4.7.1995

Drachenfutter: Im ai-Journal 7/95 ein Leserbrief, in dem der Vorwurf mangelnder Objektivität (in dem Bericht über Gewalt in der Polizei) damit begründet wird, daß der Bericht zur „Deutschen-Demütigung“ beitrage. „Objektiv“ wäre demnach alles, was davon absieht, auf eigene Fehler hinzuweisen, wären der Weltspiegel, wären Berichte aus anderen Ländern, nicht hingegen Report, Panorama, Monitor, die „Nestbeschmutzung“ betreiben? Aber ist das nicht in der Tat der Zweck des Begriffs der Objektivität (und der des Objekts selber), die Projektionsfolie fürs Schuldverschubsystem zu liefern? Und hängt hierüber nicht der Begriff der Objektivität mit der Logik der Schrift zusammen; gründen nicht der Begriff der Objektivität und das Schuldverschubsystem (und mit ihnen die Sphäre und der Begriff des Ästhetischen) in der Logik der Schrift?
Die Sprache erkennt die Dinge im Namen, nicht im Begriff. Im Begriff wird sie lahm und blind (2 Sam 56: Da kommst du nicht hinein, denn die Lahmen und Blinden werden dich vertreiben). Ist nicht das Angesicht Gottes das Angesicht Seines Namens (dessen Heiligung Inhalt des zweiten Gebots ist)?
Gehört zum Sohn die Erfüllung der Schrift, zum Geist die des Wortes?
Schein und Sein: Hegel hat am Ende Schein und Sein doch noch verwechselt, während es darauf ankäme, sie auseinanderzuhalten, zu trennen. Aber das ist das Schwerste, weil inzwischen das Sein selber zum Schein geworden ist. Davon lebt die ganze Existenzphilosophie. Die Suche nach dem Echten und Eigentlichen tut so, als gäbe es dieses Sein noch, und als ließe sich dieses nachweisbar vom Schein ablösen und unterscheiden: als gäbe es eine Sphäre der Unschuld. Der Schein ist die Zwangs-Manifestation unter den Bedingungen des Schuldzusammenhangs: Vor den Richter gezerrt, wird das Sein zum Schein. Der Schein ist das Korrelat des richtenden Denkens. Was in der Bibel Götze und Eitelkeit heißt, das sind die ersten Manifestationen des Scheins; dagegen richtete sich das biblische Bilderverbot.
Das Schicksal ist – wie sein letzter Nachfahre, der Sachzwang – ebensosehr Realität wie auch Schein.
Ist das Feuer der sich auf sich selbst beziehende und kontrahierte Schein, und hat der brennende Dornbusch etwas mit dem Planetensystem (dem Dornbusch) und der Sonne (ihrem brennenden Zentrum) zu tun (ist das kopernikanische System die Totalität des Dornbuschs)?
Die Vorstellung des unendlichen Raumes ist das vollendete Vakuum, in dem die Sprache sich verflüchtigt und die Dinge ihren Geist aufgeben. Sie ist eine Folge der Erfindung der Schrift.
Durch die Erfindung der Schrift hat die Sprache, hat ihre Beziehung zur Objektivität im Kern sich verändert. Die Logik der Schrift ist der Grund des Weltbegriffs, mit der Erfindung der Schrift konstituiert sich die Geschichte (die Gegenständlichkeit des Vergangenen), trennt sich die Welt von der Vorwelt (die Welt ist selber der permanente Vollzug dieser Trennung, der actus purus der Erinnerungslosigkeit, ihr Vorläufer in der Theologie die Opfertheologie).
Wie hängt der mythische Eid mit dem Ursprung der Schrift, mit Tempel und Opfer, und mit der Ursprungsgeschichte des Begriffs der Objektivität zusammen?
Es gibt einen paradoxen Gottesbeweis, der einzige, der heute noch möglich (und somit notwendig) wäre: er resultiert aus der Dekonstruktion des ontologischen Gottesbeweises, aus der Dekonstruktion einer Religion, die nur noch als Religion für andere Bestand hat: aus der Transformation einer Theologie hinter dem Rücken Gottes in eine Theologie in Seinem Angesicht.
Gilt nicht der Satz, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen, nicht auch für die Opfertheologie? Das wäre jedenfalls eine Erklärung für die Blutspur, die das Christentum in seiner Geschichte hinterlassen hat.


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