„Und Gott sprach: es sollen Lichter werden an der Feste des Himmels, Tag und Nacht zu scheiden, und sie sollen als Zeichen dienen und zur Bestimmung von Zeiten, Tagen und Jahren, und sie seinen Lichter an der Feste des Himmels, daß sie auf die Erde leuchten. …“ (Gen 114f) In letzter Instanz liegen jeder Zeitmessung natürliche Zeitmaße zugrunde: natürliche periodische Bewegungen wie der Tag, das Jahr, die Mondphasen, die Sternbewegungen. Natürliche Zeitmaße: Das heißt jedoch, daß auch die konventionellen „bürgerlichen“ Zeitmaße, zuerst die Woche, dann aber auch die Stunden, Minuten und Sekunden, die dann gegen die natürliche Zeitmessung sich verselbständigen, letztlich auf diese sich zurückführen lassen müssen. Wie hat sich daraus die Vorstellung eines Zeitkontinuums gebildet, das als subjektive Form der Anschauung gegen die Erscheinungen sich verselbständigt und allen Erscheinungen sich zugrundelegt (im Zusammenhang mit der Vorstellung eines ins Unendliche sich ausdehnenden Raumes und einer Materie, die „von außen“ – und welches „Außen“ gibt es außerhalb von Raum und Zeit – in den an sich leeren Raum und die an sich leere Zeit hereinkommen)?
„Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Gibt es heute überhaupt noch jemanden, der weiß, was er tut? Ist nicht bereits ein Zustand erreicht, in dem erstmals niemand mehr wissen will, was er tut, weil niemand mehr dieses Wissen (das Bewußtsein seiner Handlungen und ihrer Folgen) ertragen würde? Und ist nicht die Religion zu einer Institution geworden, die, anstatt Licht in die Welt zu bringen, nur noch über diesen Zustand hinwegtrösten soll, die die Erkenntnis dieses Zustands verhindert, indem sie nur noch Rechtfertigungsangebote liefert und so diese Verhinderung zugleich legitimiert? Aber hat das nicht seine christlichen Wurzeln (im Konzept der „Entsühnung der Welt“, der Opfertheologie und der dogmatisch verdinglichten Trinitätslehre)? Kann man eigentlich noch wissen, was man tut, nachdem Joh 129 vom Nachfolgegebot getrennt, die Gottesfurcht zur Herrenfurcht neutralisiert und Jesus vergöttlicht worden ist?
Im Kontext des Schuldverschubsystems (dessen Logik eins ist mit der des Weltbegriffs) weiß niemand mehr, was er tut. Die darin gründenden Rechtfertigungszwänge verstärken die Blindheit gegenüber dem eigenen Tun.
Bilden nicht die Trunkenheit, die aufgedeckte Blöße und die Unzucht ein transzendentallogisches Kontinuum?
Entsühnung der Welt: Die Wendung, die die christliche Tradition dem Motiv der Sündenvergebung gegeben hat, ist heute in die Automatik des Weltbegriffs mit eingegangen: Mit dem „Glauben“, der bisher die „Rechtfertigung“ des Sünders begründete, wurde auch das Christentum überflüssig, aber die Welt zugleich zu einem Feld der Barbarei (zum Greuel der Verwüstung). Vexierfrage: Wo ist der Glaube geblieben (Zusatzfrage: wodurch fühlen die Menschen sich heute gerechfertigt)? In dem gleichen Maße, in dem der Zustand der Welt der Katastrophe sich nähert, wächst die exkulpierende Kraft der Welt, mit der sie die Wurzeln der Katastrophe und damit die Katastrophe selbst unsichtbar macht. Mit der Welt, mag sie auch zum Teufel gehen, werden alle, die der Welt sich anpassen, auf die Anmaßung des eigenen Denkens (auf die Anmaßung, wissen zu wollen, was sie tun) verzichten, entsühnt. Gleicht der gegenwärtige Bewußtseinsstand nicht der Euphorie unmittelbar vor Eintritt des Todes? Deshalb gucken alle nur noch dumm.
Beschreibt Hegel im Begriff des Scheins und der Reflexion nicht das projektive Moment in der Erkenntnis (und gab es für ihn nach dem Begriff des Für-sich-Seins dazu überhaupt eine Alternative)?
4.7.1994
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