nie aufgeklärten Aktionen der RAF gar nicht von ihr kamen, daß sie von den Gefangenen der RAF, von denen, die sich im Untergrund als „Mitglieder der RAF“ verstanden und von denen, die sie unterstützten, die es alle nicht besser wußten, nur dafür gehalten worden sind, weil sie an diesen Aktionen, am Bild der Kontinuität ihres „Kampfes“, eine Stütze ihres Selbstbewußtseins, ihrer „Identität“ zu finden glaubten? War das „Aussteiger-Programm“ vielleicht ein Programm, daß sicherstellen sollte, daß niemand mehr aus dem „Untergrund“ sich ans Licht traute, weil das möglicherweise das ganze Konstrukt hätte platzen lassen? Was ist gemeint, wenn, der FR zufolge, „in Sicherheitskreisen … der Fortbestand des ‚Aussteigerprogramms‘ damit begründet“ wird, daß man „auf diese Art Illegale ‚der Justiz zu(führe)’“?
Sind nicht die Bilder vom fahrenden Zug oder vom frei fallenden Fahrstuhl, an denen Einstein das Grundproblem seiner Relativitätstheorien demonstriert hat: das Problem der Beziehung des ruhenden zum bewegten Inertialsystem, Bilder der Beziehung des Naturbegriffs zum Weltbegriff, die Kant einmal durch die Beziehung des dynamischen zum mathematischen Ganzen der Erscheinungen zu definieren versucht hat?
Heute sind nicht mehr nur die Kapitalisten „Charaktermasken des Systems“, sondern ebenso die, die glauben, durch Feindschaft gegen das System, durch seine Verurteilung und Bekämpfung, dem Bann schon entronnen zu sein. Wenn es einen Fortschritt gibt, dann den, daß heute – in einem noch aufzuklärenden Zusammenhang mit der Verurteilungslogik – beide Seiten zu Marionetten des Systems geworden sind, daß sie beherrscht.


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